Beschneidung bei Jungen

Unverzichtbare Vorhaut

Dürfen Eltern ihren Sohn ohne medizinischen Grund beschneiden lassen? Die Vorhaut ist ein Organbestandteil, eine erogene Zone des Genitals, aber auch ein Symbol der körperlichen Unversehrtheit des Mannes. Dr. Stephan Heinrich Nolte
  • »Junge beim Sonnenbaden« von der schwedischen Künstlerin Mollie Faustmann (1932)

Nach langen Diskussionen trat Ende 2012 das sogenannte »Beschneidungsgesetz« in Kraft unter dem Namen: Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes (Bundesgesetzblatt 2012). Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) heißt es in § 1631d: »Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll …« Damit legalisierte der Bundestag eine nicht-therapeutische Vorhautentfernungen bei Jungen aus jeglichem Grund.

Das Gesetz war eine Reaktion auf ein Urteil des Kölner Oberlandesgerichtes vom 7. Mai 2012. Das Gericht kam zu der Überzeugung, dass die Beschneidung eine Körperverletzung sei, die durch eine religiöse Motivation und den Wunsch der Eltern nicht gerechtfertigt werde und nicht dem Kindeswohl diene. Es bezog sich weitgehend auf Stellungnahmen des Strafrechtlers Holm Putzke, der 2008 auf die Strafbarkeit einer nicht indizierten Körperverletzung, wie sie die Beschneidung darstellt, hingewiesen hatte, unter anderem im Deutschen Ärzteblatt (Stehr et al. 2008). KinderärztInnen und KinderchirurgInnen begrüßten diese Sichtweise einhellig, während sich religiöse Gruppierungen aufgebracht gegen eine solche Sichtweise wehrten. Sie behielten aus politischen Gründen die Oberhand, so dass aus Gründen des »Rechtsfriedens«, aber zu Lasten der Kinder- und Menschenrechte das genannte Gesetz erlassen wurde.

Damit ist aber die Frage nicht vom Tisch. Fünf Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes kritisierten ÄrztevertreterInnen und Kinderschutzorganisationen unter dem Dach der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin erneut den faulen Kompromiss (Schiering 2017).

 

Die Vorhaut hat eine Funktion

 

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) beschreibt den wissenschaftlichen Stand über die Vorhaut in der S2k-Leitlinie »Phimose und Paraphimose«, herausgegeben 2017 von der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH – siehe Links): Die Vorhaut, das Präputium, ist ein integraler Bestandteil des männlichen äußeren Genitales, der zahlreiche Funktionen erfüllt. Wie Augenlider, Lippen und After, ist die Vorhaut durch den Übergang von verhornender Haut zu Schleimhaut gekennzeichnet und ein hochsensibles Organ.

Bei der Geburt sind bei 96 % der Jungen Vorhaut und Eichel noch fest verklebt und somit kann die Vorhaut nicht zurückgestreift werden. Eine Lösung dieser natürlichen Verklebung verletzt die Eichel und das innere Vorhautblatt. Erst mit sieben Jahren kann etwa die Hälfte der Jungen die Vorhaut weitgehend zurückstreifen, mit zehn Jahren etwa zwei Drittel. Selbst bei der Jugenduntersuchung zwischen 16 und 17 Jahren besteht bei vielen Jungen noch eine Vorhautverklebung, die von einer echten Phimose unterschieden werden muss. Merkwürdigerweise gibt es keine Daten zur Lösung von Vorhautverklebungen während der Pubertätsentwicklung.

Zwischen Eichel und Vorhaut sind häufig gelbliche Retentionszysten zu beobachten. Diese sind kein Zeichen einer eitrigen Infektion, sondern bestehen aus Talgdrüsensekret und Smegma. Sie öffnen sich von allein und entleeren ihren krümeligen oder pastösen Inhalt. Solche »Entzündungen« müssen oft als Indikation für eine Beschneidung herhalten.

Die Vorhaut ist sehr stark innerviert. Damit spielt sie zum Erleben sexueller Empfindungen eine wichtige Rolle – weit mehr, als die relativ nervenarme Eichel. Sie ist auch sehr gut durchblutet, was bei Entfernung zu einer entsprechenden Blutungskomplikationsrate führt. Ihre immunologische Bedeutung ist noch weitgehend unbekannt.

 

Primäre Phimosen sind selten

 

Bis zur Pubertät lösen sich die Vorhautverklebungen und die Vorhaut lässt sich zwanglos zurückstreifen. Ganz selten, bei etwa 1 % der Jungen, gelingt diese Spontanlösung nicht. Bei diesen Jungen besteht eine primäre Vorhautverengung, eine Phimose.

Viel häufiger dagegen sind sekundäre Phimosen: Hier besteht eine narbige Vorhautverengung. Dies ist nicht selten eine »hausgemachte« Folge von traumatischen Retraktionsversuchen, die zu kleinen Einrissen mit lokalen Entzündungen und zu einer narbigen Phimose führen können. Über die Häufigkeit gibt es keine verlässlichen Angaben. Zudem gibt es auch Haut­erkrankungen, die zu einer Phimose führen können, wie die Weißfleckenkrankheit (Lichen sclerosus et atrophicans).

 

Behandlung unnötig – Beschneidung weit verbreitet

 

Die derzeit gültige Leitlinie der AWMF betont, dass primäre oder sekundäre Phimosen nur dann behandelt werden sollen, wenn Beschwerden bestehen oder zu erwarten sind, etwa beim Harnlassen, beim Geschlechtsverkehr oder bei einer sogenannten Paraphimose: Die zurückgestreifte Vorhaut schnürt die Eichel ab. Bei Säuglingen ist die medizinische Indikation zur Therapie einer Phimose höchst fraglich, etwa bei einer Harntransportstörung. Im Vorfeld der unterschiedlichen operativen Formen der Beschneidung gibt es die Möglichkeit einer Salbenbehandlung der Phimose.

Unter einer Beschneidung (Zirkumzision) versteht man die teilweise oder vollständige Entfernung der männlichen Vorhaut. Weltweit ist die Beschneidung einer der häufigsten operativen Eingriffe. Nur selten wird er aus medizinischen, häufig dagegen aus religiösen und kulturellen Motiven vorgenommen. Man schätzt, dass ein Viertel bis ein Drittel der männlichen Weltbevölkerung beschnitten ist.

Bis heute ist es auch in Deutschland weit verbreitet, aber nie wissenschaftlich begründet, Jungen vor der Einschulung zu beschneiden, wenn sich die Vorhaut dann noch nicht zurückschieben lässt. So wird bei jeder Vorsorgeuntersuchung das Geschlechtsteil untersucht, aus der Befürchtung, es könne eine Vorhautverengung vorliegen. Je nach UntersucherIn kann eine solche Maßnahme durch vernarbende Verletzungen der Vorhaut zu einer »echten« Phimose führen, die dann eine Behandlung notwendig macht – ein häufig hausgemachtes Problem. Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt und Kindesmissbrauch weisen immer wieder darauf hin, dass eine solche Untersuchung auf eine Phimose ein Tarnmuster für sexuellen Missbrauch von Jungen geworden ist (Mosser & Lenz 2014). Nur das Kind selbst sollte Manipulationen an seiner Vorhaut vornehmen, etwa beim Versuch, sie zurückzuziehen. Dieser Grundsatz sollte auch für ärztliche Untersuchungen gelten.

 

Religiöse Motive und Moralvorstellungen

 

Im Judentum ist die Beschneidung von gesunden Jungen am achten Lebenstag ein Gebot Gottes. Aber die Beschneidung ist kein konstituierender Akt, denn ein Jude ist nicht, wer beschnitten ist, sondern wer von einer jüdischen Mutter abstammt (Glick 2005).

Im Koran wird die Beschneidung nicht ausdrücklich erwähnt. In islamisch geprägten Ländern ist sie jedoch weit verbreitet und wird im Kindes- oder Jugendalter vorgenommen. Die damit verbundenen Feierlichkeiten gelten in diesen Gesellschaften als Initiationsritus zur Aufnahme in die religiöse Gemeinschaft oder bei Jugendlichen in die Gemeinschaft der erwachsenen Männer.

Es ist kulturhistorisch zu hinterfragen und vor allem aber unrichtig, wenn heute eigenartigerweise betont wird, dass eine Beschneidung keine Auswirkungen auf das sexuelle Empfinden habe. Im 19. Jahrhundert war genau dieser Effekt der wichtigste Grund für diesen Eingriff. Die Empfindlichkeit und die sinnliche Bedeutung der Vorhaut wurden als »eine Quelle ernsthaften Unheils« gesehen (Acton 1865). Offensichtlich war sowohl den GegnerInnen als auch den BefürworterInnen der Beschneidung klar, dass die bedeutende Rolle der Vorhaut für die sexuelle Reaktion der wichtigste Grund war, warum sie entweder in Ruhe gelassen oder entfernt werden sollte. Viele ärztliche Zeitgenossen betonten, dass eine früh vorgenommene Beschneidung die lustvollen Empfindungen des Geschlechtsverkehrs vermindere.

So schrieb Sir Jonathan Hutchinson (1828–1913): »Den einzigen physiologischen Vorteil, den die Vorhaut verleiht, ist, dass sie den Penis in einem empfänglicheren Zustand hält, für intensivere Empfindungen, wie es andernfalls der Fall wäre. Sie kann das Vergnügen des Geschlechtsverkehrs und den Drang danach erhöhen: aber dies sind Vorteile, die … wir gut entbehren können. Wenn ihr Verlust zu einer erhöhten sexuellen Beherrschung führen sollte, sollte man dafür dankbar sein.« (Hutchinson 1900) Der berühmte Chirurg, ein Quäker und Puritaner, gilt als der Vater der modernen Zirkumzision. Er meinte auch, damit sexuell übertragbare Erkrankungen verhindern zu können, wie er in einer vergleichenden Studie von Juden mit Nicht-Juden herausgefunden zu haben glaubte, die jahrzehntelang als Gütebeweis zur vorsorglichen Beschneidung von Kindern galt.

 

Vom Puritanismus zur Global Gag Rule

 

Dass die Zirkumzision im 19. Jahrhundert als ein Allheilmittel gegen die so verpönte und unheilvolle Masturbation sein sollte und deshalb einen raschen Aufschwung erfuhr, ist heute wenig bekannt. Beispielhaft als einer der bis heute nachwirkenden prominenten Protagonisten der Beschneidung sei der amerikanische Arzt und Geschäftsmann John Harvey Kellogg (1852–1943) genannt. Er ist der Erfinder der Cornflakes und der Erdnussbutter, ein wirkmächtiger stark puritanisch-religiös geprägter Reformer, der sich als Vorkämpfer für Gesundheit und sexuelle Enthaltsamkeit ansah.

Vor allem die Selbstbefriedigung galt es zu bekämpfen, die für mancherlei Übel verantwortlich sei und an der Kinder systematisch gehindert werden müssten. Eine routinemäßige Beschneidung der Jungen sollte durch die entstehende Unempfindlichkeit der Eichel von der Selbstbefriedigung abhalten.

So schrieb Kellogg in seinem schon 1910 über 300.000-fach verbreiten Ratgeber: »Ein Mittel gegen Masturbation, welches bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte von einem Arzt ohne Betäubung durchgeführt werden, weil der kurze Schmerz einen heilsamen Effekt hat, besonders, wenn er mit Gedanken an Strafe in Verbindung gebracht wird.« (Kellogg 1910)

Kellogg lebte nach seinen Aussagen sexuell völlig enthaltsam. Er adoptierte aber eine große Zahl von Kindern. Er verabreichte sich täglich lustvoll Einläufe und kommentierte sie so: »Ist Gott ein Mensch mit zwei Armen und Beinen wie ich? Hat er Augen, einen Kopf? Hat er einen Darm? Nun, ich schon, und deshalb bin ich wundervoller als er!« (Wirz 1993) In diesem Sinne schreibt er zur Therapie hartnäckiger Fälle von Selbstbefriedigung, man solle, wenn man schon nicht beschneide, mit ein oder mehreren Silberdraht-Nähten die Vorhaut verschließen, damit die Erektion schmerzhaft und eine Selbstbefriedigung nicht mehr möglich ist. Bei Mädchen sei die Behandlung der Klitoris mit unverdünnter Karbolsäure (Phenol) hervorragend geeignet, um die unnatürliche Erregung zu mindern, wenn der Wille zur Selbstkontrolle zu schwach sei (Kellogg 1910, S.326).

Wenn man nun glaubt, dass derartiges lustfeindliches und puritanisches Denken antiquiert und überkommen sei, sollte man sich klar machen, dass solche Gedanken im Hintergrund in der Zirkumzisionsdebatte immer noch mitschwingen. Ein Teil der tonangebenden amerikanischen Gesellschaft ist in diesen Kontext zu stellen, mit verhängnisvollen Auswirkungen für die Prävention, Familienplanung und Sexualaufklärung weltweit.

So werden auf der einen Seite große Beschneidungsprogramme in Afrika finanziert: Seit 2007 empfehlen die WHO und UNAIDS die freiwillige Beschneidung als eine Vorbeugemaßnahme gegen HIV-Infektionen in Ländern mit hoher HIV-Prävalenz und niedrigen Beschneidungsraten (siehe Links). Auf der anderen Seite gibt es die politische Linie, die als »Global Gag Rule« bezeichnet wird (nach dem englischen Ausdruck Gag Rule: »Man spricht nicht darüber.«): Allen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die Informationen und Dienstleistungen zu Schwangerschaftsabbrüchen anbieten, werden die staatlichen finanziellen Zuwendungen gestrichen (siehe auch DHZ 6/2017). Damit wird die Familienplanung in Entwicklungsländern verunmöglicht, ungewollte Schwangerschaften, Abtreibungen und Todesfälle sind die Folge. Diese Politik galt von 1984 bis 1993, bis sie von Bill Clinton außer Kraft gesetzt, von George W. Bush erneuert und 2009 nach der Regierungsübernahme von Barack Obama erneut beendet wurde. Donald Trump dehnte diese Politik auf alle global im Gesundheitsbereich tätigen Organisationen aus, so dass auch für die Zukunft nichts Gutes zu erwarten ist (siehe Links).

 

Geschichte der Jungenbeschneidung

 

Die Zirkumzision von Jungen gilt als der älteste chirurgische Eingriff der Menschheit. Sie hat ihren Ursprung wahrscheinlich in der Bestrafung von Kriegsgefangenen. Im Laufe der Zeit wurde dieser Eingriff im alten Ägypten von Priestern und dem Adel übernommen, möglicherweise in Anlehnung an die Mythologie von Osiris, Gott der Toten und der Fruchtbarkeit. Nacheinander wurde die Beschneidung von Knaben ein festes religiöses Ritual der Juden und der Muslime.

Zur gleichen Zeit wurde im alten Griechenland eine intakte Vorhaut verehrt, was an den nackten Skulpturen aus der Rennaissance erkennbar ist.

Im 19. Jahrhundert wurde die Zirkumzision als Behandlungsmethode gegen exzessive Selbstbefriedigung, Anfallsleiden, Epilepsie und Lähmungserscheinungen angewendet. Die Einführung als medizinische Prozedur verlief ähnlich flächendeckend wie in den religiösen Ritualen.

Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts war die reguläre Beschneidung sehr kleiner Jungen als Behandlung der Phimose üblich, wenn sich die Vorhaut nicht zurückziehen ließ. Bereits 1949 dokumentierte Douglas Gairdner, dass sich die Vorhaut physiologisch erst im Laufe der Kindheit zurückziehen lässt, so dass die häufige Beschneidung nicht medizinisch zu rechtfertigen war. Darauf berufen sich heute die Bewegungen für sexuelle Selbstbestimmung und gegen die Beschneidung von Jungen.

Quellen: Raveenthiran V: The evolutionary saga of circumcision from a religious perspective. J Pediatr Surg 2018. 53(7): 1440–1443
Gairdner D: The fate of the foreskin. A study of circumcision. Brit Med J 1949. 2:1433–1437
Peggy Seehafer

 

Die juristische Situation

 

Ein Kind hat, wie jeder Mensch, ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, garantiert durch das deutsche Grundgesetz. In Artikel 2 Absatz 2 heißt es: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.«

Dieses Grundrecht soll sowohl die körperliche als auch die psychische Gesundheit schützen. Folter, körperliche Strafen, Menschenversuche und Zwangssterilisationen sind durch rechtsstaatliche Garantien verboten. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit kann jedoch eingeschränkt werden, etwa wenn VerkehrsstraftäterInnen Blutproben entnommen werden sollen oder im Seuchenfall ein Impfpflicht nach § 20 Abs. 6 IfSG ausgesprochen wird.

Im Strafgesetzbuch ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit in den §§ 223 bis 231 StGB niedergelegt, in denen die Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit enthalten sind, zum Beispiel Körperverletzung oder Misshandlung von Schutzbefohlenen. Einwilligungsfähige können jedoch nach freiem Willen über das Recht auf körperliche Unversehrtheit verfügen, etwa bei medizinischen Maßnahmen, aber auch bei Piercings, Schönheits- oder anderen Eingriffen.

In Deutschland ist die freie Verfügbarkeit durch § 228 StGB eingeschränkt: Eine Körperverletzung ist auch bei Einwilligung der verletzten Person dann rechtswidrig, wenn sie gegen die guten Sitten verstößt. Die Zivilgesellschaft hat sich vielfach mit Eingriffen in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit zu beschäftigen: Prominente Beispiele sind 1976 die Gurt- und Helmanlegepflicht gewesen, dann die Zwangsbehandlungen in Gefängnissen oder psychiatrischen Einrichtungen, die Organentnahme nach Hirntoddiagnostik, sowie derzeit der Schutz vor Umweltbelastungen. So wird aktuell etwa über Fluglärm, Feinstaub, Abgase, Ozon, Stickoxide, Radioaktivität oder Zigarettenrauch diskutiert.

 

Neue Kinderschutzleitlinie in Arbeit

 

Kindeswohl und Kinderschutz kann mit Bekanntwerden der Schwangerschaft beginnen und endet mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Schnittstellen der versorgenden Bereiche für Kinder und Jugendliche und deren Familien. In der derzeit noch in der Konsultationsphase befindlichen neuen Kinderschutzleitlinie werden die »Haupt-Versorgungsbereiche« anhand von Jugendhilfe, Medizin/Psychologie und Pädagogik beschrieben.

AWMF (S3+) Leitlinie: Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernach­lässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik. > www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/KF_027-069k_Kinderschutz_2018-10.pdf

 

Problematischer Kompromiss

 

Während die Beschneidung von Mädchen im Sinne des Grundgesetzes in Deutschland diskussionslos überholt ist, wurde bei Jungen die Abwägung zwischen dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und der Religionsfreiheit in den letzten Jahren leidenschaftlich diskutiert. So kam es in dem eingangs erwähnten Beschneidungsgesetz vom 20. Dezember 2012 zu einem problematischen Kompromiss.

In der AWMF-Leitlinie heißt es: »Die operative Entfernung (Zirkumzision) bedarf in unserem Rechts- und Wertesystem einer medizinischen Indikationsstellung. Diese unterscheidet sich hinsichtlich ihres Anspruches nicht von der anderer operativer Eingriffe. Medizinisch nicht indizierte Beschneidungen werden durch soziokulturelle und religiöse Traditionen motiviert«.

 

Stimmen für die genitale Selbstbestimmung

 

intaktiv

Der Verein intaktiv setzt sich für das Recht aller Menschen ein, selbst darüber zu entscheiden, welche nicht unmittelbar medizinisch notwendigen Eingriffe an ihren Genitalien vorgenommen werden. Er wurde im Mai 2013 gegründet und hat seinen Sitz in Mainz. > https://intaktiv.de

MOGiS

Im Verein MOGiS e.V. haben sich Betroffene von sexuellem Missbrauch, sexueller Ausbeutung und sexualisierter Gewalt zusammengeschlossen, um ihren Interessen eine Stimme zu geben. > https://mogis.info

Der Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. hat eine eigene Webseite, auf der sich Menschen versammeln, die von Eingriffen in ihre sexuelle Selbstbestimmung als Kind betroffen sind.
> https://die-betroffenen.de

Fachtagung

Im Mai 2017 fand die Fachtagung »Jungenbeschneidung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme« statt. Ergebnisse und weitere Informationen bietet das Klinische Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Düsseldorf unter
> www.jungenbeschneidung.de

Rubrik: 1. Lebensjahr | DHZ 01/2019

Nachgefragt

»Eine Amputation«

 

Peggy Seehafer: Habe ich richtig verstanden, dass es im Säuglingsalter naturgemäß keine Diagnose Phimose geben kann, sondern dass sie sich erst im späteren Kindesalter herauskristallisiert?

Dr. Stephan H. Nolte: Das ist grundsätzlich richtig, aber »nie« kann man in der Medizin nie sagen. Eine »primäre« Phimose, bei der die Harnröhrenöffnung so eng ist, dass die Vorhaut aufballoniert und sich der Harn nur tröpfchenweise entleert, kann auch beim Säugling vorkommen. Sie ist extrem selten und kann ein medizinischer Grund für eine Beschneidung sein.

 

Peggy Seehafer: Würden Sie unterschreiben, dass jeder nicht ernsthaft medizinisch begründete chirurgische Eingriff an den Genitalien von Minderjährigen eine Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit ist?

Dr. Stephan H. Nolte: Ja, auf jeden Fall! Bei der Beschneidung handelt sich um eine Amputation eines wichtigen Körperteils. Bei Mädchen schreit alle Welt auf, während man es bei den Jungen geschehen lässt.

 

Peggy Seehafer: Dennoch werden bisher die religiösen Rechte der Eltern höher bewertet als die Verpflichtung der Gesellschaft, Kinder vor rituellen Operationen zu schützen. Wäre eine Verweigerung des Eingriffs von Seiten der Medizin eine Möglichkeit?

Dr. Stephan H. Nolte: Offiziell ist das so, und die Fachgesellschaften sind einhellig dieser Meinung. In der Praxis werden aber häufig eigentlich rituelle Eingriffe als medizinisch notwendig deklariert, unter anderem, damit die Kassen es bezahlen und damit die UrologInnen in ihrer Ausbildung auf die nötige Zahl von Eingriffen kommen.

 

Peggy Seehafer: Dürfen KinderärztInnen diesen Eingriff ohne medizinische Indikation ablehnen, ähnlich wie beim Schwangerschaftsabbruch?

Dr. Stephan H. Nolte: Selbstverständlich, zumal sie diesen Eingriff ja in der Regel nicht selbst durchführen. In den USA ist allerdings die Plastibell-Methode sehr verbreitet, die auch KinderärztInnen und sogar Krankenschwestern und -pfleger anwenden (Shah et al. 1999).

 

Peggy Seehafer: Reicht bei der derzeitigen Rechtssituation die Zustimmung eines Elternteils oder müssen beide dem Eingriff zustimmen?

Dr. Stephan H. Nolte: Bei einem gemeinsamen Sorgerecht, wie es die Regel ist, müssen beide Elternteile zustimmen.

 

Peggy Seehafer: Zahlen die Krankenkassen für diesen Eingriff? Oder was müssen Eltern für diese Operation bezahlen?

Dr. Stephan H. Nolte: Die Krankenkassen zahlen nur, wenn der Eingriff für medizinisch notwendig erklärt wird, was viele operativ tätige KollegInnen bereitwillig tun – besonders, wenn sie selbst beschnitten sind. Wenn ich türkische Eltern befrage, wie viel sie sonst für den Eingriff bezahlen müssten, sind es meist 150 bis 200 Euro. Sie kennen die ÄrztInnen, die man zu diesem Zweck aufsuchen kann, meist Landsleute. Oft lässt die Familie die Beschneidung während eines Heimaturlaubes im Rahmen einer entsprechenden Familienfeier vornehmen.

 

Peggy Seehafer: Wenn Elternpaare nun ihren Sohn beschneiden lassen wollen, was sollen Hebammen ihnen raten?

Dr. Stephan H. Nolte: Sie sollten darauf hinwirken, den Eltern die Irreversibilität des Eingriffes zu erklären und sie darin bestärken, wenigstens die Religionsmündigkeit ihres Kindes abzuwarten. Es ist ja auch ein Eingriff in die Religionsfreiheit.

 

Peggy Seehafer: Werden in der Praxis noch Beschneidungen ohne vorherige Analgesie vorgenommen?

Dr. Stephan H. Nolte: Keine Frage, ich gehe davon aus – besonders, wenn sie wie in der jüdischen Religion am achten Tag erfolgt. Vielleicht wird eine anästhesierende Salbe benutzt (EMLA), die aber zur Analgesie nicht ausreicht.

Literatur

Acton W: The functions and disorders of the reproductive organs in childhood, youth, adult age and advanced life. 3rd London edition. Philadelphia, Lindsay and Blakiston 1865. 22

Bundesgesetzblatt Jahrgang 2012 Teil I Nr. 61 vom 27.12.2012, 2749

Glick L: Marked in your Flesh: Circumcision from Ancient Judea to Modern America New York: Oxford University Press 2005
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