Nabelschau

  • Um 1910 erschien in Oranienburg ein Buch von Sanitätsrat Fischer unter dem Titel „Für junge Mütter. Belehrungen über Schwangerschaft, Geburt und Kindespflege". Fischer riet Müttern darin, selbst darauf zu achten, dass die Hebammen, entgegen ihrer Gewohnheit, Neugeborene erst dann abnabeln sollten, wenn sie sich überzeugt hätten, dass die Nabelschnur nicht mehr pulsiert und der Mutterkuchen geboren ist. Fischer meinte, dass die Pulsation stoppen würde, wenn die Lunge bei der Entfaltung genug Blut aus der Nabelschnur aufgenommen hat. Viele Hebammen würden zu früh abnabeln und die Kinder wären dann von Blausucht gefährdet, weil ihnen die zusätzlichen 100 Gramm Blut fehlten. Dauerhaft durchgesetzt hat sich dieser Hinweis nicht. Ein gutes Jahrhundert verging. 2012 wurde immerhin das verzögerte Abnabeln in die medizinischen Leitlinien und in die WHO-Empfehlungen aufgenommen, inklusive des Hinweises, das Kind nach der Geburt unter Niveau der noch nicht geborenen Plazenta zu lagern.

    Inzwischen ist nicht nur die Lagerungsregel, sondern auch der Zeitpunkt des Abnabelns erneut umstritten. Statt der Blausucht bei zu frühem Abnabeln wird nun die Gelbsucht bei zu spätem Abnabeln thematisiert. Die Empfehlungen sollen jetzt entsprechend überarbeitet werden, wie Ekkehard Schleußner aus dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) in dieser Ausgabe im Interview berichtet. Die Hebamme Beate Ramsayer fasst in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer argentinischen Multicenterstudie zusammen, die das späte Abnabeln und die Lagerungsregel ebenso relativiert. Sven Hildebrandt, Präsident der Dresdner Akademie für individuelle Geburtsbegleitung, erläutert seine eigene Sicht: Der höhere Hämoglobinspiegel stabilisiere nicht nur kurzfristig das Neugeborene, sondern scheine auch dessen kognitive Entwicklung zu unterstützen.

    Eine genaue Betrachtung der Nabelschnur, die Hildebrandt gar als eigenes Organ definiert, lohnt sich. Wie setzt sich dieses gepolsterte und in sich gedrehte Gefäßsystem zusammen? Warum ist es manchmal extrem lang, manchmal sehr dünn? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Ernährungszustand des Kindes und seinen Bewegungen in Bezug auf die Beschaffenheit der Nabelschnur? Wie geht man mit einer Nabelschnurumschlingung um? Wie sollen Frauen über den Nabelschnurvorfall beraten werden? So befasst sich ein eigener Beitrag mit der Anatomie und Pathologie der Nabelschnur. Ein anderer erläutert Erkrankungen des Nabels, der bei jedem Menschen die erste Narbe des Lebens bedeutet. Und schließlich geht es um die diagnostischen Biomarker, die sich aus der Nabelschnur gewinnen lassen. Vielleicht lässt sich dann zukünftig die Gefahr einer möglichen Blau- und Gelbsucht noch genauer einschätzen.