Die Hebamme als Lotsin

Hebammen können Frauen in der Schwangerenvorsorge, bei der Geburt und in der Nachsorge gut unterstützen, um die Risiken von Adipositas und Diabetes für Mutter und Kind zu senken. Praktische Empfehlungen für eine bestmögliche Begleitung. Dr. rer. medic. Judith Scholler-Sachs

In der Regel möchten Menschen mit einer Adipositas das Stigma ihres Dickseins lieber gestern als heute loswerden. Doch das Wissen um die Problematik ihres Übergewichtes hilft meist nicht weiter. Diätprogramme, Abnehmkurse und entsprechende Präparate boomen. Sieht man jedoch auf die Anzahl übergewichtiger Menschen in Deutschland, scheinen diese Angebote nicht zum Erfolg zu führen.

 

Ein neuer Lebensstil für Schwangere

 

Das Zauberwort heißt in der Regel Lebensstilmodifikation! Wie schwierig dies jedoch ist, wissen die meisten aus eigener Erfahrung. In den 1980er Jahren waren Programme zur Lebensstilverbesserung auf die Vermittlung von Wissen ausgerichtet. Inzwischen stehen individualisierte Konzepte im Vordergrund. Selbstverständlich brauchen wir Wissen über die Grundlagen zu Ernährung, Bewegung und körperliche Zusammenhänge. Aber ohne individuelle Probleme und Möglichkeiten zu berücksichtigen, Motivation und positive Krankheitsbewältigung zu fördern, werden Betroffene ihr Verhalten nicht ändern. Neben der Vermittlung von Kenntnissen brauchen wir praktische Angebote und Problemlösungsstrategien, denn sich von Routinen zu lösen und neue Verhaltensstrategien zu lernen, ist im Alltag oft schwer.

Zu Beginn der Schwangerschaft erleben viele Frauen eine Veränderung in ihrem Gefühlserleben. Gleichzeitig können Krisen und Verunsicherungen entstehen: Wie werde ich die neuen Herausforderungen bewältigen? Wie soll mein Leben in Zukunft aussehen? Welche Maßnahmen helfen mir und meinem Kind zu einem optimalen Start ins Leben? Hier liegt die große Chance, neue Wege zu gehen und sich auf eine gesündere Lebensweise einzulassen. Idealerweise sollten alle betreuenden Fachkräfte an einem Strang ziehen und gute kommunikative Kompetenzen besitzen, um schwangere Frauen zur Reflexion anzuregen. Bei Frust und Rückschlägen sollten sie immer wieder gemeinsam nach neuen Lösungen und konkreten Hilfen suchen.

Im Folgenden geht es um praktische Möglichkeiten, wie gerade Hebammen aufgrund ihrer vielseitigen Erfahrungen mit unterschiedlichsten Familien und einem ganzheitlichen Blickwinkel Frauen mit Adipositas und Gestationsdiabetes unterstützen können. Risiken für Mutter und Kind können durch einfache Maßnahmen wie gesunde Ernährung und mehr Bewegung deutlich verringert werden. In der gynäkologischen oder auch diabetologischen Betreuung nehmen die medizinischen Aspekte in der Regel viel Zeit ein und konzentrieren sich eher darauf, Komplikationen zu verhindern. Die Sichtweise einer Hebamme auf den physiologischen Schwangerschaftsverlauf ist wichtig, um Selbstwirksamkeit aufzubauen und Motivation zu stärken.

 

Screening in der Schwangerenvorsorge

 

In der Hebammenvorsorge werden Frauen vielleicht nach dem Nutzen eines Screenings auf Gestationsdiabetes fragen. Da gerade Schwangere mit Übergewicht ein höheres Risiko für einen Gestationsdiabetes haben, sollten sie diesen Test durchführen lassen. Das Merkblatt des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Screening auf Gestationsdiabetes führt sehr detailliert und evidenzbasiert Patienteninformationen zur Entscheidungsfindung auf. Es beschreibt die Testdurchführung, erläutert die Folgen eines unbehandelten Schwangerschaftsdiabetes und zeigt Behandlungsmöglichkeiten auf (www.iqwig.de).

Bei der Testdurchführung gibt es unterschiedliche Überzeugungen und Vorgehensweisen. Grundsätzlich ist es wichtig zu wissen, dass nur ein oraler Glukose-Toleranztest (75g oGTT) zur Diagnosestellung geeignet ist. Dies bedeutet unter Umständen, dass Frauen nach einem positiven 50g-oGTT-Test erneut gescreent werden müssen. Gleichzeitig ist bei ungefähr der Hälfte der Schwangeren der Nüchternblutzuckerwert erhöht, sodass diese Gruppe nicht durch einen 50g oGTT-Test identifiziert werden kann. Frauen mit vorbestehendem Risiko sollten zudem möglichst vor der 24. bis 28. Schwangerschaftswoche gescreent werden. Unter der neu überarbeiteten S3-Leitlinie »Gestationsdiabetes mellitus (GDM), Diagnostik, Therapie und Nachsorge« sind weitere Details nachzulesen.

Wird bei einer schwangeren Frau mit Übergewicht zusätzlich ein Gestationsdiabetes festgestellt, wird sie in der Regel zur Blutzuckereinstellung an eine diabetologische Schwerpunktpraxis oder Diabetesambulanz überwiesen. Um Ängste und Unsicherheiten nach der Diagnose weitgehend zu vermeiden, sollten die betroffenen Frauen eine schnelle Beratung und Aufklärung über realistische Risiken erhalten.

 

Gesunde Ernährung und Bewegung

 

Neben der regelmäßigen Blutzuckerkontrolle ist die individuell abgestimmte Ernährungsberatung wichtig für die weitere Betreuung. Bei über zwei Drittel der Frauen reicht die Nahrungsumstellung aus, um normnahe Blutzuckerwerte zu erlangen. Anhand der eigenen Blutzuckermesswerte erkennen die Schwangeren schnell, welche Nahrungsmittel sich günstig auswirken und welche sie besser vermeiden sollten. In der Beratung zeigt sich immer wieder, dass Frauen eine gesunde Ernährung als sehr einschränkend erleben, obwohl es sich keinesfalls um eine Diät handelt, sondern um eine ausgewogene, vollwertige Ernährung, die jeder Schwangeren empfohlen wird. Einfach zusammengefasst könnte eine Empfehlung so aussehen:

  • mindestens 2 Portionen Gemüse pro Tag
  • 2 bis 3 Portionen Obst pro Tag, keine Obstsäfte
  • Vollkornprodukte
  • 2 bis 3 Portionen Salat
  • moderater Anteil Fisch (ohne Panade)
  • niedriger Anteil von rotem und verarbeitetem Fleisch
  • Milchprodukte ohne Zuckerzusatz
  • möglichst keine raffinierten Produkte, verarbeitete Backwaren, Brot aus Weißmehl, Softdrinks, Fastfood und Fertiggerichte (vgl. Assaf-Balut 2017).

Eine gute Informationsbroschüre zum Thema Ernährung in der Schwangerschaft wurde 2008 vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) initiiert (siehe Link). Sie enthält leicht verständliche, alltagsnahe und unabhängige Informationen für schwangere Frauen. Gerade weil Hebammen Frauen zu allen Ernährungsfragen beraten, können sie auch bei der Betreuung von Schwangeren mit Adipositas und Gestationsdiabetes ihr Wissen einbringen, ohne dass der Glukosestoffwechsel im Mittelpunkt stehen muss.

Zusätzlich zur Ernährungsumstellung sollten übergewichtige Schwangere auch den positiven Einfluss von mäßigem, aber regelmäßigem körperlichem Training nutzen. Inzwischen gibt es mehrere randomisiert-kontrollierte Studien und Metaanalysen, die eine signifikante Verbesserung des Glukosestoffwechsels belegen. Darüber hinaus ließen sich auch andere ungünstige geburtshilfliche Risiken vermindern, beispielsweise für eine Hypertonie, Präeklampsie, Frühgeburt und sogar Sectio-Entbindung (Berghella 2017). Auch hier bieten sich viele Bewegungsangebote aus der Hebammenvorsorge an, wie Schwangerschaftsgymnastik, Yoga, Step Balance, Fitness für Schwangere, Walking Kurse, Aqua Fitness, Pilates und vieles mehr.

 

Stillen hilft Mutter und Kind

 

Stillen als ureigenes Thema der Hebammenbetreuung spielt gerade im Zusammenhang mit der Diagnose Gestationsdiabetes eine große Rolle. Der günstige Effekt des Stillens auf die Prävention eines später auftretenden Diabetes mellitus Typ 2 für Mutter und Kind ist in vielen Studien belegt (Pavlicek 2016; Hummel 2013; Taylor 2005). Trotzdem stillen Frauen mit Gestationsdiabetes im Vergleich zu nichtdiabetischen Müttern ihre Kinder deutlich seltener und kürzer.

Viele Frauen wissen nicht, dass sie mit dem Stillen ihren Glukose- und Lipidmetabolismus verbessern können und damit einhergehend die Insulinsensitivität. Frauen mit Gestationsdiabetes sollten deshalb nachdrücklich zum Stillen ihrer Kinder ermutigt werden. Dieses Thema können Hebammen schon vor der Entbindung ausführlich besprechen. So haben die betroffenen Mütter nach der Geburt schon eine Ansprechpartnerin bei Stillproblemen. Mit praktischen Hilfen und Förderung der Motivation werden die Frauen besser befähigt, ihre Kinder mindestens drei Monate, am besten sogar sechs Monate zu stillen.

Ergänzend ist die Kolostrumgewinnung für Frauen mit vorstehendem, aber auch insulinpflichtigem Diabetes in der Schwangerschaft eine gute Möglichkeit, um eine eventuelle Hypoglykämie des Kindes nach der Geburt auffangen zu können. Hierbei werden Frauen in der Spätschwangerschaft angeleitet, manuell ihre Brust zu entleeren und das vorhandene Kolostrum aufzufangen. Dieses wird eingefroren und am Tag der Geburt mit in die Klinik genommen. Genauere Informationen gibt es unter www.stillen-institut.com oder www.kolostrumstart.de. Diese günstige Methode mit präpartal gewonnenem Kolostrum hilft, den Blutzucker bei Neugeborenen schnell zu stabilisieren und schafft im besten Fall gleichzeitig einen günstigen Stillstart.

 

Direkt nach der Geburt und am ersten Tag

 

Während der Betreuung unter der Geburt gibt es für Hebammen viele Möglichkeiten, eine Hypoglykämie des Neugeborenen vorzubeugen. Hierzu zählt das möglichst frühzeitige Anlegen, etwa 30 Minuten nach der Geburt. Damit der Energiehaushalt des Neugeborenen nicht noch zusätzlich belastet wird, sollte es ausreichend warmgehalten und eine unnötige Trennung oder Stress vermieden werden. Auf keinen Fall sollte dem Kind prophylaktisch eine Glukoselösung, Wasser oder Tee gegeben werden.

Außerdem sollte die betreuende Hebamme aufmerksam sein für mögliche Symptome einer beginnenden Hypoglykämie, die jedoch sehr unspezifisch sein können. Mögliche Anzeichen sind:

  • Tremor (nicht zu beruhigen)
  • gesteigerter Such- und Saugreflex
  • Lethargie
  • Trinkschwäche
  • Unruhe
  • schrilles Schreien
  • Apnoe
  • Zyanose
  • Hypothermie
  • Hypotonie bis hin zu zerebralen
  • Krampfanfällen.

Auch Stunden nach der Geburt kann das Risiko für eine Unterzuckerung noch erhöht sein. Daher sollten Hebammen auch in der Nachsorge darauf achten, dass Kinder diabetischer Mütter häufig angelegt werden und am ersten Lebenstag nicht länger als sechs Stunden ohne Nahrung bleiben. Zur Stressvermeidung trägt auch der Hautkontakt von Mutter und Kind bei.

Über die Prävalenz einer Hypoglykämie der Neugeborenen bei Frauen mit Gestationsdiabetes gibt es keine eindeutigen Zahlen. Aus der GestDiab-Erhebung, dem größten Register zu Diabetes und Schwangerschaft in Deutschland, ergeben sich für das Jahr 2016 von 4.681 dokumentierten Schwangerschaften mit Gestationsdiabetes insgesamt 92 Hypoglykämien bei Neugeborenen. Das entspricht einer Rate von 3,2 %. Allerdings mussten 34 Kinder mit einer intravenösen Glukose-Infusion therapiert werden. Zwangsläufig mussten sie in die Kinderklinik verlegt werden. Vielleicht lassen sich einige der notfallmäßigen Verlegungen durch eine aufmerksame und zielgerichtete Betreuung vermeiden.

 

Tipps für die Hebammennachsorge

 

Auch in der Nachsorge können Hebammen viel dafür tun, die Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ 2 und einer Adipositas bei Kindern im Jugendalter zu vermeiden. In einer Kohortenstudie von 2017 mit insgesamt 2.626.905 Schwangeren konnte signifikant nachgewiesen werden, dass Frauen mit Gestationsdiabetes ein 7,76-fach erhöhtes Risiko haben, während bei Frauen mit zusätzlichen Einflussfaktoren wie Alter, BMI oder Parität das Risiko 17,92-fach erhöht war (Song 2017).

In dieser aktuellen Analyse war das Risiko vor allem drei bis sechs Jahre nach der Schwangerschaft bei Frauen unter 40 Jahren hoch. Aufgrund der langen biografischen Dauer eines manifesten Diabetes werden diese Frauen schon früh von micro- und macrovaskulären Folgekomplikationen betroffen sein. Das Bewusstsein für diese Problematik scheint in der Risikogruppe jedoch eher gering zu sein, ebenso wie die Überzeugung der eigenen Selbstwirksamkeit.

Typisches Beispiel ist das Zitat einer Betroffenen: »…wenn man es ja sowieso in den Genen hat, also dann kann man ja nicht so viel dagegen tun. Klar, gesünder leben, aber ich persönlich denke, dass das eher nur ein Rauszögern ist. Ich denke, wenn man es kriegen soll, dann kriegt man es (…). Wofür gesünder leben, wofür, wenn ich es sowieso irgendwann habe.«

Um dieser Resignation entgegenzuwirken, sollten möglichst alle betreuenden Fachkräfte und insbesondere Hebammen einen gesunden Lebensstil fördern. Sicherlich ist nicht jede Mutter aufnahmebereit oder nach der Geburt mit anderen Problemen konfrontiert. Aber schon durch kleine Lebensstiländerungen lassen sich enorme Verbesserungen erreichen und eine zukünftige Erkrankung länger hinausschieben.

Bei schwierigen Lebensumständen kann die Hebammennachsorge eventuell bis zum neunten Monat ausgeweitet werden oder auch, wenn verfügbar und erwünscht, Familienhebammen hinzugezogen werden.

 

Postpartale Depressionen erkennen

 

Ein weiterer, häufig vernachlässigter Aspekt ist, dass Frauen mit einem Gestationsdiabetes häufiger eine postpartale Depression entwickeln. Idealerweise sollte ein Screening bei der Durchführung des postpartalen oGTT-Testes sechs bis zwölf Wochen in der Schwerpunktpraxis oder Diabetesambulanz durchgeführt werden. Leider nehmen jedoch nur 40 % der Frauen nach einem Gestationsdiabetes an der empfohlenen Untersuchung teil (GestDiab Daten 2016). Knapp die Hälfte der Frauen hatte im Test schon eine Störung des Glukosestoffwechsels (siehe Tabelle).

Bei nur 13 % der Frauen wurde ein Depressionsscreening gleichzeitig zum oGTT in den Praxen durchgeführt. In 11 % der Fälle lag jedoch schon ein auffälliges Ergebnis vor und bei 5 % war eine sofortige Intervention notwendig. Nachsorgehebammen sollten daher genauer auf Symptome achten, ob übergewichtige junge Mütter eine postpartale Depression entwickeln. Als mögliches Screening-Tool können sie die Edinburgh-Postnatal-Depressions-Skala (EPDS) nutzen.

Unter dem Link http://www.postnatale-depression.ch/de/selbsttest.html können Frauen auch einen Selbsttest durchführen. Hier stehen die Fragenbögen auch in unterschiedlichen Sprachen für Fachkräfte zum Download bereit. Gerade Hebammen, die im Verlauf von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett einen engen Kontakt zu den Frauen entwickelt haben und gleichzeitig die häusliche Situation gut einschätzen können, fallen wahrscheinlich erste Anzeichen schneller oder deutlicher auf anderen Kontaktpersonen.

 

Mehr Anerkennung fürdie Hebammen!

 

Die Versorgungsqualität für Frauen mit Adipositas und Gestationsdiabetes kann durch unterschiedlichste Ansätze verbessert werden. Der positive Einfluss der Hebammentätigkeit wird auf diesem Gebiet häufig nicht ausreichend beachtet und wertgeschätzt. Es ist zu wünschen, dass sich dies in Zukunft ändert und die Bedeutung der Hebammenarbeit die entsprechende Anerkennung und Honorierung erhält.

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 07/2018

Literatur

Adamczewski H et al.: Einfluss der Gestationsdiabetes-Leitlinie der DDG auf die Versorgungsqualität: Analysen des Register GestDiab. Georg Thieme Verlag KG 2016. http://dx.doi.org/10.1055/s-0042-110485

Assaf-Balut C et al.: PloS One: A mediterranean diet with additional extra virgin oil und pistachios reduces the incidence of gestational diabetes mellitus (GDM): a randomized controlled trial: The St. Carlos GDM prevention study 2017. 12_e0185773. (61)

Berghella V, Saccone G: Am J Obstet Gynaecol. doi: 10.2016/j.ajog.2017.01.023
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