Rasterfahndung nach dem Risiko

  • Dr. Angelica Ensel: „Eltern haben das Recht auf eine informierte Entscheidung – dazu gehört auch das Recht auf Nichtwissen“.

  • Screening – die Rasterfahndung nach medizinischen Risikofaktoren – ist ein anspruchsvolles Thema, denn es beinhaltet medizinische, ethische und rechtliche Konfliktfelder. Das wird bereits beim Umgang mit dem Begriff deutlich. Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation handelt es sich um ein Screening, wenn die untersuchte Erkrankung ein wesentliches Gesundheitsproblem betrifft und die nötigen diagnostischen und therapeutischen Ressourcen zur Verfügung stehen. Im medizinischen Alltag ist der Umgang mit dem Begriff weniger eindeutig. Hier finden Vermischungen statt und Screening wird mit Diagnostik oder sogar mit Vorsorge gleichgesetzt. So gibt es bei Erkrankungen, auf die sich die Pränatale Diagnostik richtet, in den allermeisten Fällen keine Therapie – und damit handelt es sich im Sinne der WHO nicht um Screenings. Dass viele Untersuchungen als IGeL-Leistungen von den Eltern selbst bezahlt werden müssen, also auch wirtschaftliche Inte­ressen hinzukommen, macht die Problematik noch komplexer.

    Neben den wissenschaftlich fundierten Screenings für Neugeborene gibt es heute einen Markt von zweifelhaften Anbietern genetischer Tests. Hebammen als Multiplikatorinnen werden hier direkt angesprochen. Screenings können lebensrettend sein, wenn Krankheiten rechtzeitig erkannt und therapiert werden können. Das betrifft viele Untersuchungen innerhalb des Neugeborenenscreenings. Die Suche nach Risikofaktoren durch voraussagende genetische Diagnostik kann aber auch äußerst belastende Ergebnisse bringen und neue Risiken auslösen. So etwa, wenn die Diagnose dazu führt, dass nicht nur die genetische Disposition der Eltern, sondern auch vieler anderer Verwandte des Kindes bestimmt wird. Dann kann belastendes Wissen die Unbefangenheit zerstören und Lebensentwürfe verändern. Der Umgang mit Screenings stellt hohe Ansprüche an unsere Kommunikationsfähigkeit. Als Informierende und Beratende sind Hebammen mit maßgeblichen Fragen konfrontiert: Wann ist ein Test sinnvoll? Welche Erwartungen sind daran geknüpft, welche Kosten sind damit verbunden und was nützt das Wissen? Eltern haben das Recht auf eine informierte Entscheidung. Dazu gehört auch das Recht auf Nichtwissen. In der Schwangerenvorsorge ist eine umfassende Anamnese die Basis einer individuellen Entscheidung. Hier bestmöglichste Arbeit zu leisten, gehört zu den Aufgaben von Hebammen.

    Wenn es um die Einschätzung der zur Verfügung stehenden Untersuchungsmöglichkeiten geht, sind aktuelles Wissen und eine kritische Haltung gefragt. Dazu gehört auch der Blick auf globale Wirtschafts- und Forschungsinteressen. Die Fülle von Blut- und Gewebeproben, die durch die Untersuchungen erzeugt werden, wecken Begehrlichkeiten der Forschenden und der Pharmakonzerne. Hier wird deutlich, wie dringend wir ein Gendiagnostikgesetz benötigen, das wissenschaftliche Forschung ebenso wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung berücksichtigt.