Plagiocephalie – ein kultureller Pflegefehler?

  • Dr. med. Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch: „Kinder verstehen. Born to be wild – wie die Evolution unsere Kinder prägt“.

Jeder fünfte, ansonsten normal entwickelte Säugling fällt hierzulande durch einen abgeplatteten Hinterkopf auf. KinderärztInnen bezeichnen dies auch als Plagiocephalie oder Brachycephalie. Dahinter steht in aller Regel die gleichförmige Einwirkung der Schwerkraft auf die relativ weichen Schädelknochen des Säuglings während des Liegens. Andere Ursachen, wie etwa ein zu früher Verschluss der Schädelnähte, sind sehr selten.

Eine weitere Erklärung lässt dann meist nicht lange auf sich warten: Dass diese Fälle in den vergangenen 20 Jahren zugenommen hätten, läge daran, dass Babys heute zur Vorbeugung der SIDS-Gefahr auf dem Rücken schliefen. Die abgeplatteten Hinterköpfe seien sozusagen eine Begleiterscheinung der „richtigen" Schlafposition.

Diese Argumentation überzeugt weder aus evolutionsbiologischer noch aus kulturvergleichender Sicht. Erstens: Die Abplattung des Hinterkopfs läuft dem „Kindchenschema" zuwider, das sich eigentlich gerade in der Zeit ausbildet, in der heute die Deformierung der Babyköpfe ihr Maximum erreicht, nämlich im vierten bis fünften Lebensmonat. Unter „Kindchenschema" versteht man die Signale, die ein Baby als niedlich und zuwendungsbedürftig erscheinen lassen: die Kulleraugen, die hohe Stirn, das Stupsnäschen, das fliehende Kinn, und eben der gerundete Hinterkopf. Dass sich dieses Reizschema zur Mitte des ersten Lebensjahres entwickelt, hat damit zu tun, dass das Baby jetzt für weitere Versorger außer der Mutter attraktiv werden soll. Es kann jetzt beigefüttert werden, das heißt die Versorgungslast kann sich auf mehr Schultern als nur die der stillenden Mutter verteilen. Gut also, wenn das Baby jetzt dick aufträgt.

Zweitens: Die Plagiocephalie ist in manchen Kulturen und Subkulturen, die ihre Babys ebenfalls auf dem Rücken zum Schlafen legen, praktisch unbekannt. So muss auf einem Internationalen Kongress der La Leche Liga lange suchen, bis man ein Baby mit plattem Kopf entdeckt. Dasselbe gilt für viele traditionelle afrikanische Kulturen.

Die Epidemie scheint also nicht einfach ein Kollateralschaden der Rückenlagerung zu sein. Etwas Weiteres muss dazu kommen. Etwa die Art des Babytransports: Autositz, Trageschale oder auch der Transport im Kinderwagen belasten den Kopf an immer derselben Stelle. Unglücklicherweise trägt hierzu auch ein mechanischer Teufelskreis bei: Sobald eine Abplattung des Schädels einmal vorliegt, wird das Baby diese Seite automatisch bevorzugen – der Babyschädel ist relativ schwer und lässt sich im Schlaf nicht so einfach beliebig positionieren. Ganz anders beim Tragen eines Babys: Die Kopfposition variiert und ein immer gleichförmiger Druck, etwa auf den Hinterkopf, lässt sich kaum über längere Zeit aufbauen.

Hinzu kommt die Art des Schlafens: Schläft ein gestilltes Baby nah bei seiner Mutter, so hat es nicht nur einen weitaus aktiveren Schlaf mit weniger Tiefschlafphasen mit starker Muskelentspannung – zumindest in den ersten Monaten. Es wird zudem von der Mutter intuitiv häufiger umgelagert in eine „stillbereite" Position, also Rücken- oder Seitenlage. Ein lange anhaltender Druck auf die immer gleiche Stelle des Schädels ist bei Babys im Elternbett gar nicht möglich.

Ich halte die Epidemie der lagerungsbedingten Plagiocephalie deshalb für einen Hinweis auf einen kulturellen Pflegefehler. Der Schädel von Babys scheint evolutionär nicht auf Kinderwagen, Maxi-Cosi und eigenes Kinderbett vorbereitet zu sein.

Rubrik: DHZ 08/2014

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