Ein Meilenstein
Die S3-Leitlinie »Die Vaginale Geburt am Termin« wird seit ihrem Erscheinen Anfang 2021 viel diskutiert und manchmal hart kritisiert. Beim letztjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin war ich erschrocken, wie unwissenschaftlich die Diskussion dort bei einem Panel zur Leitlinie geführt wurde. Wie kommt es, dass die Leitlinie als Reglementierung empfunden wird, obwohl ihr Empfehlungscharakter klar formuliert ist? Warum wird die Evidenz in Frage gestellt?
Mich selbst beschlich beim Durcharbeiten der 259 Seiten der S3-Leitlinie ein mehr und mehr »wattiges« Empfinden, statt eines gefestigten Standpunktes, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Die ohne Frage wertvollen Studien, auf denen die Leitlinie fußt, sollen den gesamten Geburtsverlauf abbilden und die bestmögliche Evidenz aus aller Welt in Empfehlungen gießen. Das Bild, das sich in mir formte, glich schließlich einem digitalen Foto mit geringer Auflösung, wo die Pixel als grobe Blöcke nebeneinanderstehen, teilweise mit ausgedehnten Leerstellen. Häufig wird in der Leitlinie weiterer Forschungsbedarf dokumentiert, manches, was ich für bedeutsam halte, entzieht sich vermutlich dem Zugriff von Studien, weil eine physiologische Geburt ein komplexes, störanfälliges Geschehen ist.
Mein Verständnis von Geburt gründet sich auf einem heute eher luxuriösen Setting: Den größten Teil meiner aktiven Zeit als Hebamme bin ich in der Hausgeburtshilfe im traditionellen ganzheitlichen Modell an der Seite der Frau und ihrer Familie über den gesamten Betreuungsbogen hinweg mitgegangen, mehrfach über Jahre mit intimen Einblicken in die Biografie der Frau. Mein Blick auf Mutter, Kind und Familie und mein Verständnis von Gesundheit, vom Geburtsvorgang und der Geburtshilfe hatten sich zu einem Bild ganz anderer Art geformt, als es mir hier begegnet.
Schon hierzulande unterscheiden sich die Bedingungen, die Atmosphäre, die Vorgehensweise in unterschiedlichen Kreißsälen, verschiedenen Arten von Geburtsorten und Menschen, die bei sehr unterschiedlichen Frauen im Einsatz sind. Kann man eine physiologische Geburt in Einzelaspekte fragmentieren, um zu allgemeingültigen Erkenntnissen zu kommen? Auch wenn die S3-Leitlinie bei mir eher philosophische, nachdenkliche Betrachtungen zur Forschung provoziert hat, sie ist definitiv ein Meilenstein und ein guter Anfang für die flächendeckende geburtshilfliche Versorgung mit Blick auf die Physiologie, weil sie formuliert, was für die Hebammengeburtshilfe schon immer selbstverständlich war: die frauzentrierte Betreuung. Forschung zur normalen Geburt ist notwendig – hochwertige Studien, die der Komplexität einer physiologischen, gesunden Geburt gerecht werden, umso mehr.
Die Leitlinie kommt als sachliche, wissenschaftlich fundierte Zusammenstellung von geburtshilflichen Empfehlungen naturgemäß unpersönlich daher. Wie viel Sachverstand, Herzblut, ehrenamtliches Engagement und Zeit über mehrere Jahre von allen Autor:innen erbracht wurde, kann man gar nicht hoch genug wertschätzen.