Leseprobe: DHZ 09/2014
Biochemie der Frauenmilch

Allheil- und Wundermittel

Wie Menschen und alle anderen Säugetiere ihre Nachkommen versorgen, ist ein Geniestreich der Natur: Muttermilch ist weit mehr als Nahrung und das Stillen bewirkt viel mehr als die reine Ernährung. Stillen moduliert das Immunsystem, das Herz-Kreislauf- und das Verdauungssystem sowie das Verhalten und die Hirnentwicklung. Erika Nehlsen,
  • Die Art der Brutpflege und Entwicklungsbedürfnisse der Nachkommen beeinflussen die Milchbildung.

Die Laktation ist ein Wunder der Natur. Das Prinzip ist so erfolgreich, dass eine ganze Klasse von Wirbeltieren danach benannt ist: die Säugetiere. Säugetiere gibt es seit 200 Millionen Jahren. Ihre Milch unterliegt einer konstanten Feinabstimmung an die Bedürfnisse der Nachkommen jeder Spezies. Milch ist ein erstaunliches Produkt der Evolution, das durch die natürliche Auslese stark beeinflusst worden ist, weil es für beide, Mutter und Kind, über-/lebenswichtig ist. Alles in der Milch geht zu Lasten des Körpers der Mutter, der eigenes Gewebe aufgibt, um die Milch bilden zu können. Die Mutter bekommt dafür durch das (längere) Stillen eine „Rückprogrammierung" ihres Körpers auf nicht schwanger, was sie vor einigen Zivilisationskrankheiten schützen kann. Aus der Perspektive des Säuglings gesehen, wird er in eine Welt voll aggressiver Mikroorganismen hineingeboren – und das mit einem unreifen Immunsystem und ohne die Salzsäure, die im Magen eines Erwachsenen Keime abtötet. Jeglicher Inhaltsstoff der Muttermilch, der den Säugling schützt, wird daher durch die natürliche Auslese bevorzugt.

 

Positive Effekte

 

Bedeutung der Muttermilch und des Stillens

  • Immunschutz des Neugeborenen
  • Aufbau der Mutter-Kind-Beziehung und Sozialentwicklung
  • Nährstoffversorgung des Nachkommen
  • Programmieren der Organfunktionen und Leitungsbahnen
  • Uterusinvolution post partum – Schutz der Mutter als Primärversorgerin
  • Kontrazeption („Laktationsamenorrhö ")
  • Erhaltung des „natürlichen Habitat": Das Baby sorgt durch die Verhinderung einer neuen Schwangerschaft dafür, dass seine Mutter Kraft, Nahrung (reichhaltige Muttermilch) und Zeit hat, sich länger um das Kleinkind zu kümmern, ohne die „Konkurrenz" durch ein weiteres Baby.
  • langfristige Risikominderung für „Zivilisationserkrankungen" und für einige Krebserkrankungen für Mutter und Kind.

 

„Functional Food"

 

Muttermilch ist auch „Functional Food" – ein funktionelles Lebensmittel: Alle Inhaltsstoffe haben spezielle Funktionen zur Unterstützung und Reifung der Organe und Systeme des Kindes. Sie werden bestens vom Körper des Kindes aufgenommen und verwertet. Das Stillen programmiert die Rahmenbedingungen für die optimale Entwicklung des kindlichen Stoffwechsels, die Anpassung und die Erhaltung der Gesundheit durch immunologische Kompetenzen, die spezifisch für uns Menschen sind.

Die Bestandteile in der Muttermilch stehen in Zusammenhang mit ihrer Bioaktivität, der Milchsynthese, der Leerung der Brust und möglichen Stillproblemen. Stillen steuert die Zusammensetzung der Muttermilch durch den Mund-Brust-Kontakt, die Häufigkeit und den Grad der Leerung (Hassiotou 2013). Ausschließliches Stillen führt zu einem höheren Anteil von Immunzellen in der Milch. Infektionen bei Mutter und Kind erhöhen die Immunzellen und andere Abwehrstoffe in der Milch. Ihren höchsten Zell- und Fettanteil erreicht Muttermilch 30 Minuten nach einer guten Leerung der Brust (siehe Abbildung 1/Hassiotou 2013). Die Leerung der Brust regt die Genexpression an, Zellen wandern vermehrt in die Milch und es wird mehr Fett in den Alveolarraum abgesondert.

So können dynamische Änderungen der Milchzusammensetzung bei der Milchsammlung für Frühgeborene oder kranke Neugeborene berücksichtigt werden. Mütter müssen ihre Milchbildung bereits in den ersten Lebenstagen des Kindes in Gang bringen, ungeachtet dessen, dass das Frühgeborene vielleicht anfangs nur geringe Milchmengen braucht. Die Mutter sollte etwa 750 Milliliter pro Tag gegen Ende der ersten Lebenswoche erreichen. Für das frühgeborene oder kranke Baby ist es wichtig, hochkalorische Milch mit vielen Immunzellen zu bekommen. Deshalb ist es sinnvoll, ein paar Mal am Tag 30 Minuten nach dem „üblichen" Pumpen noch mal einige Milliliter von Hand zu entleeren und speziell in ein kleines Gefäß, beispielsweise in eine sterile Spritze, zu geben und bevorzugt an das Baby zu verfüttern.

 

Jedem Säugetier seine Milch

 

Keine zwei Säugetierarten – zu denen auch die Menschen gehören – bilden die gleiche Milch. Bei jeder Spezies wird die Milchbildung durch die Umwelt, die Entwicklungsgeschichte, die Art der Brutpflege und die Entwicklungsbedürfnisse der Nachkommen beeinflusst (Oftedal 2012; Urashima 2012). Zur Umwelt gehören die Ernährung der Mutter, das Klima und die Ökologie des Lebensumfeldes. Alles wird verknüpft mit der Milchzusammensetzung und -menge. Verwandte Tierarten haben ähnliche Milchen, weil sie zum Teil gleiche Erbanlagen haben. Brutpflegeverhalten hat auch damit zu tun, wie oft das Baby gestillt wird. Jungtiere, die im Bau zurückbleiben, während das Muttertier zur Nahrungsaufnahme unterwegs ist, brauchen hochkalorische Milch, um diese Zeit zu überbrücken.

Die Funktionalität der Milch unterstützt die Entwicklung des Nachwuchses. Jungtiere, die schnell wachsen und mit der Herde ziehen, brauchen Eiweiß für den Aufbau von Muskeln. Jungtiere, die Fett ansetzen, wie beispielsweise Wale, die im Wasser leben, brauchen Fett. Und Nachkommen, die langsam wachsen, brauchen Kohlehydrate (Zucker) für ihre Verhaltensaktivitäten. Menschen wachsen am langsamsten von allen Säugetieren. Alle brauchen Mineralien, Vitamine, Immunfaktoren, Hormone und Wasser in der Milch. Und alle diese Komponenten sind bei den verschiedenen Spezies ebenfalls in unterschiedlichen Mengen in der Milch. Auf diese Art reflektiert die Milch die Entwicklungsprioritäten des Säuglings.

Bei vielen Säugetierarten gibt es unterschiedliche Entwicklungsverläufe und -geschwindigkeiten in Abhängigkeit vom Geschlecht. In der frühen Kindheit tragen Unterschiede in der Menge einzelner Inhaltsstoffe der Milch dazu bei. Neben Rotwild, Milchkühen und Affen gehören auch verschiedene Bevölkerungsgruppen von Menschen zu den Spezies, die geschlechtsabhängige Milch produzieren. Hier besteht noch Forschungsbedarf: Es scheint mit den Lebensumständen zusammen zu hängen. Bei guten Lebensumständen bekommen Jungen mehr Fett. Bei weniger guten Lebensumständen werden sie nicht bevorzugt. Da bekommen die Mädchen bessere Milch. Möglicherweise ist gleiche Milch für beide Geschlechter in anderen Bevölkerungsgruppen ein Hinweis auf eine ökonomische „Mittelstellung" für die Überlebenschancen. Mütter scheinen unbewusst eine Auslese zu treffen, wo die besseren Chancen liegen.

 

Wirkstoffcocktail Muttermilch

 

Mehr als 1.000 verschiedene Substanzen bilden in genau abgestimmter, aber wechselnder Konzentration die Basis der Muttermilch. Was macht die Milch für das Kind so wertvoll? Sie enthält Hunderte bioaktiver Faktoren – das sind Substanzen, die Stoffwechsel, Immunsystem, Entwicklung, IQ, Temperament und Sozialisierung des Säuglings beeinflussen. Dazu gehören unter anderem Hormone, Proteine, Enzyme, Kohlehydrate, Fettsäuren, Mineralien und Vitamine.

Hormone in der Muttermilch sorgen für ein laktokrines Programmieren permanenter Organfunktionen. Denn die Organentwicklung ist bei der Geburt nicht abgeschlossen. Sie geht in der unmittelbar folgenden Neonatalperiode weiter. So erlaubt die Plastizität der Organentwicklung eine Anpassung an die vorhandene Nahrung und stellt damit kurzfristig das Überleben auch bei suboptimalen Bedingungen sicher.

Es gibt nur wenige Studien zur Langzeit­entwicklung beim Menschen. Im Tiermodell zeigt sich aber als Reaktion auf eine geänderte Ernährung in der frühen Neonatalperiode eine metabolische Fehlprogrammierung lebenswichtiger Regulierungen. Hier existiert ein Zeitfenster mit besonderer Verletzlichkeit der permanenten metabolischen Programmierung von Appetit- und Wachstumsdynamiken sowie Regelkreisen im Hirn und bezüglich der Organfunktionen. Eine Fehlprogrammierung in den ersten sechs Lebensmonaten kann zur Entwicklung von Erkrankungen in einem früheren Lebensalter als bei gestillten Kindern mit stärkerem Ausmaß führen.

Die Programmierung hierzu erfolgt bereits in utero. Deshalb sollte eine Gabe von Glucocorticoiden an Schwangere und Neugeborene möglichst vermieden werden. Auch die peripartalen Umweltfaktoren wirken sich hier aus. So steigt bei einer übergewichtigen, diabetischen Mutter das kindliche Risiko für Herz-Kreislaufprobleme, Metabolisches Syndrom oder kognitive Dysfunktion. Diese Programmierung kann allerdings postnatal durch Stillen und ein dadurch beeinflusstes Verhalten der Mutter modifiziert werden! Muttermilch programmiert die HPA-Achse (Hypothalamus-. Hypophysen-. Nebennierenrinden-Achse) und somit die Stressreaktionen für das weitere Leben.

Muttermilch beeinflusst die Gen-expression und mildert eine intrauterine schädliche Veranlagung (Clancy et al. 2012). Hassiotou et al. 2013; Oftedal 2012; Urashima et al. 2012) Die Theorie der Entwicklungsprogrammierung basiert auf Beobachtungen, dass Umweltbedingungen während kritischer Zeitfenster permanenten Einfluss auf Physiologie, Stoffwechselfunktionen und Verhalten haben. Das Gehirn ist wahrscheinlich besonders sensibel für nahrungsabhängige Programmierung, besonders in der frühen Kindheit, wenn Aufbau und Reifung der neuronalen Leitungsbahnen stattfinden.

Etliche Ergebnisse aus der Forschung weisen beispielsweise auf eine bedeutende Rolle des Leptins bei der frühen Hirnentwicklung hin. Es beeinflusst die Etablierung und Verknüpfung der Regelkreise für den Energiehaushalt des Körpers in Hypothalamus und Hirnstamm (Bouret 2006, Fields 2012 Miralles 2006, Schueler 2013, Schuster 2011, Yarandi 2011). Dort werden die Signale des Körpers in Bezug auf die Körperenergielage verarbeitet. Daneben werden spezifische und gut koordinierte physiologische Reaktionen zur Regelung der Energiebalance durch Anpassung von Hunger und Energieaufwand gesteuert.

Der Stillvorgang selbst ist wahrscheinlich ebenfalls wichtig für die neurophysiologische Entwicklung. Stillen ist variationsreicher in der Körperposition und den Bewegungsabläufen als Flaschenernährung. Vor allem bietet Stillen mehr Zuwendung und Körperkontakt. Das Kind ist beim Stillen der aktive Partner, der aufgrund seiner Bedürfnisse Häufigkeit, Dauer und Menge der Mahlzeiten bestimmt.

 

Über die „Milchstraße"

 

Gestillte Kinder nehmen in den ersten zwei Lebensjahren langsamer zu. Das Stillen trägt damit zu normaler Gewichtsentwicklung bei, senkt das Adipositasrisiko und erhöht die Lebenserwartung.

Adiponectin, Leptin, Resistin, Ghrelin und IGF I (Insulin-ähnlicher Wachstumsfaktor I) regeln den Metabolismus und sind, anders als in Formulanahrung, auch in Muttermilch enthalten. Sie wirken direkt im Magen-Darm-Trakt, aber auch bei der Entstehung von Regelkreisen im Gehirn (Bouret 2006; Fields 2013):

  • Appetitkontrollfaktoren beeinflussen physiologische Prozesse wie zum Beispiel Entwicklung des Hypothalamus und Magenleerung
  • Die Art der Ernährung hat Auswirkungen auf die Appetitregulation:
    • Wachstum und Reifung des Darmes werden gefördert, Appetitsig­nale aus den Darmzellen werden an das Gehirn geleitet.
    • Aufnahme der Milchmenge: Das Baby trinkt nur an der Brust, bis es satt ist (durchschnittlich 67 Prozent der vorhandenen Milchmenge), auch wenn mehr Milch als gewöhnlich da ist.
    • Muttermilch in der Flasche hebelt diese Steuerung aus, führt zu größeren Einzelmahlzeiten und geringerer Appetitkontrolle (Disantis 2011, Li 2008, 2012).
    • Künstliche Säuglingsnahrung führt zu anderen Signalen aus dem Darm des Kindes und beeinflusst so auch die Appetit- und Sättigungssteuerung.
    • Stillen nach Bedarf führt zu besserer Appetitkontrolle des Kindes (Brown 2011, 2012; Disantis 2013).
  • Adiponectin (mit im Darm des Babys befindlichen Rezeptoren dafür)
    • wirkt entzündungshemmend
    • spaltet Fette
    • regelt Metabolismus und BMI, senkt das Gewicht
    • verbessert die Insulinreaktion.
  • Ghrelin und GHS
    • stimulieren die Freigabe von Wachstumshormonen
    • regen Magenmotilität und Gastrinfreisetzung an
    • steuern Hypophyse sowie Hypothalamussysteme zur Appetitkontrolle.
  • Leptin
    • ist in eine ganze Reihe physiologischer Prozesse involviert (neuroendokrines System, Stoffwechsel, Immunsystem)
    • unterdrückt die Hypothalamusreaktion auf GHS (Growth Hormone Secretagogue ) und fördert Hirnwachstum und -entwicklung
    • führt zu einer guten Wachstumsentwicklung der Axone und Verknüpfung der Gehirnzellen
    • löst Sättigungsgefühl aus
    • erhöht die Insulinsensibilität (reduziert Insulinresistenz)
    • beeinflusst die Nahrungswahl zugunsten von Kohlehydraten anstatt Fett
    • Mäuse mit Leptinmangel haben ein kleineres Gehirn (Savino 2005, 2009; Weyerman 2007; Yarandi 2011).

Die Liste der Appetitkontrollfaktoren in der Muttermilch nimmt zu. In den nächsten Jahren sind sicher noch weitere Erkenntnisse zu erwarten.

 

Fette haben viele „Jobs"

 

Fette stellen über 50 Prozent der Kalorien in der Muttermilch. Bevor sie als Nahrung genutzt werden, haben sie etliche „Jobs" zu erledigen. Langkettige, mehrfach ungesättigte Fettsäuren sind wichtig für die Hirnentwicklung. Andere Fette bieten wahrscheinlich einen Schutz vor späteren Herz-Kreislauf­erkrankungen. Fette stabilisieren die Zellmembran und tragen so zur Allergieprophylaxe bei:

  • Muttermilch reflektiert überwiegend die Fette der mütterlichen Nahrung, stellt Arachidonsäure (AA), Eicosapentaensäure (EPA) und Docosahexaensäure (DHA) zur Verfügung
  • Omega-3 Fettsäuren sind wichtig für die Entwicklung des ZNS, im Nervengewebe sind hohe DHA Spiegel
  • die Fette in der Muttermilch sind abhängig von der Ernährung der Mutter
    • Omega-3 Fette, wichtig für die Entwicklung des ZNS, kann das Kind noch nicht ausreichend selbst synthetisieren. Sie befinden sich zum Beispiel in Fisch, Distelöl und Rapsöl
    • DHA-Supplementation stillender Mütter erhöht DHA in der Muttermilch und in den kindlichen Phospholipiden im Plasma
    • Omega-6-Fette werden mit Wachstum und gesunder Haut in Verbindung gebracht
    • Muttermilch enthält Cholesterin, das für Nervenzellen im wachsenden Gehirn gebraucht wird.
  • Fette der Muttermilch sind von Bedeutung für die Myelinisierung der Nervenzellen, diese wiederum
    • verbessert die Leitungsgeschwindigkeit der Nervenbahnen im Hirn
    • Muttermilch ist reich an Sphingomyelin (> 30 Prozent der Phospholipide). Dies ist ein Teil der Phospholipide und befindet sich in der doppelten Randschicht der Muttermilchfettglobuli. Dieses wiederum fördert die postpartale neuronale Entwicklung und beschleunigt die Reizleitung
    • je mehr vorhanden ist, umso besser in der Regel die Entwicklung.
  • Fette sind Träger der Vitamine A, D, E, K
  • Geschlecht, Genotyp und Schwangerschaftsdauer beeinflussen die Aufnahme der Milchfette (Argov 2008; Argov-Argaman 2010; Caspi 2007; Lopez 2010; Michalski 2005).

 

Zuckerfettverbindungen

 

Ganglioside in der Muttermilch sind viele verschiedene multifunktionale Zuckerfettverbindungen, zusammengesetzt aus Sphingolipiden und Oligosacchariden (Iwamori 2008; Lee 2014; McJarrow 2009; Rueda 2007; Wang 2003). Sie überstehen zu 80 Prozent den kindlichen Verdauungsprozess. Ganglioside

  • imitieren Bindungsstellen für viele verschiedene Pathogene und inaktivieren sie
  • erhöhen die Anzahl der Immunzellen im kindlichen Darm, die sIgA (sekretorisches Immunglobulin A) bilden
  • verstärken die Bildung von Cytokinen, die die humorale und zelluläre Immunität (T-Zellen) verstärken
  • unterstützen eine gesündere Darmflora, indem sie E. coli-Bakterien vermindern und Bifidobakterien vermehren
  • sind Baustoff für Hirn und andere Gewebe
  • Schlüsselrolle bei Myelinisierung, Nervenzellkommunikation, Gedächtnisaufbau, kognitiver Leistung
  • Flaschenkinder haben weniger Ganglioside im Hirn, speziell im frontalen Cortex.

 

Mehr Laktose, höhere Intelligenz

 

Laktose ist reichlich in der Muttermilch vorhanden. Sie wird zu Galaktose und Glukose aufgespalten. Galaktose ist ein wichtiger Baustein für das Hirngewebe. Aus vergleichenden Untersuchungen weiß man, dass Tiere mit mehr Laktose in der Milch zu den intelligenteren Arten gehören. Auch Taurin, eine Aminosäure der Muttermilch, wird für den Hirnaufbau benötigt. Galactocerebroside – mit einer Galaktose-Sphingomyelin-Bindung – sind Aufbau- und Reifungsstoffe für das kindliche Gehirn.

Babys nehmen mit jedem Schluck Muttermilch etliche hundert Milligramm Humanmilch Oligosaccharide (HMO) auf. Einige von ihnen findet man intakt oder als Metaboliten im Urin der Babys wieder. Daher haben sie das Potenzial, nicht nur im Verdauungstrakt, sondern auch systemisch zu wirken (Wang et al. 2003; Gurnida et al. 2012; Iwamori et al. 2008; Lee et al. 2014, McJarrow et al. 2009; Rueda 2007; Wang 2009).

Muttermilch beeinflusst das Temperament des Babys (Glynn 2007; Grey 2013, Hinde 2013). Durch das laktokrine Programmieren gehen die Hormone (Cortisol) der Milch intakt an Bindungsstellen im Körper des Kindes. Sie beeinflussen dort physiologische Prozesse wie Fetteinlagerung, Kalorienbereitstellung und auch die Laune. Cortisol wird im circadianen Rhythmus freigesetzt und ist so auch zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Mengen in der Milch. Zum Beispiel wird morgens zum Wachwerden mehr Cortisol freigesetzt. Nach dem Abstillen verschwindet ein Teil der Bindungsstellen für Glucocorticoide wieder aus dem Darm des Kindes.

Ein steigender Cortisolspiegel in der Muttermilch dämpft bei weiblichen Babys das Wohlbefinden: Mädchen werden dadurch ängstlich, traurig, unzufrieden und sind mitunter kaum zu trösten. Das geschieht bei Jungen nicht. Ein erhöhter Cortisolspiegel in der Milch steuert die Persönlichkeitsentwicklung bei Ratten durch modifizierte Hirnstrukturen, wie Tierversuche gezeigt haben. Als Jungtiere haben diese Ratten ein besseres räumliches Gedächtnis. Als ausgewachsene Tiere können sie besser auf Stress reagieren, haben weniger Angst, und erkunden ihre Umwelt besser

 

Muttermilch als Taktgeber

 

Muttermilch als synchronisierender Taktgeber für Neugeborene enthält bioaktive Stoffe mit chronobiotischen Eigenschaften in unterschiedlichen Mengen, abhängig von der Tageszeit. Sie sorgt damit für eine bessere Sozialisation und Schlafverhalten des Kindes durch die Nucleotide 5‘-Adenosinmonophosphat, 5‘-Guanosinmonophosphat, 5‘-Uridinmonophosphat (5‘AMP, 5‘GMP, 5´UMP). Die Organisation der Schlafstadien und des Schlafmusters gelingt besser.

Muttermilch als Taktgeber ist auch essenziell für die Entwicklung und Plastizität des Gehirns. Die Etablierung circadianer Rhythmen geschieht durch Inhaltsstoffe der Muttermilch, die Schlaf fördern: Die Spiegel von Melatonin, Tryptophan, Vitamin B12, 5‘AMP, 5‘GMP, 5‘UMP sind nachts erhöht. Die Spiegel von 5‘Cytidinmonophosphat, 5‘Inosinmonophosphat (5‘CMP, 5‘IMP) sind dagegen tagsüber erhöht (Arslanoglu et al. 2011; Cubero et al. 2005; Sánchez et al. 2009).

Bei reifen Kindern etabliert sich zwischen dem ersten und vierten Lebensmonat ein regelmäßiges circadianes Schlafmuster. Bei Frühgeborenen, die Tag und Nacht Pflegehandlungen über sich ergehen lassen müssen, kann es sehr viel länger dauern. Der Schlaf sollte respektiert und geschützt werden.

Die Unterstützung des Schlafmusters ist ein gutes Beispiel für die Förderung der Sozialentwicklung durch Stillen. Nächtliches Stillen stört kaum, wenn Mutter und Kind gleich weiter schlafen können.

 

Das Alpha-Laktalbumin

 

Alpha-Laktalbumin gehört zu den Hauptmolkeneiweißen der Muttermilch. HAMLET ist die Abkürzung für Human Alpha-lactalbium made Lethal to Tumor cells Das Alpha-Laktalbumin ist eines der Haupteiweiße der Muttermilch. Es ist ein Prion-Protein, ein Glykoprotein, das seine Molekularstruktur ändern kann. Dann erkennt und vernichtet es Krebszellen.

Man wusste schon lange, dass gestillte Kinder seltener an Krebserkrankungen leiden, statistisch besonders deutlich bei Leukämien und Lymphomen zu sehen. HAMLET könnte neben dem Laktoferrin einer der Gründe dafür sein.

  • HAMLET geht in das Zytoplasma der einzelnen Körperzellen
  • Krebszellen werden zerstört, indem es in den Zellkern eindringt und die DNA aufspaltet
  • auf die gleiche Art zerstört HAMLET Bakterien und Papillomaviren
  • wenn HAMLET zusammen mit Antibiotika (Penicillin, Macrolide, Aminoglycoside) zur Wirkung kommt, erhöht es die Empfindlichkeit der Bakterien auf Antibiotika, sogar bei Antibiotika-resistenten Bakterien wie MRSA (Marks et al. 2012, 2013). Dies ist besonders wichtig für Frühgeborene und kranke Neugeborene, die unter Infektionen mit resistenten Keimen leiden.

Mehr als 40 Tumor-Zelllinien reagieren auf HAMLET, indem sie absterben. Dazu gehören Krebszellen

  • der Atemwege (Lungen, Bronchien, Kehlkopf)
  • des Gastrointestinaltraktes (Magen, Dünn- und Dickdarm)
  • der Harnwege (Niere, Blase)
  • der Leber und des Pankreas
  • der Brust
  • Ovarien und Prostata
  • Leukämiezellen und
  • unreife Zellen.

Einige Zellen sind gegen HAMLET resistent, zum Beispiel Zellen gesunder Organe und reife weiße Blutkörperchen (Granulozyten).

Die ForscherInnen nehmen an, dass HAMLET dem Baby hilft, Wachstum und Entwicklung der Darmschleimhaut zu regulieren. Bei der starken Mitose der Darmzellen und des umliegenden lymphatischen Gewebes in den ersten Lebensmonaten im Zuge der Darmreifung besteht die Möglichkeit, dass einige Zellen übereifrig werden und mit der Zellteilung nicht mehr aufhören. HAMLET würde diese Zellen gezielt erkennen und eliminieren, bevor sie entarten. Dabei werden Zelltodwege aktiviert, die mit Medikamenten nicht zu erreichen sind.

Rubrik: 1. Lebensjahr | DHZ 09/2014

Hinweis

Die vollständige Literaturliste kann in der Redaktion angefordert werden.

Literatur

Argov, N.; Wachsmann-Hogiu, S.; Freeman, S.L.; Huser, T.; Lebrilla, C.B.; German, J.B.: Size-dependent lipid content in human milk fat globules. J Agric Food Chem. Aug 27; 56(16): 7446–50. Epub Jul 26 (2008)

Arslanoglu, S.; Bertino, E.; Nicocia, M.; Moro, G.E.: WAPM Working Group on Nutrition: potential chronobiotic role of human milk in sleep regulation. J Perinat Med. Jan; 40(1):–8. Review (2011)

Bouret, S.G.; Simerly, R.B.: Developmental programming of hypothalamic feeding circuits. Clin Genet 70: 295–301 (2006)
»