HIV/AIDS aus der Tabuzone

  • Dr. Angelica Ensel: „Hebammen können den HIV-positiven Schwangeren das Gefühl von Normalität und Dazugehören vermitteln.“

  • Alle 15 Sekunden stirbt jemand auf der Welt an den Folgen von HIV/AIDS, aber viel öfter noch wird ein mit HIV lebender Mensch verurteilt, diskriminiert und aus der Gemeinschaft ausgegrenzt." Diese Worte aus einem Gottesdienst zum Weltaidstag verweisen auf die zentrale Rolle der Gesellschaft. Auf ihre Macht, ein Leid entweder ins Unerträgliche zu steigern oder aber es durch Solidarität, Integration und Fürsorge entscheidend zu lindern.

    Wie kaum eine andere Krankheit ist HIV/AIDS mit Schuldzuweisung, Stigmatisierung und Diskriminierung belegt. Das ist kein Zufall, denn sie berührt in besonderer Weise große Tabuthemen wie Sexualität, Drogenkonsum, Krankheit und Tod. HIV/AIDS ist eine Metapher für einen moralisch schlechten Lebenswandel, für „schmutzige Sexualität", für Sucht, Krankheit, Sterben. Durch Schuldzuweisung und Ausgrenzung können die „Gesunden" ihre eigenen Ängste beruhigen und sich distanzieren – es betrifft ja „die anderen".

    Die Ansteckung mit dem Virus hat vor allem mit Armut, mangelnder Bildung und nicht zur Verfügung stehenden sozialen Ressourcen zu tun oder mit einer schicksalhaften Verkettung unglücklicher Umstände. Wie die Erkrankung verlaufen wird und ob ein gutes Leben mit ihr möglich ist, hängt davon ab, in welchem Teil der Welt der betroffene Mensch lebt. Aids ist eine Krankheit der Armen, besonders in den afrikanischen Ländern. Und es ist eine Krankheit von Frauen. Wenn HIV-kranke Frauen schwanger werden, wird die spezifisch weibliche Stärke – das Weitergeben von Leben – zur Tragödie. Steht keine antiretrovirale Therapie zur Verfügung, wird das HI-Virus in 35 Prozent der Fälle während der Schwangerschaft, Geburt oder beim Stillen auf die Kinder übertragen. Bei entsprechender Behandlung sinkt das Risiko unter fünf Prozent. Im Zeitalter der Globalisierung ist es die Verantwortung der reichen Länder, dafür zu sorgen, dass Menschen – und besonders Mütter – überall auf der Welt Zugang zur HIV-Prävention und Behandlung haben.

    Je nachdem, in welchem Teil der Erde sie leben, gestalten sich auch Verantwortung und Aufgaben der Hebammen im Kontext von HIV/AIDS unterschiedlich. In den afrikanischen Ländern spielen sie eine zentrale Rolle als Multiplikatorinnen für die Prävention und Gesundheitsversorgung von Müttern und Kindern. Bei uns sind Hebammen diejenigen, die den betroffenen Frauen das Gefühl von Normalität und Dazugehören vermitteln können. Sie können ihnen die „Erlaubnis" geben, sich wie alle anderen werdenden Mütter über ihre Schwangerschaft und auf ihre Kinder zu freuen. Sie mit Empathie zu begleiten, in ihrem Selbstvertrauen zu stärken und sensibel mit den spezifischen Fragen und Lebensumständen der Frauen und ihren Familien umzugehen, kann eine erfüllende Aufgabe sein. Auf diese Weise eine „heilende Gemeinschaft" zu bilden, ist nicht nur die Verantwortung der Kirchen, sondern auch unserer Berufsgruppe – überall auf der Welt.