Die Seele braucht Zeit

  • Dr. Angelica Ensel: „Nach dem Frühwochenbett geht es erst richtig los. Viele Probleme treten auf, wenn die Hebamme nicht mehr da ist.“

  • Das Wochenbett passt nicht in eine Gesellschaft, in der Effizienz und Effektivität hohe Werte sind und wo auch psychische Prozesse möglichst rationalisiert ablaufen sollen. Auch junge Mütter erwarten, dass kurz nach der Geburt alles eingespielt ist in ihrem neuen Leben. Übergangsphasen haben jedoch ihre eigene Dynamik. Auch wenn das Kind gewünscht ist und die familiären Bedingungen sehr gut sind, ist der Übergang zur Elternschaft eine Zeit der Instabilität – eine Entwicklung, die mit Krisen, Unsicherheit und Ängsten verbunden ist. Die Seele braucht Zeit. Und bei aller Freude ist insbesondere das spätere Wochenbett für die Mütter eine körperlich anstrengende Lebensphase, die Fürsorge und Geborgenheit braucht. Gerade daran mangelt es jedoch in Zeiten der Frühentlassung aus der Klinik und in der Lebensform als Kleinfamilie. Alles, was früher durch Großfamilie oder Nachbarschaft aufgefangen wurde, müssen Frauen und Paare heute aus eigener Kraft leisten.

    Natürlich können Hebammen diesen Mangel nicht allein auffangen; doch sie können Entscheidendes bewirken in der Weise, wie sie das Wochenbett begleiten und wie lange sie präsent sind. Das hängt vor allem von ihrem Verständnis dieser Aufgabe ab. Wenn wir das Wochenbett als einen körperlich-seelisch-geistigen Übergang verstehen, ergibt sich daraus, dass diese Phase eine Begleitung braucht, die weit über die ersten zehn Tage hinausgehen muss. Denn nach dem Frühwochenbett geht es erst richtig los. Viele Probleme treten auf, wenn die Hebamme nicht mehr da ist. Dabei könnten wir – oft mit minimalen Interventionen – entscheidende Weichen stellen, wenn wir noch zur Verfügung stünden. Das bedeutet nicht nur, dass Eltern wissen, dass sie uns anrufen können, sondern dass die Wochenbettbegleitung von Anfang an länger angelegt ist.

    Eine zentrale psychologische Aufgabe der Hebamme im Spätwochenbett ist die Bereitschaft, eine Ich-stärkende Funktion zu übernehmen. Wer kennt nicht die Situation, dass eine Mutter völlig verzweifelt anruft, weil ihr Baby den ganzen Tag noch nicht zur Ruhe gekommen ist. In diesem Augenblick zuhören, verstehen, gemeinsam schauen, wo die Ursache liegen könnte, und sie ermutigen, den Zustand anzunehmen, ist eine solche Intervention. Vielleicht wird die Mutter dann alle Pläne streichen und sich mit ihrem Kind ins Bett legen. Oft erleben wir, dass das Baby bereits in diesem Gespräch ruhig wird und die Mutter sagt: „Das ist das erste Mal heute." Indem die Hebamme die Rolle einer fürsorglich haltenden Begleiterin einnimmt, stärkt sie die Frau in ihrer mütterlichen Kompetenz – nachhaltig.