Hebammen sind Hüterinnen

  • Ist Gewalt eine Grundkonstante, die unabdingbar zum Menschsein gehört? Diese Frage, die hier nicht beantwortet werden soll, regt zum Nachdenken an über das Wesen von Gewalt. Unter welchen Umständen kommt es zu gewaltvollen Übergriffen? Welche Rollen spielen die Beteiligten?

    Je tiefer sich das Denken damit beschäftigt, desto weniger ist eindeutige Zuordnung zu den Rollen von TäterInnen und Opfern möglich, klare Konturen verschwimmen. Vielmehr werden Kreisläufe und generationsübergreifende Muster deutlich. Niemand wird als Gewalttäter oder Gewalttäterin geboren. Es sind viele Faktoren, die dazu führen, dass Empathie und Mitgefühl nicht mehr das zwischenmenschliche Miteinander leiten, insbesondere eigene Erfahrungen von Grenzverletzungen, Grenzüberschreitungen und Beschämungen.

    Schwangerschaft und Geburt überschreiten von Natur aus Grenzen. Sie gehen mit einer erhöhten Sensibilität und Verletzbarkeit und einer größeren Gefahr für Übergriffe einher. Die werdende Mutter und das Leben, das sie trägt, sind schutzbedürftig – das ist die Aufgabe der sie umgebenden Gemeinschaft. Dieser besondere Schutz kann als eine anthropologische Grundkonstante gelten, die kulturübergreifend zu beobachten ist.

    Hebammen begleiten grenzüberschreitende Prozesse. Daraus leitet sich ihre vorrangige ethische Aufgabe ab, Hüterinnen der Grenze und Beschützerinnen der Frauen zu sein. Gleichzeitig haben viele von ihnen selbst als Frauen oder Mütter, vor allem aber auch in ihrer eigenen beruflichen Sozialisation in der Geburtshilfe Grenzüberschreitungen erlebt – als scheinbar selbstverständliche geburtshilfliche Routinen, als Zeuginnen von Traumatisierungen der ihnen anvertrauten Frauen und als ihnen selbst zugefügte demütigende und schmerzvolle Erfahrungen.

    Den Kreislauf durchbrechen, heißt darüber sprechen, das Thema enttabuisieren. Das Geschehene in Worte fassen und es als Tatsache anerkennen. Aus Ohnmacht kann Empowerment werden. Das zeigt die große Resonanz der aktuellen »Me-too«-Kampagne zu gewalttätigen Übergriffen an Frauen. Kommunikation ist die transformierende Kraft.

    Eine traumasensible Geburtshilfe zu etablieren, heißt deshalb vor allem, die Kommunikationskulturen in den geburtshilflichen Abteilungen zu verändern. Wenn sich alle Beteiligten gemeinsame mit den unterschiedlichen Formen von Gewalt und den eigenen Gewalterfahrungen im geschützten Raum auseinandersetzen, können sie die generationsübergreifenden Muster von Gewalt in der Geburtshilfe auflösen. Beginnen wir in unserer eigenen Berufsgruppe!