Leseprobe: DHZ 02/2022

Autonom arbeiten im Hebammenkreißsaal

Der Hebammenkreißsaal bietet eine hohe Versorgungsqualität und ein gutes Outcome, zufriedenstellende Arbeitsplätze und einen guten Lernort für Hebammen und andere geburtshilfliche Fachberufe. Es wird Zeit, ihn in Deutschland flächendeckend zu etablieren. Andrea Ramsell,
  • In Deutschland gibt es weder einen festen Personalschlüssel für Kreißsäle noch ein ausreichendes Personalbemessungsinstrument.

Im Netzwerk Hebammenkreißsaal des Deutschen Hebammenverbands (DHV) sind 25 Hebammenkreißsäle organisiert. Sie haben das Konzept Hebammenkreißsaal (HKS) umgesetzt. Das Netzwerk dient als Austausch zwischen den Kolleg:innen und zur Weiterentwicklung gemeinsamer Kriterien. Es tut gut, sich über Erfahrungen, Schwierigkeiten und Erfolge auszutauschen. Deutlich wird dabei, dass der Rahmen des Hebammenkreißsaals zwar durch die Berufsordnungen und verschiedene klinische Leitlinien festgelegt ist, die individuelle Praxis in den Häusern sich aber trotzdem unterscheidet. Zum Beispiel wird in einigen Häusern der gesamte klinische Betreuungsbogen angeboten: von der Geburtsanmeldung über die Geburtsbegleitung bis zur Wochenbettbetreuung ausschließlich durch die Hebamme. In anderen Häusern ist das Betreuungsangebot auf Schwangerschaft und Geburt beschränkt und das Wochenbettangebot fällt weg. Der Schwerpunkt eines jeden Hebammenkreißsaals liegt auf der physiologischen Betrachtung von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett mit der Frau als Souverän ihrer Geburtsgeschichte.

 

Der Kriterienkatalog

 

Um hebammengeleitete Geburtshilfe im Hebammenkreißsaal anzubieten, orientiert sich der Kriterienkatalog an folgenden Rahmenbedingungen:

  • Hebammengesetz
  • landesspezifische Hebammenberufsordnung
  • Kriterien der klinischen Versorgungsstufe
  • aktuelle relevante Leitlinien
  • Expert:innenstandard.

Auf dieser Basis wird ein hausinterner Kriterienkatalog entwickelt und laufend angepasst. Aktuell erarbeitet das Netzwerk Hebammenkreißsaal einen gemeinsamen Kriterienkatalog, der als Arbeitsgrundlage genutzt und weiterentwickelt wird. Er dient als Grundlage für die Weiterentwicklung des Konzepts Hebammenkreißsaal und als Orientierung für neue Mitglieder im Netzwerk. Das Nationale Gesundheitsziel rund um die Geburt formuliert als Teilziel die Förderung der interventionsarmen Geburt. (NGZ, S. 42). Hier heißt es wörtlich: »Das Modell der hebammengeleiteten Geburtshilfe mit dem Konzept frauenzentrierte Betreuung und Betreuungsprinzipien wie Kontinuität, partnerschaftliche Betreuung und Einbezug in Entscheidungen begünstigt die Gesundheitsförderung auf verschiedenen Ebenen« (Bundesministerium für Gesundheit 2017, S. 40).

Um das Gesundheitsziel in den einzelnen Ländern umzusetzen, wurden interprofessionelle Runde Tische eingesetzt, die zu unterschiedlichen Schwerpunkten arbeiten. Unter anderem wird die Förderung von Hebammenkreißsälen diskutiert und in einigen Ländern aktiv vorangebracht. Im Rahmen der Umsetzung in den nächsten Jahren ist davon auszugehen, dass der Hebammenkreißsaal als etabliertes Konzept durch gezielte Förderung der Länder unterstützt wird. Als Beispiel sind Sachsen und Nordrhein-Westfahlen zu nennen: Sachsen hat in Halle die Implementierung von zwei Hebammenkreißsälen erfolgreich gefördert und realisiert. Nordrhein-Westfahlen hat die GEscHIcK-Studie unterstützt und stellt landesweit Fördermittel für die Umsetzung des Hebammenkreißsaals zur Verfügung (Geburt im hebammengeleiteten Kreißsaal/GEscHIcK 2020).

 

Kollegialer Austausch

 

Hebammen profitieren von einer Vertiefung und Erweiterung ihres Tätigkeitsfeldes und ihrer Fähigkeiten. In der Implementierungsphase gibt es Pflichtfortbildungen für das gesamte geburtshilfliche Team, beispielsweise zum Expert:innenstandard physiologische Geburt, zur Nahttechnik, zu alternativen Gebärhaltungen und zur Kommunikation in der Beratung. Dies erweitert die individuellen Fähigkeiten der Hebammen, kommt aber auch dem ganzen Team und jeder Geburtsbetreuung zugute – ob im hebammen- oder ärztlich geleiteten Kreißsaal.

Der Hebammenkreißsaal regt die Kommunikation im Team an. Dadurch, dass die Geburtsbegleitung zumindest in der aktiven Phase von zwei Hebammen begleitet wird, lernt man im Team vonein­ander. Dies ist für einige Kolleginnen erstmal eine Hürde, die es zu überwinden gilt. Wir sind es gewohnt, allein oder mit ärztlicher Unterstützung zu arbeiten, und der kollegiale Austausch in enger Zusammenarbeit untereinander ist häufig erstmal ungewohnt. Kolleg:innen, die im Konzept HKS arbeiten, berichten, dass sie die Zusammenarbeit im Team sehr schätzen und als bereichernd empfinden, nachdem die ersten Hemmungen bei gemeinsamen Begleitungen überwunden sind.

Im Rahmen der engeren Zusammenarbeit werden Kommunikations- und vor allem Feedback-Regeln aufgestellt, die eine verstärkte Reflexion der betreuten Geburten und der Fälle ermöglichen. Diese strukturiertere Kommunikation über Betreuungsansätze und Therapien intensiviert den Austausch im gesamten Team und trägt zu einer hohen Qualität und einer erhöhten Sicherheit bei. Die Kommunikation zwischen Ärzt:innen, Hebammen und anderen Professionen intensiviert sich durch die Abgrenzung der Physiologie und Pathologie in der Geburtsbetreuung . Dafür sorgt auch der Kriterienkatalog des HKS, der regelmäßig gemeinsam angeschaut und überarbeitet werden muss.

 

Kein fester Personalschlüssel

 

Es gibt in Deutschland keine festen Personalschlüssel für die Kreißsäle und auch kein ausreichend entwickeltes Personalbemessungsinstrument. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hat 1989 auf Basis von zwei Kreißsälen einen Minutenwert von 946 für die Geburtsbetreuung erhoben. Die ambulanten Leistungen der klinischen Betreuung sind nicht eingeschlossen. Außerdem ist die Berechnung dieses Wertes über 30 Jahre her und damit veraltet. Trotzdem wurde er in der Leitlinie »perinatologische Versorgung« als Grundlage der Personalbemessung im Kreißsaal gewählt. Auf diese Grundlage und auf die S1-Leitlinie wurde in der Vergangenheit immer wieder Bezug genommen, wenn es um die personelle Ausstattung des Kreißsaals geht.

Auf dieser Basis ist auch die Empfehlung der mittlerweile überholten S1-Leitlinie »perinatologische Versorgung« von 109 Geburten pro Vollzeitkraft Hebamme pro Jahr entstanden. Ebenso hat sich das IGES-Gutachten des Bundesgesundheitsministeriums 2019 darauf bezogen, das die Situation der stationären Hebammenversorgung untersucht hat. Die Ausgangsminutenzahl ist fehlerbehaftet: Ambulante Versorgung durch den Kreißsaal ist nicht einberechnet, Krankheits- und Fortbildungstage auch nicht. Somit ist diese Grundlage für eine Personalbemessung gänzlich ungeeignet. Erstaunlich ist, dass immer wieder eine Leitlinie zitiert wird und wurde, deren Evidenzgrad niedrig ist und die sich thematisch nicht ausdrücklich mit Hebammenbetreuung oder Personalberechnung beschäftigt, sondern primär mit einem neonatologischen Thema.

Der DHV hat 2020 eine Grafik zur Personalbemessung veröffentlicht (siehe Grafik). Sie unterstreicht, dass die Personalbemessung klinikindividuell ausgerechnet werden und die Gesamtstruktur des Kreißsaals in die Berechnung einfließen muss. Die Häuser unterscheiden sich in den angebotenen Leistungen und dem unterschiedlichen Zeitaufwand, der damit verbunden sind. Zum Beispiel macht es einen Unterschied, ob eine Frau mit einem Kind in Beckenendlage sofort bei der Aufnahme mit Wehentätigkeit sectioniert wird, oder ob ein Spontanpartus angestrebt und ermöglicht wird. Hier ist der Unterschied in der aufgewendeten Betreuungszeit durch die Hebamme erheblich. Die ambulanten Fallzahlen, der Fallmix insgesamt und die äußeren Faktoren in den einzelnen Häusern sind derart unterschiedlich, dass es keine andere Empfehlung als eine individuelle Betrachtung geben kann.

Da es keine allgemeingültige Personalberechnung im Kreißsaal gibt, muss sie für den Hebammenkreißsaal auch klinikindividuell erfolgen und kann nicht standardisiert sein. In der Praxis wird häufig eine Rufbereitschaft für den Hebammenkreißsaal eingerichtet. Das ist nicht wünschenswert, weil es die Hebamme erheblich in ihrer Erholungszeit einschränkt, auch wenn sie nicht gerufen wird. Sie muss sich in einem engen Radius um ihren Arbeitsort bewegen und die Rufbereitschaft schränkt ihre Freizeitgestaltung und Erholung stark ein. Wie für die gesamte Kreißsaal-Personalbemessung müssen auch im Hebammenkreißsaal neue Grundlagen und Instrumente gefunden werden, um eine gute Personalausstattung zu gewährleisten, die nicht auf Kosten der Personalgesundheit und nicht auf Kosten der Versorgungsqualität gehen darf.

 

Ausbildungs- und Forschungsstätte

 

Der Hebammenkreißsaal bietet einen guten Lernort für die Hebammenausbildung. Durch seinen Fokus auf die Geburtsphysiologie und die originäre Hebammentätigkeit können die Auszubildenden den Geburtsvorgang gut beobachten und die Geburtsbegleitung alleinig durch die Hebamme kennenlernen. Im HKS übernehmen die Auszubildenden in der Regel keine Arbeitsaufgaben. Durch diese passive Rolle haben sie die Möglichkeit, am Beispiel der ausgebildeten Hebamme durch Beobachtung zu lernen und anschließend die Begleitung und Methodik zu reflektieren.

Der Hebammenkreißsaal eignet sich als Ausbildungsstätte für Gynäkolog:innen und Neonatolog:innen, um primär physiologische Geburtsabläufe kennenzulernen. Gerade die beiden letztgenannten Berufsgruppen haben häufig das Problem, Geburt vor allem als Pathologie zu erleben. Das kann durch eine intensive Kenntnis physiologischer Geburtsabläufe relativiert werden. Die Student:innen oder Schüler:innen dürfen grundsätzlich nicht auf den Stellenplan angerechnet werden.

Die hebammengeleitete Geburt in der Klinik ist in Deutschland intensiv beforscht worden. Dies Studien zeigen sehr gute Ergebnisse beim Outcome von Mutter und Kind und in der Zufriedenheit der betreuten Frauen (Merz et al. 2020).

Die Hebammenforschung wird durch die Akademisierung weiter an Bedeutung gewinnen. Der Hebammenkreißsaal eignet sich sehr gut dafür, Studien durchzuführen und unterschiedliche klinische Settings aus Hebammenperspektive wissenschaftlich zu untersuchen. Wir benötigen dringend nationale Studien, die die Hebammenarbeit stärker in den Fokus nehmen, um unsere professionelle Identität in der Klinik zu schärfen. Als Forschungsstätte zur physiologischen Geburt ist der HKS nicht wegzudenken.

 

Die Verlegungsrate

 

Der Hebammenkreißsaal ist ein Betreuungsangebot, das die Wahlfreiheit der Gebärenden erweitert. Die Zufriedenheit und die Akzeptanz der Nutzerinnen dieses Modells ist enorm hoch, selbst wenn eine Überleitung während der Geburt in den Facharztstandard erfolgt. Wenn wir das Recht auf freie Wahl des Geburtsorts und die Zufriedenheit der Gebärenden als Maßstab wählen, dann muss der Hebammenkreißsaal Teil des geburtshilflichen Angebots sein. Das bedeutet keinesfalls, dass er die einzige Alternative zum konventionellen geburtshilflichen Standard sein sollte.

Die hohe Verlegungs- und Überleitungsrate aus dem Hebammenkreißsaal wird häufig als Gegenargument für das Konzept angeführt. Auch in England ist die Verlegungsrate aus hebammengeleiteten Geburtsabteilungen hoch, trotzdem wird das Angebot an sich dadurch nicht infrage gestellt. International wird die hohe Überleitungsrate in Deutschland positiv mit einem sicherem Arbeitsstandard assoziiert. In Befragungen zur Zufriedenheit mit dem Konzept führen Frauen eine hohe Zufriedenheit an, unabhängig ob eine Überleitung erfolgte oder die Geburt im Hebammenkreißsaal stattfand. Qualitätskriterium sollten die Zufriedenheit und die Wahlfreiheit der Frauen und Familien sein.

In England ist die Anzahl der Geburten in hebammengeleiteten Abteilungen von Kliniken um zwei Drittel gestiegen, von 5 % im Jahr 2010 auf 15 % im Jahr 2019 (Walsh 2018). Auch dort liegt die Überleitungsrate bei rund 30 %, allerdings ist der entscheidende Parameter die Zufriedenheit der Frauen und die garantierte Wahlfreiheit zwischen verschiedenen geburtshilflichen Angeboten.

 

Zeit, Personal und Überzeugung

 

Die Implementierung von hebammengeleiteter Geburtshilfe braucht Zeit, Personal, Überzeugung und den ausdrücklichen Willen aller Beteiligten, zusammen zu arbeiten und voneinander zu lernen. Die Einführung eines Hebammenkreißsaals funktioniert dann, wenn alle Berufsgruppen die Idee akzeptieren und ihre Bedenken und Einwände dazu gehört werden. Das gilt sowohl für Ärzt:innen und Geschäftsführung als auch für die Hebammen.

Der DHV unterstützt die Umsetzung des Hebammenkreißsaals durch die Vermittlung und Beratung von Expert:innen im Konzept Hebammenkreißsaal. Das Interesse ist sehr groß, das zeigen die Teilnehmer:innenzahlen an den Informationsveranstaltungen »Hebammenkreißsaal – wie geht das?« Die Erfahrung zeigt, dass die praktische Umsetzung Unterstützung braucht. Im Internet stellt der DHV einen Projektplan und die Anleitung für einen Kriterienkatalog zur Verfügung: > www.hebammenverband.de – Mitgliederbereich

 

Große Selbstwirksamkeit

 

Hebammen arbeiten gern im Konzept Hebammenkreißsaal und sind dort als Arbeitnehmer:innen in einem klinischen Setting sehr zufrieden. Diese Tatsache ist für die Klinik als Arbeitgeber ein wichtiges Tool zur Personalgewinnung und -bindung. Die Selbstwirksamkeit in der Arbeit ist groß und die Hebammentätigkeit kann in ihrer Vielfältigkeit ausgeübt werden.

In der Diskussion mit europäischen Kolleg:innen und auch im Austausch mit dem europäischen Netzwerk Alongside Midwifery Units (AMU) wird die Frage, warum es in Deutschland nur wenig hebammengeleitete klinische Versorgungsangebote gibt, häufig gestellt. Eine mögliche Antwort darauf ist unsere Geschichte: Deutschland zeichnet sich durch ein ärztlich dominiertes und stark hierarchisches Gesundheitssystem aus. Die Professionalisierung und Akademisierung ist im medizinischen Bereich, außer bei den Ärzt:innen, in jeder anderen Profession in Entwicklung begriffen. Ärzt:innen sind seit vielen hundert Jahren etabliert. Eine akademische Emanzipation anderer medizinischer Fachberufe oder der Gesundheits- und Krankenpflege hat aber erst vor wenigen Jahren etwas Fahrt aufgenommen.

Deshalb ist es im deutschen System schwierig, autonome hebammengeleitete Geburtshilfe im klinischen Setting unterzubringen. Obwohl die vorhandenen Evidenzen aus hebammengeleiteten Abteilungen und Hebammenkreißsälen klar dafür sprechen, stehen die arztgeleitete etablierte Geschichte und unsere klinische Tradition dagegen. Im historischen und kulturellen Kontext erklärt sich das fehlende hebammengeleitete Angebot in der Klinik. Wir werden weiterhin Pionier:innen brauchen, die andere klinische Strukturen etablieren. Der Impuls muss hier sowohl von den Ärtzt:innen und Hebammen als auch von den Eltern kommen.

Rubrik: Geburt | DHZ 02/2022

Literatur

Bundesministerium für Gesundheit: Nationales Gesundheitsziel Gesundheit rund um die Geburt 2017. www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/Nationales_Gesundheitsziel_Gesundheit_rund_um_ die_Geburt.pdf

Geburt im hebammengeleiteten Kreißsaal (GEscHIcK) 2020. www.lzg.nrw.de/versorgung/vers_strukt/projekte/geschick/index.html

Merz WM et al.: Bestandsaufnahme der Hebammenkreißsäle in Nordrhein-Westfalen und Annäherung an ein »Best Practice« Modell hebammengeleiteter Kreißsaal. GEscHIcK. Universitätsklinikum Bonn 2020. www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/hebammenkreisssaal_abschlussbericht.pdf
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