Faszination und Skepsis

  • Hella Wiese, Hebamme, Pflege­wissenschaftlerin und freie Redakteurin der DHZ: »Welche Kriterien der fetalen Herzfrequenz können uns das ­erzählen, was wir wissen wollen?«

  • Vor knapp 45 Jahren wurde ich als Zehnjährige kurz nach der Geburt meiner Schwester Anna unbeachtete Zeugin, wie meine Mutter einer Freundin von diesem Ereignis berichtete. Ich saß spielend abseits des Kaffeetisches und erfuhr von der Panik, die meine Mutter empfand, als Annas Herztöne zu Beginn der Geburt plötzlich nicht mehr zu hören waren. »Nur ein technischer Defekt«, habe die herbeigerufene Hebamme kommentiert, nachdem durch ihr Gezerre an den Kabeln des CTG-Geräts Annas Herztöne wieder hörbar waren. Die Panik, die meine Mutter erlebt hatte, war für mich damals spürbar. Ich behielt eine Skepsis zurück. Was wird da gemacht, das Frauen in Angst und Schrecken versetzen kann? Und was hat es mit dem Herzschlag eines Kindes unter der Geburt auf sich? Als ich gut zehn Jahre später während meiner Ausbildung zur Hebamme eine erste Einführung in die Welt der CTG-Interpretation bekam, war ich fasziniert. Großartig fand ich die Vorstellung, über die Interpretation der Herzfrequenz eine Information zum Befinden des ungeborenen Kindes erlangen zu können.
    Heute, nach gut 30 Jahren Hebammenleben und einer intensiven Auseinandersetzung mit dem CTG, schleicht sich Ernüchterung ein – die Skepsis kehrt zurück. Es ist bisher wissenschaftlich nicht befriedigend untersucht worden, ob die Kriterien, anhand derer ein CTG interpretiert wird, die richtigen sind, um unsere Fragen nach dem Befinden des ungeborenen Kindes und der Kompensationsfähigkeit seines kardiovaskulären Systems ausreichend und sicher beantworten zu können. Zu Zeiten Konrad Hammachers, des »Vaters des CTG«, war das Denken in einem evidenzbasierten Ansatz nicht üblich. Was heute die Forschung rund um das CTG erschwert, sind in erster Linie methodische und ethische Probleme: Welche Fragestellung braucht welche Fallzahl? Welche Modelle oder Experimente an Tieren können uns auf die fetale Situation übertragbare Informationen liefern? Wie können sich Hebammen dazu positionieren?
    Unumgänglich für den sicheren Gebrauch des CTG-Gerätes sind zunächst Kenntnisse über dessen Funktionsweise. Wissen um die Vielfalt elektronischer Überwachungsmöglichkeiten fetaler Herzfrequenz und deren Vor- und Nachteile ermöglicht Teilhabe am interdisziplinären Diskurs inner- und außerhalb des Kreißsaals. Die Interpretation eines CTG setzt ein Verständnis der fetalen Physiologie voraus, um handlungsleitende Rückschlüsse auf das Befinden des Ungeborenen ziehen zu können. Haben wir die richtigen Erklärungsmodelle beispielsweise für die Ätiologie von Dezelerationen?
    Hebammen können mit ihrer Expertise aus der Praxis den Diskurs bereichern. Die Akademisierung des Berufsstandes ermöglicht die Teilhabe an notwendiger Grundlagenforschung beispielsweise zur Frage, welche Kriterien der fetalen Herzfrequenz uns das erzählen können, was wir wissen wollen. Es wird den Frauen und den ungeborenen Kindern zugutekommen, wenn Hebammen den Diskurs und die Forschung bereichern.