Berührtwerden in der Schwangerschaft

Eine grundlegende Tätigkeit der Hebamme ist es, die Schwangere zu berühren. Die Berührung ist Handwerks- und Beziehungswerkzeug. In der Forschungsliteratur und auch in Lehrmaterial wird sie kaum thematisiert. Eine Bestandsaufnahme. Franziska Stocker
  • Mit ihrem Poster erreichte Franziska Stocker Platz 2. beim Posterwettbewerb zum Lip 2021. (Für die Detailansicht bitte das pdf herunterladen).

»Berühren und berührt werden ist ein unvermeidliches Geschehen in der Arbeit von Hebammen. Verschiedene Arten der professionellen Berührung sind ein wesentlicher Teil ihrer beruflichen Identität und das richtige Maß an Nähe und Distanz spielt eine wichtige Rolle«, schreibt die Hebamme und Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Dr. Ute Lange über das Gelingen von professioneller Berührung in der Hebammenarbeit (Lange 2017).

Während die Bedeutung von Berührung in Werken von Hebammen und Gesundheitswissenschaftler:innen hervorgehoben wird, finden sich bei der Recherche in wissenschaftlichen Datenbanken nur wenige Studien zu dieser Thematik. Auch in der aktuellen Lehrliteratur für Hebammen wird Berührung nur eingeschränkt thematisiert. Im Folgenden wird (nach kurzer Einführung über die Verortung des Hebammenberufs in den Pflegeberufen) der aktuelle Forschungs- und Erkenntnisstand zur Bedeutung von Berührung im Hebammenwesen skizziert.

 

Beziehungshandeln

 

Der Beruf der Hebamme weist Überschneidungen mit den Pflegeberufen auf. Die Pflegeberufe sind soziale Dienstleistungsberufe, die auf Interaktionen der beteiligten Akteure basieren. »Die Pflege stellt sich im Wesentlichen als Beziehungshandeln dar. Damit kommen der Interaktion und Kommunikation eine große Bedeutung zu. Bei dem sozialen Feld der Pflege handelt es sich um ein multilaterales Beziehungs- und Bindungsgefüge, dessen Strukturen von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägt sind« (Eissing 2012).

Der Pflegeberuf und auch der Beruf der Hebamme können als ein Berührungs- und Beziehungsberuf bezeichnet werden. Es wird angenommen, dass dies auch bei aller notwendigen wissenschaftlichen Ausrichtung so bleiben wird (Brieskorn-Zinke 2006). Auch in der Hebammentätigkeit hat die Beziehung zu den betreuten Frauen einen besonderen Stellenwert. Im Gegensatz zu den Pflegeberufen ist das Tätigkeitsfeld der Hebamme zum größten Teil geprägt von gesunden physiologischen Vorgängen.

Das Haupthandwerkszeug der Hebamme sind ihre Hände und die meisten Hebammen nutzen sie intuitiv zum Aufbau von Nähe und Wahrnehmung. »Die Hebamme sollte sich als Fachfrau für affektive Begleitung und Behandlung verstehen«, meint die Lehrhebamme Sabine Friese-Berg in ihrem Fachartikel über die Kunst der Berührung (Friese-Berg 2012). Auch nach Lange sind es meist die Hände der Hebamme, die Kontakt aufnehmen mit der zu betreuenden Frau, um Befunde zu erheben, Linderung zu verschaffen oder Präsenz zu zeigen. Sie vermutet, dass wegen der Alltäglichkeit von Körperkontakt und Berührung, deren Auswirkung und Dimension selten von der Hebamme reflektiert werden. Dabei ist es facettenreich und kompliziert zu berühren und berührt zu werden (Lange 2017).

 

Ausnahmesituation

 

Unter der Geburt befindet sich die Hebamme mit der zu betreuenden Frau oftmals in einer Ausnahmesituation. Des Öfteren muss die Hebamme intime Bereiche des Körpers berühren und persönliche Tabuzonen überschreiten. In dynamischen Geburtssituationen fehlt manchmal die Zeit, um die Berührungsgrenzen der anderen zu erfahren und zu reflektieren. Berührungen bieten eine Chance der Kontaktaufnahme und Kommunikation, aber auch Potenzial für Konflikte, Missverständnisse und möglicherweise Gewalterfahrungen (Lange 2017).

Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass die Hebamme auch Empfindungen hat. Lange bemerkt, dass mögliche körperliche und psychische Grenzüberschreitungen bei der Hebamme selbst regelrecht tabuisiert werden. Sie bemerkt auch, dass nur ansatzweise thematisiert wird, welche Überwindung und hohe Selbstkontrolle es kosten kann fremden Menschen ständig so nahe zu kommen (Lange 2017).

 

Bedingung für tiefere Kommunikation

 

Die Lehrhebamme Verena Schmid schreibt 2011 in ihrem Buch »Schwangerschaft, Geburt und Mutterwerden«, dass die Berührung die Synthese der Kommunikation verkörpert. Sie macht aufmerksam, dass durch die Art der Berührung bereits alles gesagt ist und annehmende Berührung Halt gibt und die Möglichkeit loszulassen. Weiter schafft Berührung eine Bedingung für tiefere Kommunikation, wofür es allerdings Zeit und Ruhe braucht. Schmid betont aber auch, dass nicht für alle Frauen die körperliche Berührung ein Zugang zur Kommunikation ist. Nur die Hebamme kann mit ihrer Sensibilität entscheiden, über welche Ebene der Kommunikation sie den Zugang findet. Weiter hebt sie hervor, dass es wichtig ist, sich über die Bedeutung und die Folgen der Berührung bewusst zu sein. Sie erwähnt, dass dieses Bewusstsein über persönliche direkte Erfahrung mit Berührung und Kontakt erlernt werden kann (Schmid 2011).

 

Literaturrecherche zur Berührung wenig erfolgreich

 

Während diese Autorinnen die gewichtige Rolle der Berührung im Hebammenwesen betonen, zeigte eine Literaturrecherche in den Datenbanken von Springer, Science Direkt, Pubmed, Livivo und Cochrane, dass Berühren in der Hebammentätigkeit bisher nur eingeschränkt untersucht wurde. In der deutschsprachigen Literatur finden sich vereinzelt Fachartikel, die sich auf spezielle Behandlungsmethoden beziehen. Aber es finden sich keine Arbeiten zur grundsätzlichen Bedeutung von Berührung in der Hebammentätigkeit.

Beim Schweizer Hebammenverband findet sich ein Empfehlungsschreiben für die Grundlagen der Hebammentätigkeit. Thematisiert wird, dass professionelle Berührung und Körperarbeit durch die Hebamme zur Stärkung der Kompetenz von Mutter, Kind und Hebamme beitragen könnten. Beides könne die Vertrauensbildung und das Gefühl von Sicherheit in der Beziehung zwischen Mutter und Kind bestärken.

Es wird dort betont, dass die professionelle Handlung der Berührung für die Hebamme ein Hilfsmittel sei, um über die leiblich-sinnliche Wahrnehmung komplexe Bezüge herzustellen. Dadurch könne die zu betreuende Frau als Ganzes wahrgenommen werden und die Mutter-Kind-Beziehung werde unterstützt. Zugleich könnten die Aufgaben als Hebamme situativ und individuell wahrgenommen werden. Daraus resultiere ein für die Situation angemessenes Agieren.

Eine Voraussetzung sei das Bewusstsein der Hebamme über ihre eigenen Körperrealitäten sowie über die Qualität von Präsenz und Berührung. Eine respektvolle, empathische Haltung sei ein wesentlicher Teil der professionellen Berührung (Graf 2014).

 

Berührung differenziert betrachten

 

Berührung scheint in der Hebammenprofession ein bedeutendes Thema zu sein, wurde aber bisher noch wenig untersucht. Lange plädiert dafür, dass die Komplexität der professionellen Berührungskommunikation und die damit einhergehende Herausforderung einer differenzierten Betrachtung bedürfen, sowohl aus der Sicht der Hebamme als auch der Schwangeren, Gebärenden und Mütter (Lange 2017).

Rubrik: Weiterbildung & Kongresse | DHZ 04/2022

Literatur

Brieskorn-Zinke M: Gesundheitsförderung in der Pflege. 3. Auflage. Kohlhammer-Verlag. Stuttgart 2006

Eissing J: Interaktion im Kontext der Pflege. Seminararbeit. Technische Universität Dresden. Grin-Verlag. München 2012

Friese-Berg S: Die Hände der Hebamme. Deutsche Hebammen Zeitschrift 2012. 9: 45–50
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