Rechtsweg und Fehlerkultur

  • Katja Baumgarten, Hebamme, Filmemacherin und Journalistin: »Wie könnte eine Fehlerkultur aussehen, wo nicht Anklage, Schuld und der damit verbundene Selbstschutz im Mittelpunkt stehen?«

  • Das juristische Risiko für Hebammen hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen. Strafverfahren bei Gericht scheinen für Hebammen strenger zu werden. Im vergangenen Herbst wurde am Landgericht Verden wieder eine Hebamme wegen Totschlags mit bedingtem Vorsatz durch Unterlassen zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Liest man das Gerichtsurteil oder Zeitungsartikel zum Prozess, entstehen innere Bilder einer dramatischen Hausgeburtssituation über mehrere Tage. Ein kleines Mädchen war in der Klinik tot zur Welt gekommen, nachdem seine Mutter verlegt worden war. Viel zu spät, wie das Gericht urteilte.

    Aus der Distanz fragt man sich: Wie entsteht eine Dynamik, in der erfahrene Geburtshelfer:innen auf Hinweise und Warnzeichen nicht reagieren? In der sie von (vermeintlicher) Sicherheit ausgehen und Gebärende weiterhin ermutigen, obwohl dies retrospektiv gesehen nicht (mehr) angebracht war? Liegt es, wie im Fall dieser Hausgeburt, tatsächlich an der »Ideologie« der Geburtshelferin, die die meiste Zeit ihrer Berufstätigkeit in der Klinik gearbeitet hatte, eine Geburt unter allen Umständen zu Hause zu beenden? Diese Erklärung hatte das Gericht im Urteil für die Begründung des bedingten Vorsatzes angeführt, so wie auch beim Totschlagsurteil gegen eine Ärztin und Hebamme in Dortmund 2014 argumentiert worden war.

    Von einem anderen Fall – diesmal aus einer Geburtsklinik – berichtet der Strafverteidiger Armin Octavian Hirschmüller im Interview: Es ging um ein Gerichtsverfahren wegen fahrlässiger Tötung. Ein zu lange abwartendes Verhalten war auch hier verhängnisvoll für das Kind gewesen (siehe Seite 30). Die Hebamme sei über den Verlauf der Geburt beunruhigt gewesen, die verantwortlichen Ärzt:innen hätten weiter zugewartet. Der Gutachter habe der jungen Hebamme bei Gericht vorgeworfen, sie hätte gemäß ihrer Remonstrationspflicht die Verantwortung gehabt, eine Notsectio auszurufen, selbst wenn die Ärzt:innen eine andere Einschätzung gehabt hätten. Die Kollegin hatte als Berufsanfängerin erst ein halbes Jahr im Kreißsaal gearbeitet. Das Verfahren gegen sie sei zwar von der Staatsanwaltschaft noch während des Prozesses eingestellt worden, dennoch sei das Gericht offen für die Auffassung des Gutachters gewesen.

    Das Konzept von Ermittlung, Anklage und Bestrafung ist der Weg des Rechtsstaats, menschliche Verfehlungen aufzuklären und zu ahnden. Für die Geburtshilfe wäre es wertvoll, auch auf etwas andere Weise möglichst sorgfältig auf jedes dieser tragischen Ereignisse zu schauen. Wie könnte eine Fehlerkultur aussehen, wo nicht Anklage, Schuld und damit verbunden Selbstschutz und Abwehr im Mittelpunkt stehen, sondern betroffene Fachkräfte sich wirklich offen einer Betrachtung stellen, bei der die tragische Dynamik aus unterschiedlichen Perspektiven vertieft analysiert wird? Ansätze davon werden bereits in anonymisierten Fehlerberichtsystemen von Kliniken und Ärzt:innen oder im Hebammenprojekt »Fälle für alle« praktiziert. In ihrer Weiterentwicklung liegt eine große Chance.