Leseprobe: DHZ 04/2022
Rechtliche Aspekte der Anamnese

Abfragen – aufzeichnen – weitergeben

Kommt es zum Rechtsstreit, ist die Dokumentation des mütterlichen oder kindlichen Zustands entscheidend. Das A und O der Anamnese ist darum, dass sie umfassend erfolgt und die Informationen auch Teil der weiteren Kommunikation sind. Die Dokumentationshilfen bei der Betreuung von Schwangeren nehmen aus haftungsrechtlicher Sicht eine Vorbildfunktion in der Medizin ein. Was gilt es dennoch zu beherzigen? Dr. Sebastian Almer,
  • »Es gibt im Haftungsrecht keine Nachsicht für Fehler in der Informationsweitergabe.«

Kein Bereich der beruflichen Tätigkeit bleibt frei von Fehlern, das gilt auch für die Erhebung der Anamnese. Gleichwohl bereitet Hebammen und Ärzt:innen die Anamnese bei Feststellung und Betreuung der Schwangerschaft aus rechtlicher Sicht erfreulicherweise wenig Probleme. Dies liegt daran, dass die von ihnen zu treffenden Feststellungen in den entsprechenden Dokumentationshilfen – insbesondere im Mutterpass – formalisiert und umfassend abgefragt werden, womit eine lückenhafte Anamnese weitgehend vermieden werden kann. So gesehen nehmen die Dokumentationshilfen bei der Betreuung von Schwangeren aus haftungsrechtlicher Sicht eine Vorbildfunktion in der Medizin ein. Trotzdem gilt es, aufmerksam zu bleiben.

 

Erhebung der Anamnese

 

Die Erhebung der Anamnese – im Sinne einer professionellen Erfragung von potenziell relevanten medizinischen Informationen aus der Vorgeschichte der Schwangeren – ist Ausgangspunkt aller medizinischen Überlegungen zum weiteren Vorgehen. Aus diesem Grund nimmt die Anamnese auch in den Mutterschafts-Richtlinien eine zentrale Bedeutung ein. So muss beispielsweise die erste Untersuchung nach Feststellung der Schwangerschaft die Familienanamnese, die Eigenanamnese, die Schwangerschaftsanamnese sowie die Arbeits- und Sozialanamnese umfassen. Weiter ergibt sich insbesondere aus der Anamnese der Überwachungsbedarf für die Schwangerschaft.

Rechtlich gesehen sind Fehler in der Erhebung der Anamnese oder auch in der Weitergabe der anamnestischen Informationen klassische Behandlungsfehler und verpflichten bei einem kausalen Schaden der Patient:innenseite zur Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz. Darüber hinaus können Fehler in diesem Bereich unter dem Aspekt der fahrlässigen Körperverletzung nach § 229 StGB oder fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB sogar strafrechtlich relevant sein.

 

Schwangerschaft

 

Immer wieder Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen ist zum Beispiel die Frage, ob die anamnestischen Hinweise auf eine Präeklampsie richtig erfasst beziehungsweise richtig gedeutet wurden. In einem erst kürzlich entschiedenen Fall des LG Ingolstadt berichtete die Schwangere ihrem Frauenarzt über Bauchschmerzen und einer Gewichtszunahme von zwei Kilogramm innerhalb von zwei Wochen, ihr Blutdruck lag bei 140/90 mmHg. Bei der Urinkontrolle zeigte sich in geringer Konzentration Eiweiß im Urin, daneben waren Leukozyten und Erythrozyten nachweisbar. Die Blutuntersuchung ergab einen GOT-Wert von 279 U/l (normal < 32) und einen GT-Wert von 48 U/l (normal < 31).

Wenige Tage später erlitt die Schwangere einen eklamptischen Krampfanfall, ihr Kind wurde im Rahmen einer Notsectio in der SSW 26+6 geboren. Im Rahmen der erforderlichen Beatmung erlitt das Kind Hirnblutungen und damit einen bleibenden cerebralen Schaden.

Vor Gericht wurde mit einigen Gutachten und Gegengutachten darüber gestritten, ob die Schwangere von ihrem Frauenarzt aufgrund der anamnestischen Informationen und der übrigen Befunde bereits frühzeitig in ein Krankenhaus hätte überwiesen werden müssen. Das Gericht bejahte diese Frage, wies die Klage des Kindes aber dennoch ab, weil auch eine Krankenhausbehandlung nicht sicher zu einer Schwangerschaftsverlängerung geführt und auch eine Lungenreifebehandlung den beim Kind eingetretenen Schaden nicht sicher verhindert hätte (LG Ingolstadt, Az. 31 O 2063/15, Urteil vom 14.1.2022; das Urteil ist nicht rechtskräftig, aktuell ist in diesem Fall die Berufung vor dem OLG München anhängig).

 

Auswahl des Geburtsortes

 

Die korrekte Erhebung der Anamnese ist auch im Rahmen der außerklinischen Geburtshilfe wichtig, zumal dort Besonderheiten in der Anamnese dazu führen können, dass eine Geburt ohne ärztliche Begleitung von vornherein ausscheidet. Im entsprechenden Kriterienkatalog genannt werden hier anamnestische Risiken wie Abhängigkeitsproblematiken, Adipositas, insulinpflichtiger Diabetes oder ein Zustand nach Re-Sectio ohne nachfolgende vaginale Geburt, so die Ausschlusskriterien zur Anlage 3 der Qualitätsvereinbarung zum Vertrag nach § 134a SGB V. Dort werden auch anamnestische Risiken genannt, die eine außerklinische Geburt zwar nicht ausschließen, aber eine gründliche Abklärung einfordern.

Würden diese Risiken in der Krankengeschichte seitens der Hebamme übersehen oder übergangen, wäre die Entscheidung für eine außerklinische Geburt ohne Arztbegleitung ein Fehler. Zur Haftung könnte dieser Fehler führen, wenn sich unter der Geburt eben dasjenige Risiko verwirklicht und bei Mutter oder Kind zu einem gesundheitlichen Schaden führt, das durch den Ausschluss im Kriterienkatalog vorab vermieden werden sollte.

In einem Verfahren vor dem LG Ingolstadt (Az. 33 O 821/10) ging es beispielsweise um die Betreuung einer außerklinischen Geburt zum Zeitpunkt ET+15, die aufgrund einer anzunehmenden akuten Plazentainsuffizienz im Zusammenhang mit einem Geburtsstillstand zu einem nicht unerheblichen cerebralen Schaden des Kindes führte. Das Verfahren endete mit einem Vergleich.

 

Geburt

 

Rechtlich relevant wird die Erhebung der Anamnese auch bei Auffälligkeiten der Schwangeren bei Aufnahme zur Geburt. In einem Fall vor dem LG Wuppertal wurde gegenüber der Hebamme beispielsweise der Vorwurf erhoben, sie sei dem Hinweis der Schwangeren auf fehlende Kindsbewegungen nicht korrekt nachgegangen, indem sie bei der Aufnahme im Kreißsaal zwar eine normale CTG-Registrierung vorgenommen, auf eine zusätzliche Kineto-Kardiografie jedoch verzichtet habe, welche die kindlichen Bewegungen aufgezeichnet hätte. Daneben wurden von der Patient:innenseite noch etliche weitere Vorwürfe erhoben.

Hinsichtlich der fehlenden Kindsbewegungen konnte der Hebamme schon deswegen kein Fehler nachgewiesen werden, weil ihr in der konkreten Situation schlicht kein Kineto-CTG zur Verfügung stand und die Entscheidung über das weitere Vorgehen sodann von ärztlicher Seite übernommen worden war (LG Wuppertal, Az. 5 O 412/13, Urteil vom 5.11.2019; das Urteil ist nicht rechtskräftig, aktuell ist in diesem Fall die Berufung vor dem OLG Düsseldorf anhängig).

 

Wochenbett

 

Auch nach der Geburt bleibt die Erhebung der Anamnese aus rechtlicher Sicht bedeutsam. Immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen sind hier Problematiken im Zusammenhang mit einem Neugeborenenikterus im Wochenbett. Mit Blick auf die Anamnese wird in diesen Fällen gegenüber der Hebamme typischerweise der Vorwurf erhoben, bei der Abgrenzung eines physiologischen Ikterus zu einem behandlungsbedürftigen Ikterus den Verlauf nicht genau genug erfragt und somit einen bedrohlichen Krankheitszustand des Neugeborenen verkannt zu haben. In einem Fall in Landshut vermisste die Patient:innenseite beispielsweise Nachfragen der Hebamme zu möglichen Besonderheiten im Verhalten des Kindes, insbesondere zu dessen Trinkverhalten.

Ein Fall für die Justiz wurde diese Angelegenheit, weil sich bei dem Kind ein Kernikterus mit erheblicher Hirnschädigung entwickelt hatte und das Kind im Alter von zwei Jahren verstarb. Das Strafverfahren gegen die Hebamme wegen fahrlässiger Körperverletzung wurde nach Einspruch gegen einen Strafbefehl gegen Zahlung einer moderaten Geldauflage eingestellt (AG Landshut, Az. 06 DS 30 Js 29101/09). Darüber hinaus wurde im Zivilverfahren mit der Patient:innenseite ein Vergleich geschlossen, der die Zahlung einer Gesamtabfindung von 115.000 Euro vorsah (LG Landshut, Az. 41 O 2486/07).

 

Dokumentation und Weitergabe

 

Selbstverständlich muss die Hebamme die anamnestischen Informationen auch dokumentieren. Diese Verpflichtung ergibt sich unmittelbar aus § 630 f Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), wonach die Anamnese in der Patient:innenakte aufzuzeichnen ist (siehe Kasten).

§ 630 BGB

 

Dokumentation der Behandlung

 

(1) […]

(2) Der Behandelnde ist verpflichtet, in der Patientenakte sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen. Arztbriefe sind in die Patientenakte aufzunehmen.

(3) […]

 

Quelle: Bürgerliches Gesetzbuch

Erfährt eine Hebamme bei Erhebung der Anamnese, dass bei der vorangegangenen Geburt der Schwangeren eine Schulterdystokie aufgetreten war, muss sie dies beispielsweise im Geburtsjournal eintragen. Dies gilt auch dann, wenn diese Information bereits bekannt, aber nur im Mutterpass enthalten ist. Vor dem OLG Bamberg wurde ein Fall verhandelt, bei dem die Hebamme vergessen hatte, den Hinweis auf eine vorangegangene Schulterdystokie vom Mutterpass in das Geburtsjournal zu übertragen. Dies wurde vom Gericht zwar nicht als grober Fehler angesehen, da eine solche Unachtsamkeit in der Hektik des Alltags durchaus vorkommen könne. Problematisch war der fehlende Eintrag aber dennoch, weil dieser Eintrag seitens des beteiligten Arztes gegebenenfalls zum Anlass genommen worden wäre, die Schwangere über die alternative Möglichkeit einer Sectio aufzuklären.

Im Rahmen der vaginalen Geburt kam es nach unauffälliger Entwicklung des Kopfes zur Einklemmung der Schulter im Beckeneingang der Mutter. Infolge der Schulterdystokie erlitt das Kind eine komplette Armplexusparese links. Den Prozess gewann die Hebamme dennoch, weil die Patient:innenseite nicht nachweisen konnte, dass sie bei einem Hinweis auf eine vorangegangene Schulterdystokie im Geburtsjournal von einem Arzt tatsächlich über die Möglichkeit einer Sectio aufgeklärt worden wäre und sie sich dann auch für diese Alternative entschieden hätte (OLG Bamberg, Az. 4 U 61/04, Urteil vom 25.4.2005).

Mit einem möglichen Fehler in der Weitergabe einer anamnestischen Information durch die Hebamme musste sich auch das LG Memmingen beschäftigen. Konkret hatte es die Hebamme bei der abendlichen Übergabe des Neugeborenen an die Wochenstation angeblich versäumt, dem dort tätigen Pflegepersonal mitzuteilen, dass bei der Mutter ein Gestationsdiabetes vorgelegen hatte und beim Kind nun engmaschige Blutzuckermessungen veranlasst wären. Auf der Station fand daher keine Blutzuckermessung statt, am nächsten Morgen war das Neugeborene am Körperstamm blau und wurde mit einem extrem niedrigen Blutzuckerwert auf die Intensivstation verlegt.

Das Kind ist aufgrund der schweren Unterzuckerung schwerbehindert, es kann nicht richtig essen und hat öfter Krampfanfälle. Auch in diesem Fall wurde die Klage der Patient:innenseite gegen die Hebamme abgewiesen. Das Gericht argumentierte, es sei nicht nachgewiesen worden, dass der Hebamme wirklich ein Fehler in der Informationsweitergabe unterlaufen sei. Im Übrigen konnte sich das Gericht davon überzeugen, dass im Entbindungsbericht wörtlich der Hinweis »SS-Diabetes« enthalten war, die Wochenstation hierüber also immerhin durch die Patientenakte informiert wurde – die natürlich auf der Wochenstation auch zur Kenntnis hätte genommen werden müssen (LG Memmingen, Az. 23 O 1909/16, Urteil vom 4.2.2020). Die Entscheidung des LG Memmingen wurde bis jetzt jedoch nicht rechtskräftig. Aktuell ist in diesem Fall die Berufung vor dem OLG München (Zivilsenat Augsburg) anhängig.

 

Fehler in der nachgeburtlichen Kommunikation?

 

Ein mögliches Defizit in der Weitergabe einer anamnestischen Information von der Hebamme an die Wochenstation beschäftigt aktuell auch das LG Amberg. In dem zu entscheidenden Fall handelte es sich um ein gestresstes Neugeborenes mit Anpassungsproblemen, wobei diese Tatsache unterschätzt, jedenfalls von der Hebamme gegenüber dem Pflegepersonal bei der Übergabe des Kindes nicht hinreichend deutlich gemacht wurde. Das Kind wurde auf der Wochenstation daraufhin nicht hinreichend überwacht, kühlte auf 32,5° C Körpertemperatur ab und erlitt in der Folge einen schweren dauerhaften Schaden. Einzelheiten dieses Falls werden im laufenden Verfahren noch aufgeklärt (LG Amberg, Az. 22 O 1182/16). Feststehen dürfte aber, dass der tragische Verlauf einen Fehler in der nachgeburtlichen Kommunikation des Teams und Betreuung des Kindes nahelegt.

 

Frage der richtigen Einordnung

 

Insgesamt ist es nicht das fehlende Wissen über die Bedeutung der Anamnese, die zu Haftungsfällen und Streit vor Gericht führt. Gestritten werden vielmehr über die richtige Einordnung der anamnestischen Informationen und die Konsequenzen, die aus ihnen gezogen wird. Dabei wird von der Patient:innenseite häufig übersehen, dass anamnestische Informationen nicht immer eindeutig sind und auf verschiedenste Ursachen hinweisen können. Im Nachhinein fällt es leicht, Zusammenhänge zu erkennen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Diese Ex-post-Betrachtung kann aber nicht der Maßstab sein, daher sollten Behandlungsfehler in diesem Bereich nur mit Zurückhaltung angenommen werden.

Etwas anderes gilt selbstverständlich für die Fälle, bei denen die anamnestische Information und ihre medizinische Relevanz bekannt sind, diese aber in der Kommunikation nicht weitergegeben werden. Es gibt im Haftungsrecht keine Nachsicht für Fehler in der Informationsweitergabe, diese muss – bei allem Verständnis für den manchmal hektischen Arbeitsalltag – an allen Kommunikationsschnittstellen zuverlässig funktionieren.

Rubrik: , Recht | DHZ 04/2022