Schnee von gestern?

  • Katja Baumgarten: „Wann wird sich die alte Einsicht, dass ,die Rückenlage die naturwidrigste und unphysiologischste‘ ist, wieder als Selbstverständlichkeit herumsprechen?“

  • Bei den Vorbereitungen für unser Titelthema „Aufrecht gebären" kamen mir gelegentlich Zweifel: Schnee von gestern? Es erinnert mich an die Anfänge meiner Berufstätigkeit: an ein Suchen mit Leidenschaft, an Aufbrüche und Gegenbewegungen. Als ich 1980 – einige Monate vor meinem Hebammenexamen – die ersten aufrechten Geburten von Frauen in ihrer vollen ungebrochenen Potenz miterlebte, standen mir die Tränen in den Augen: Was für ein Kontrast zu den Rückenlagegeburten, denen ich in der Hebammenschule zur Seite stand! Auch wenn ich dort in der Eröffnungsperiode den Gebärenden das Sitzen im Bett noch „erlauben" durfte – sobald ihr Muttermund vollständig war, begann ein Ritual der Unruhe: Der Raum füllte sich mit Personal und lauten Geräuschen – und wie zum Zeichen, dass „es ernst wird", hatte ich das Rückenteil des Kreißbettes flach zu legen. Mein beharrliches „Warum?" wurde von den ÄrztInnen und Hebammen ratlos beantwortet: „Das geht nicht anders!"

    Dass es eigentlich anders ging, wusste ich aus Büchern. Die Gedanken der damaligen „geburtshilflichen Avantgarde" gegen eine Technisierung der Geburtshilfe stärkten mein Durchhaltevermögen in diesem Klima unbedachter Unvernunft. Als das zweite Buch von Michel Odent „Die Geburt des Menschen" erschien, fragte ich beim Autor an, ob ich nicht in seiner Klinik in Pithiviers hospitieren könne. Die herzliche Antwort kam postwendend – zwar sei gerade aufgrund des „Andrangs" von Interessierten mein Besuch dort nicht gut möglich, aber in einer Klinik in Süddeutschland würden die Erkenntnisse zur vertikalen, „frauengemäßen" Geburt neuerdings umgesetzt. Die Erfahrungen an jenem Wochenende in den Geburtszimmern des Kreiskrankenhauses Dachau rührten nicht nur mein Herz, sondern gaben meinem Berufsweg „Zündstoff" und eine entschiedene Richtung. Ich trat dort wenig später meine erste Stelle an.

    War es Zufall oder Zeichen der Zeit, dass im selben Monat meiner „Initiation" in Sachen „aufrechte Geburt" ein Artikel von Liselotte Kuntner in der DHZ erschien? Sie stellte das vertikale Gebären in traditionellen Kulturen vor sowie seine mögliche Anwendung in der modernen Geburtshilfe. Auch den englischen Arzt G. J. Engelmann zitierte sie aus seinem inzwischen 125 Jahre alten Buch über seine Forschungsreisen: „Trotz Einflusses der Zivilisation vermieden die Gebärenden der unwissenden aber gut beobachtenden Naturvölker die ,modische‘ Rückenlage und bestätigen damit, dass die Rückenlage die Geburt aufhält und der sicheren und schnellen Entbindung zuwider läuft. Die Rückenlage ist die naturwidrigste unphysiologischste ..." Wann wird sich diese alte Einsicht wieder als Selbstverständlichkeit herumgesprochen haben? Bis dahin erst einmal gute Wünsche für ein „Fest der Geburt" mit viel frischem Schnee!