Stillen oder nicht stillen

Auf der Seite der Frau!

Die Liste der Fakten, die für das Stillen sprechen, ist lang – länger als die der Argumente für die Flaschennahrung. Stillförderung und Aufklärung sind wichtige Säulen der gesundheitlichen Prävention. Und doch müssen am Ende die Frauen entscheiden. Gesundheitsförderung ist, wenn die Hebamme sie genau dabei unterstützt. Alessandra M. Scheede
  • Alessandra M. Scheede: »Wenn wir eine Frau zum Erstgespräch treffen, dann wird es sie unterstützen, wenn wir nicht davon ausgehen, dass sie stillen möchte.«

Es ist leise, nur das genüssliche Schmatzen des Kindes ist zu hören, zwischendrin ein kleines, mehrfaches Seufzen des Babys. Eine Nuckelpause. Das Kind öffnet die Augen und schaut seine Mutter an, eng an ihren Oberkörper geschmiegt. Es rekelt sich und sucht sich wieder die Brustwarze. Es trinkt weiter, die Pausen kommen nun immer öfter – es muss sich immer wieder daran erinnern, dass es eigentlich gerade trinkt. Doch die Augen werden schwerer und schwerer, bis es schließlich friedlich und sicher in den Armen der Mutter eingeschlafen ist. Genährt mit ihrer Milch, die alle lebenswichtigen Stoffe enthält, maßgeschneidert auf genau dieses eine Kind. Eine schier unfassbare Symbiose. Toll, die Natur!

Uns Hebammen geht das Herz auf, wenn wir eine solche Situation beobachten, wenn das Stillen endlich klappt, Mutter und Kind entspannt und glücklich sind. Unsere Arbeit ist getan und wieder haben wir so viel dazu beigetragen, die Mutter-Kind-Beziehung und das Bonding zu fördern. Wir sorgen dafür, dass das Kind in den ersten Monaten die wertvolle Muttermilch aufnimmt, Antikörper bekommt, seine späteren Krankheitsrisiken vermindert und bestmöglich gedeiht. Zurecht ist das ein befriedigender Moment und zurecht geben Hebammen alles dafür, diese Situation mit den ihnen anvertrauten Eltern-Kind-Paaren zu erreichen. Denn die Studienlage ist klar: Stillen ist auf vielen Ebenen gesundheitsfördernd und die Zusammensetzung der Muttermilch kaum zu vergleichen mit anmischbarer Babynahrung!

Doch was, wenn das Stillen nicht klappt? Was, wenn die Mutter sich aufreibt und aufreibt und das Stillen einfach nur Stress bedeutet? Was, wenn die Mutter nicht stillen möchte, weil sie ihren Körper ganz einfach für sich haben oder gar, weil sie Alkohol trinken und zeitlich weniger an ihr Kind gebunden sein möchte? Wenn sie früh wieder arbeiten gehen will oder wenn sie gar keinen fassbaren Grund hat und einfach nur nicht stillen möchte?

 

Freiheit braucht Toleranz

 

Im Jahr 2022 ist es nicht innovativ zu sagen: »My body, my choice« – jede Frau, die nicht stillen möchte, muss das nicht betonen. Zahlreiche Stimmen und Schriften haben dies bereits bekräftigt. Doch ist dem wirklich so? Sind die Frauen wirklich frei? Und vor allem: Sind wir Hebammen da wirklich so tolerant?

Es ist unsere Aufgabe, für die Gesundheit der Familien zu sorgen, diese im Blick zu haben und, ja, auch Stillförderung ist unsere Aufgabe. Doch Frauen sind gesellschaftlich stigmatisiert. Und das nicht nur von der »bösen Außenwelt«, sondern auch vom Gesundheitssystem, das sie betreut. Stillförderung ist nicht gleich Stillförderung. Genauso ergebnisoffen, wie wir an die Botschaft »Ich bin schwanger« herangehen sollten, sollten wir auch an das Thema Stillen herangehen. Denn nur, weil eine Frau sich entscheidet, sich auf eine Schwangerschaft einzulassen und ein Kind auf die Welt zu bringen, heißt noch lange nicht, dass sie sich auch entscheidet, mit diesem dann so umzugehen, wie die Gesellschaft es als am besten und am gesündesten erachtet.

 

Die Welt, in der wir leben

 

Eine kritische Unterstützung der Frauen ist vielschichtig. Genauso wichtig wie das vehemente Einfordern der Möglichkeit und Selbstverständlichkeit des Stillens in der Öffentlichkeit ist es, die freie Entscheidung der Frau zu jedem Zeitpunkt zu unterstützen – und zwar auch, wenn sie etwas möchte, was wir anders sehen, zum Beispiel nicht zu stillen. Wir leben mittlerweile in einer Welt – und vor allem in einem Teil der Welt – in dem das Überleben der Kinder in der Regel nicht mehr davon abhängt, ob sie mit Muttermilch ernährt werden oder nicht. Wir verlängern künstlich Leben, können künstlich beatmen, intrauterin operieren, vorgeburtlich erkennen, wie gesund ein Leben ist, und Kinder schon in der 24. Schwangerschaftswoche außerhalb des Uterus überleben lassen. Und wir tun das alles auch.

Die Gesellschaft ist in vielen Teilen der Natur entfremdet. Wir haben Staubsauger-Roboter, essen Fertigprodukte, sind umgeben von Plastik, überwachen unsere Kinder per Kamerasystem und GPS, atmen Feinstaub, konsumieren allerhand Produkte aus Massenproduktion und nehmen Mikroplastik in unsere Körper auf. Kurzum: Wir alle leben in vielen Punkten sehr viel ungesünder als die Menschen, die sich vor vielen Jahrzehnten möglicherweise völlig autark auf einem Bauernhof versorgten.

Natürlich ist und bleibt all dies kritikwürdig und sicher auch veränderbar. Doch gleichen wir unsere Sicht auf die Mutter-Kind-Symbiose und das Stillen ein wenig der jetzigen Realität an. Betrachten wir auch die Prozesse der Reproduktion in dieser Realität und lassen wir den Frauen ihr Leben, das in dieser Welt schon schwer genug ist. Die Entfremdung gehört wohl ein Stück weit dazu, sie ist ganz einfach das Produkt unserer Geschichte.

 

Kraft und Zuspruch geben

 

Wenn wir eine Frau zum Erstgespräch treffen, dann wird es sie unterstützen, wenn wir nicht davon ausgehen, dass sie stillen will, sondern ganz offen fragen, ob sie das möchte. Und wenn sie sich dagegen entscheidet – aus welchen Gründen auch immer – dann können wir trotzdem bei ihr und ihrer Familie sein. Und wir können trotzdem gesundheitsfördernd wirken. Nämlich indem wir der Frau Kraft und Zuspruch geben und sie in ihren Entscheidungen und in ihrer Selbstwirksamkeit unterstützen. Denn nichts ist gesünder als eine selbstbewusste Frau, die weiß, was sie will und dies auch tut. Stillen ist sicherlich Liebe – die Flasche aber auch!

Rubrik: Stillen | DHZ 06/2022

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