Hilfe verweigert

  • Katja Baumgarten, Hebamme, Filmemacherin und Redakteurin: »Wie kann es sein, dass ein Paar ohne ausreichende Sprachkenntnisse auf das Wohlwollen eines medizinischen Laien angewiesen ist?«

  • Im vergangenen Sommer war in den Berliner Tageszeitungen von einer Begebenheit zu lesen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt: Ein junges jesidisches Paar, das aus Armenien geflüchtet ist und in der Erstaufnahmestelle in Berlin-Lichtenberg lebt, erwartet sein erstes Kind. Nachts um vier Uhr bittet der 25 Jahre alte Vater die zwei Mitarbeiter des Wachdienstes, einen Rettungswagen zu rufen, seine hochschwangere Frau habe starke Schmerzen und Blutungen. Einer der Wachleute macht sich im Zimmer des Paares ein Bild von der Lage: Die 23-jährige Mutter, im neunten Monat schwanger, liegt mit Bauchschmerzen im Bett. Dennoch weigern sich die Security-Leute, die Notrufnummer zu wählen: Es sei Sonntagnacht, da könne man die Feuerwehr nicht rufen. Auch ein Taxi holen sie nicht, da das Krankenhaus angeblich nur ein paar hundert Meter entfernt sei.

    Von den Wachleuten nur mit Straßenkarte und Adresse ausgerüstet und der Empfehlung, selbst zum Krankenhaus zu gehen, macht sich das Paar zu Fuß und mit der Straßenbahn auf den Weg. Ihr Anwalt berichtet später, die Frau habe nur auf ihren Mann gestützt gehen können, für die drei Kilometer lange Strecke hätten sie mehr als anderthalb Stunden gebraucht. Weil sie erst vor zwei Monaten angekommen waren, hätten sie nicht ausreichend Deutsch gesprochen, um selbst den Rettungsdienst rufen zu können.

    In der Klinik angekommen, war ihr kleiner Sohn bereits tot. »Akute Plazenta­insuffizienz«, stellen die ÄrztInnen fest: Das Kind habe möglicherweise überleben können, wenn die junge Frau rechtzeitig Hilfe erhalten hätte. Um vier Uhr habe das Kind im Bauch seiner Mutter noch gestrampelt, hieß es.

    Man mag sich die verzweifelte Situation für das Paar in dieser Nacht kaum vorstellen. Wie muss jemand gestrickt sein, um einer Schwangeren eine leicht zu gewährende Hilfe in so einem Moment zu verweigern? Auch wenn gegen die beiden Mitarbeiter Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung und fahrlässiger Tötung gestellt wurde: Der Albtraum wird davon nicht ungeschehen zu machen sein.

    Der Fall zeigt auf bestürzende Weise, dass geburtshilfliche Versorgung und Hebammenhilfe mit aufsuchender Betreuung und engem Kontakt zur Flüchtlingsunterkunft noch immer nicht flächendeckend zu funktionieren scheinen – auch vier Jahre nach der unübersichtlichen Lage, als so viele Geflüchtete nach Europa kamen. Wie kann es sein, dass ein Paar ohne ausreichende Sprachkenntnisse auf das Wohlwollen eines medizinischen Laien angewiesen und solcher Ohnmacht ausgeliefert ist?

    Für die »angesagte« Metropole Berlin mit ihrem weltoffenen internationalen Flair ist das ein Armutszeugnis. In einer Nation, die in der Geschichte vielfältige Fluchtbewegungen verursacht hat und in der diese traumatischen Erfahrungen auch in viele Familiengeschichten eingeschrieben sind, fühlte ich mich von dieser Tragödie zutiefst beschämt.