Leseprobe: DHZ 12/2016
Die Stimme der Frauen

Das Recht auf eine gerechte Geburt

Nicht die unvorhergesehenen Komplikationen oder die „gewaltige“ Geburtserfahrung an sich sind es, die Frauen und ihre Kinder ungerechte Geburten erleben lassen, sondern die fehlende Beachtung ihrer individuellen Bedürfnisse, nicht-evidenzbasierte Praktiken oder gar physische, psychische oder verbale Gewalt. Auf dem 3. DHZCongress im September sprach die Autorin über ihre traumatische Geburtserfahrung und ihr daraus resultierendes Eintreten für eine „gerechte“ Geburt: gewaltfrei, individuell, selbstbestimmt. Mascha Grieschat,

Es ist immer ein besonderer Moment, wenn das Baby geboren ist und in den Armen der Mutter liegt. Aber war es eine positive Geburtserfahrung? Wie werden Mutter und Kind, wie die Begleitpersonen sie in Erinnerung behalten? Ich wurde gefragt, meine Geschichte zu erzählen, doch es fällt mir nicht leicht, denn die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung machen sich bei bewusst zugelassener intensiver Erinnerung noch immer bemerkbar. Die Geburt meines Sohnes 2011 war das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe. Bis heute bleibt es mir unbegreiflich, dass in Deutschland, in einer Hamburger Klinik, die mit „individueller Betreuung” und „persönlicher, familiärer Atmosphäre” wirbt, so etwas Ungerechtes und Gewaltsames ganz legal möglich ist.

 

„Gerecht“ als Qualitätsmerkmal

 

Ich hatte es überlebt – aber irgendwie auch nicht. Ich war jemand anderes. Heute weiß ich: Es war im Grunde nicht nur für mich, sondern für alle Beteiligten eine ungerechte Geburt: für meinen Sohn, für mich, den Vater, die zwei Hebammen, die vier Sanitäter und Rettungsassistenten, die PJ-lerin, die Aufgaben einer Hebamme übernehmen musste, den Oberarzt, die Stationsärztin, die Anästhesisten und Assistenten. Wie könnte es auch anders sein? Bei diesen Hierarchien und Arbeitsbedingungen, den etablierten Routinen und Strukturen? Damals wie heute sage ich: Eine Geburt muss doch anders gehen – würdevoll, menschlich, gerecht! Dabei spreche ich nicht von der Hippie-Traumgeburt mit Rosenblättern im Geburtsswimming-Pool. Ich spreche davon, wie unnötig es ist, dass eine gesunde junge Schwangere voller Hoffnung mit einem Babybauch in eine Klinik geht und diese als gebrochene Frau wieder verlässt. Ich spreche davon, dass in der Praxis täglich „Dinge“ gemacht (oder nicht gemacht) werden, die gegen sämtliche Forschungsergebnisse, Evidenzen und Leitlinien sprechen. Und wir schauen zu – jetzt, in diesem Moment. Das ist der Grund, warum ich vor knapp drei Jahren die „Initiative für gerechte Geburtshilfe in Deutschland“ gegründet habe.

Der Begriff „gerechte Geburt“ beinhaltet neben der Wahrung von PatientInnenrechten und einem fairen, menschlichen Umgang etwas, was durch Worte schwer auszudrücken ist: ein Gefühl von Zufriedenheit und Richtigkeit, eben dass bei der Behandlung der Einheit von Mutter und Baby alles mit rechten Dingen vor sich geht: evidenzbasiert, individuell, respektvoll. Denn dies befähigt die Mutter, auch bei komplikationsreichen Verläufen, mit innerlicher Zufriedenheit auf die Schwangerschaft und vor allem die Geburt zurückzublicken. Für sie, das Baby und den Vater wird dieses positive Erleben ein dauerhaft kraftbringendes Gut, wovon auch die GeburtshelferInnen profitieren.

Umgekehrt ist es für eine Familie bei ungerechter, gar traumatischer Geburt: Diese kostet sie viel Kraft. Bereits 2002 zeigte eine schwedische Studie an 617 Müttern, wie sehr sich das Geburtserleben auf den weiteren Kinderwunsch auswirkt. Nach „negativem Erlebnis bei der ersten Geburt“ bekamen die Frauen deutlich weniger und wenn, dann später Kinder: statt nach 2,2 in der Vergleichsgruppe erst nach 4,2 Jahren (Gottvall & Waldenström 2002). Die klare Schlussfolgerung lautete: Das Erleben der Frau ist entsprechend zu berücksichtigen. Beim jetzigen Forschungsstand ist es mehr als verwunderlich, dass psychosomatische Aspekte nicht längst in den Mutterpass integriert wurden und dass „subjektives Erleben“ kein verbindlicher Bestandteil der Geburtsdokumentation ist.

Einige Kliniken gehen mit gutem Beispiel voran, sie fragen beim Aufnahmegespräch detailliert nach vorherigen Geburten oder der eigenen Geburt. Sie haben erkannt, dass nur eine wirklich individuelle Betreuung der Schlüssel zu einer guten Geburtserfahrung ist. Und dafür braucht es eine Beziehung zum Menschen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Rahmenbedingungen, beispielsweise Betreuung, Raum, Zeit, Atmosphäre und Zugang zu evidenzbasierter Geburtshilfe. Diese sind stark strukturell und zum Teil politisch bedingt. Entscheidend ist beim geburtshilflichen Team zudem die innere Haltung, gerecht als Qualitätsmerkmal von Geburtshilfe zu sehen und dies für Mutter und Baby sowie für sich selbst anzustreben.

Leider sind wir in Deutschland wider besseres Wissen von einer flächendeckenden evidenzbasierten Geburtshilfe weit entfernt. Ältere Feministinnen sprechen von einem „Déjà-vu“, wenn sie auf die derzeitige interventionsreiche Geburtshilfe schauen. Sie erinnern sich an die Situation in deutschen Kreißsälen in den 1970er und 1980er Jahren.

 

Enttäuschung, Wut, Angst und Lüge

 

Dass ich mich jemals so für Geburtshilfe engagieren würde, hätte ich mir vor gut fünf Jahren nicht erträumen lassen. Damals lief ich zum Gynäkologen und forderte eine Sterilisation, um nicht noch einmal dieses Martyrium der Entmündigung erleben zu müssen. Innerlich wollte ich alle Frauen warnen: „Bekomme niemals ein Kind!“ Besonders die Schwangeren betrachtete ich mit einer Mischung aus Entsetzen, tiefem Mitgefühl und Angst – und Wut, ja Wut, dass ich nichts tun konnte, um sie vor einer menschenunwürdigen Geburtshilfe zu schützen.

Auch sie würden wie blinde Kühe ins Schlachthaus laufen, die Märchen auf den „Werdenden-Elternabenden“ in den Kliniken glauben, einer Lotterie ausgesetzt sein, ob vielleicht genügend Betreuungspersonal da sein würde – oder eben nicht. Sie würden sich nicht vorstellen können, wozu Hebammen und ÄrztInnen fähig sind, was man ihren Körpern und Seelen antun würde. Für mich war „Hebamme“ genau wie „CTG“, „schwanger“, „geboren“ oder „Krankenhaus“ ein Trigger-Wort. Lange Zeit verband ich mit diesem Begriff ausschließlich Enttäuschung, Wut, Angst und Lüge. Ich musste erst wieder andere, „gute“ Hebammen kennenlernen, die mir ermöglichten, dass ich sie heute wieder bewundere: Hebammen, die kompetent arbeiten und Frauen zu guten Geburtserlebnissen verhelfen.

Seit Ende 2011 musste ich lernen, meine Gedanken rund um die Geburt zu kontrollieren, sie wie einen Horrorfilm bei Bedarf anzuhalten. Nach einer speziellen Traumatherapie (EMDR), Körper-, Stimm-, Gesprächs- und Maltherapie, viel familiärer Unterstützung, einer heilenden Stillbeziehung zu meinem Sohn und dem Baderitual nach Meißner kann ich sagen: Ich habe das Trauma weitestgehend verarbeitet. Ich kann damit umgehen, wenn die Erinnerung hochkommt. Trotzdem fehlen mir bei Vorträgen manchmal die Worte oder ich zittere unkontrolliert, zum Beispiel bei der Übergabe der Unterschriftenliste an Minister Gröhe „Rettet die Hebammen“ 2014 in Hamburg oder bei einem Treffen im Gesundheitsministerium in Berlin. Grund dafür ist nicht nur das Erlebnis an sich, sondern auch die Langzeitfolgen (für meine Familie und mich). Die mangelnde Gesprächs- und Hilfsbereitschaft der Klinik sowie das Ausbleiben einer Entschuldigung erschwerten mir die Aufarbeitung und Bewältigung ganz besonders.

 

Programmierte Entscheidungen

 

Als Akademikerin, als Feministin stellte ich mir viele Fragen: Wie war es dazu gekommen? Wer war verantwortlich? Wie hätte ich dieses Erlebnis verhindern können? In den Wochen nach der Geburt überschlugen sich meine Gedanken: War es der falsche Zeitpunkt für eine Schwangerschaft? Zu wenig geplant? Was wäre, wenn … Hätte ich meinen Partner nicht kennengelernt, dann wäre ich gar nicht erst schwanger geworden. Ich hätte abtreiben können! Wie hatte ich so naiv und vertrauensvoll sein können? Rückblickend war der wöchentliche Geburtsvorbereitungskurs so geburtsvorbereitend wie ein wöchentlicher Besuch beim Frisör. Den wohl häufigsten und folgenschwersten Satz, den meine kursleitende Hebamme fast jede Stunde auf eine der Fragen antwortete war: „Das brauchst du jetzt nicht wissen, denn es wird eine Hebamme da sein, die sich um dich kümmert.“ Das habe ich geglaubt – leider.

Ich glaubte ja überhaupt alles. Dass es mit meinem großen Kind zu gefährlich sei für eine Hausgeburt (mein erster Wunsch), dass es nicht so schlimm sei, dass ich keine Beleghebamme mehr bekomme (mein zweiter Wunsch), weil für mich „immer eine frische ausgeruhte Hebamme in der Klinik“ da sein würde. Was mir die ExpertInnen sagten, glaubte ich und traf letztlich keine informierten, sondern „programmierte Entscheidungen“ (Samerski 2016). Indem man mich gegen meine Bedürfnisse und Instinkte handeln ließ, war bereits meine „Vorsorge“ ungerecht. Und die Angst vor einem Kaiserschnitt, den ich auf keinen Fall wollte, wuchs. Nur das allein macht noch keine negative Geburtserfahrung.

Dann lag es also an mir? Hätte ich mich besser vorbereiten müssen? Vielleicht. Aber wie hätte ich es wissen können? Rückblickend kann ich sagen, dass ich im achten Schwangerschaftsmonat überzeugt war, ich sei gut vorbereitet. War vielleicht der Partner in der Geburtsbegleitung zu wenig Unterstützung? Nein. Eigentlich war er der einzige, der sich um mich gekümmert hat. Er hat geburtshilfliche Aufgaben übernommen. Trotzdem kann ich an dieser Stelle nur warnen, Männern im Kreißsaal Aufgaben abzuverlangen, von denen sie überfordert sind. Beschützen konnte auch er mich nicht. Wie kam es also zur ungerechten Geburt?

 

Dem Tod näher als dem Leben

 

Kurz über ET hatte ich eine langsame Wehensteigerung über mehrere Tage, eine nahezu lehrbuchartige Eröffnung, sechs Stunden gute lange Eröffnungswehen über eine Minute etwa alle drei bis fünf Minuten und konnte die zu Hause verarbeiten. Als die Entscheidung zum Aufbruch in die Klinik kam, lief just in diesem Moment frisches Blut und Schleim aus mir heraus. Heute weiß ich, es war der Schleimpfropf. „Oh, Gott, was ist das?“ Angst! Wir hatten kein Auto. So ins Taxi? Ruf nach 19222 (wie im Geburtsvorbereitungskurs gelernt). Ich zittere. Blaulicht. Wehen alle drei Minuten. 20 Minuten Fahrt.

Die Begrüßung in der Klinik: Kälte, Distanz – die Hebamme meckert, dass wir nicht angemeldet seien und sie jetzt nachts den ganzen Papierkram auszufüllen müsse. Uns war beim ersten Besuch gesagt worden, man müsse sich nicht anmelden, da es als Erstgebärende „eine willkommene Abwechslung“ sei, zwischen den Wehen die Fragen zu beantworten – ich hatte ja alles geglaubt.

Ein Uhr nachts, ich komme eine Stunde ans CTG: Wehen regelmäßig, stark, alle drei Minuten. Ultraschall: „Ohhh, großes Kind“. Dann noch: „Das ist kein Fruchtwasser.“ Ich möchte bleiben, wegen der Schmerzen. Ob ich schon in die Tischkante beißen müsse. Mein Partner dürfe aber nicht bei mir bleiben, auch nicht auf dem Krankenhausgelände. Darum Schmerzzäpfchen (Buscopan). Trotz schlimmer Wehen nach Hause. Wehen alle drei Minuten, vier weitere Stunden Qual. Dieses Gefühl, völlig allein gelassen zu sein, diese lange Nacht ohne Hilfe. Ich kann irgendwann nicht mehr schreien. Um 8 Uhr wieder Ruf nach 19222, der Rettungswagen braucht über 30 Minuten. „Wehen alle 90 Sekunden“ wird dokumentiert, Flüssigkeit verweigert. Die Rettungssanitäter rufen den Notarzt. Fünf fremde Männer. Mir wird die Hose runtergerissen. „Müssen Sie pressen?“

Ich glaube es kaum, als ich das Krankenhaus erreiche. Doch dort angekommen, ist niemand für mich da: keine Form der Unterstützung, keine Kommunikation – „drei Zentimeter“ erfahre ich, mir werden medizinische Prozeduren angedroht, ich höre Sätze wie: „Mädchen, guck dich doch mal an, wenn du dein Kind natürlich bekommen willst, musst du jetzt eine PDA nehmen.“ Keine kontinuierliche Hebammenbetreuung, stattdessen eine PJ-lerin, die mich mit ihrem „Atme! – Atme!“ in die Hyperventilation bringt. Dieser Zwang, still zu liegen, damit das CTG nicht verrutscht, diese Schmerzen, diese Angst, die Gerüche, Bilder, der Plastikhandschuh, der mir grob das Zäpfchen reinschiebt, Realitätsverlust: meine Hand, angeschwollen zu doppelter Größe, weil der Tropf danebenläuft und es niemand merkt, ich erst recht nicht, von Panik, Schmerzen und Todesangst völlig überrollt. Die letzten Bilder, Wörter, Menschen, so viele Menschen, mit Mundschutz. Alle sprechen, als ob ich nicht da wäre, niemand spricht wirklich mit mir. Alarm.

„Was ist los?“, keuche ich. „Die Herztöne von Ihrem Kind sind sehr schlecht, wir müssen einen Kaiserschnitt machen“, sagt mir jemand, den ich noch nie gesehen habe. – Oh, Gott, nein, ich will nicht. Nein. Ich höre meinen Freund noch erklären, dass das meine größte Angst sei. Ich werde weggetragen, innerlich bin ich dem Sterben näher als der Geburt, habe abgeschlossen. Die können mich nicht als „Zeugen“ überleben lassen. Ein letztes Aufbäumen: Wo ist mein Partner? Wir konnten uns nicht verabschieden – „Der kann nicht dabei sein.“ Mir wird eine Maske aufgedrückt, mein letzter Gedanke: Oh Gott, Vollnarkose … Bitte tut dem Kind nichts! Ich wache auf. Der Bauch ist weg. Allein. Ganz allein. Hilfe! Wieder jemand Fremdes – sie (?) kabelt an mir herum. Wo ist mein Kind? „Ihm geht es gut, ich hole die beiden“, erfahre ich.

 

„Verkettung unglücklicher Umstände“

 

Es dauert Monate, bis ich begreife, dass ich es erlebt habe, dass ich es überlebt habe. Ich weiß nicht, wer alles seine Hand in mir hatte, kann die fremden Menschen nicht zählen, die „beteiligt“ waren. Und doch fühlt sich niemand so recht verantwortlich für mich. Wie auch – wer baut schon eine „Beziehung“ zu Geburtsnummer 1008 auf, 3.970 g, KU 36 cm, 56 cm, Notsectio. Acht Babys wurden in „meiner“ Nacht mindestens geboren, denn, so konnte man in der Presse lesen, das tausendste Kind war nur wenige Stunden vorher zur Welt gekommen. Vielleicht hatte es mehr Glück.

Je nach Geburtsberichtsversion lag der Apgar-Wert meines Kindes mal bei 8/9/9, mal bei 10/10/10, der pH-Wert bei 7,24. Eine Erklärung für den Herztonabfall wurde nicht gefunden.

Bereits in der ersten Nacht kann ich nicht schlafen, die Bilder holen mich ein, … Zitterattacken schütteln meinen Körper. Erst soll ich in stationäre Behandlung, dann zu einer „Trauma-Hebamme“ (die leider keine Kapazitäten hat). „Freuen Sie sich an Ihrem Kind“, gibt man mir mit auf den Weg. Ein Arzt spricht mit mir: „Wenn Sie ein bisschen dümmer wären, Frau Grieschat, könnten Sie es wahrscheinlich leichter verarbeiten.“ Ich kann nur vermuten, was seine Intention war. Immerhin räumt er ein: Es seien „Fehler passiert“, eine „Verkettung unglücklicher Umstände“. Es will keiner hören, dass die Mutter sich durch Geburtshelfer misshandelt fühlt.

Anfangs versuche ich einfach zu verstehen, was „schief gelaufen ist“. Ich bitte um ein Gespräch mit der PJ-lerin oder der „betreuenden“ Hebamme. Ich möchte wissen, warum ich nicht in die Badewanne, mich nicht bewegen durfte … warum die Hebamme kaum anwesend war.

Zum Nachgespräch erscheinen die wichtigsten Beteiligten nicht. Das enttäuscht mich sehr. Auch auf direkte Nachfrage bleibt eine Entschuldigung aus. Antworten bekomme ich nicht. Mehrfach wird mir von einer bisher unbekannten Oberärztin jedoch erklärt, warum der Kaiserschnitt gemacht wurde. Sie nennt das Unter-80-Herzschläge-pro-Minute-Argument. Nur weiß ich damals noch nichts von Falsch-Positiv-Raten und der versäumten Pflicht, die Herztöne mit meinen zu vergleichen oder eine MBU durchzuführen. Ich schlucke die Erklärung. Doch was ist mit der Zeit davor? Auf meine Frage, welche Geburtshilfe denn überhaupt angewandt wurde, erfahre ich nach längerem Schweigen von der gleichen Ärztin, die während unseres Gesprächs circa sechs Mal telefoniert, dass ich um 9.40 Uhr von links nach rechts umgelagert wurde. Eine Umlagerung!? Heute kann ich über diese „Hebammenkunst“ nur ungläubig lachen. Am Ende heißt es, ich hätte meine Schmerzen mehr äußern und wir uns wie Erwachsene benehmen sollen. Ich weine fast die komplette Zeit. Das Gespräch war einen Monat danach. Mir ging es schlechter als je zuvor. Trotzdem bitte ich um weitere Termine, diese werden erst zu-, dann abgesagt. Es gibt keine Antworten mehr, ich frage immer wieder nach, schließlich erhalte ich „Hausverbot“.

Nachdem die Staatsanwaltschaft ermittelt hatte – Tatbestand der Körperverletzung ist gegeben – erfahre ich, man könne meine Vorwürfe „nicht mit der notwendigen Gewissheit beweisen“. Eine Befragung findet nicht statt. Meine Ablehnung des Kaiserschnitts sei „nicht lebensnah“ und der Eingriff ohnehin nach § 32 Strafgesetzbuch durch Notwehr zugunsten meines Sohnes gerechtfertigt.

Ich wiege noch etwa 50 Kilogramm, muss mich darauf konzentrieren, gesund zu werden, akzeptieren, dass diese Ungerechtigkeit des Systems in Deutschland legal ist. Dass ich kein Recht auf echte Geburtshilfe habe, aber man mir gegen meinen Willen den Bauch aufschneiden darf, ein 10/10/10-Kind rausholt und mir das Gefühl gibt, dafür ausschließlich dankbar sein zu müssen. Leider gab es vor fünf Jahren kaum Anlaufstellen für traumatisierte Mütter.

 

Die Welt des Gebärens verändern

 

Für meinen Heilungsweg war entscheidend, dass das Erlebnis einen Sinn haben sollte! Ich wollte etwas verändern! Andere Frauen und ihre Kinder beschützen. Seit drei Jahren betreue ich unter anderem gemeinsam mit Katharina Hartmann von Human Rights in Childbirth die „Roses Revolution“, eine Aktion gegen Gewalt in der Geburtshilfe. Weltweit legen Frauen rosafarbene Rosen an dem Ort nieder, wo sie physische oder psychische Verletzung erfahren haben. Dies wird fotografiert und oft mit dem Geburtsbericht zusammen anonym von uns veröffentlicht. Dort sind viele Frauen wie ich.

Ich vernetzte mich mit Elterninitiativen, Happy Birthday e.V., Green Birth e.V., „Elternprotest“ – später Mother Hood e.V., ich demonstrierte, informierte, sprach mit Politikern. Parallel wollte ich wieder den Mut entwickeln, noch ein Kind zu bekommen. Ich suchte für meine Initiative einen geeigneten Namen. „Initiative für natürliche, gute, schöne, gesunde Geburt“? Das erschien mir alles zu unpassend. „Natürliche“ Geburt schließt ja schon ein Drittel aller Geburten (einschließlich meiner) aus! Und weitere 50 Prozent, weil diese zwar vaginal, aber alles andere als natürlich sind. „Gesund“ schloss wiederum Geburten mit schweren Komplikationen oder Folgeschäden aus, die auch der erfahrenste Geburtshelfer nicht ausschließen kann. Aber auch diese „ungesunden“ Geburten können positiv sein, indem man auf die individuellen Bedürfnisse der Frau eingeht und sie und ihr Baby gerecht behandeln.

Sollte ich selbst Hebamme oder Gynäkologin werden? Die eigentlichen Ausbildungsinhalte und die „Verpflichtung“ zum hierarchischen System hielten mich ab. Ich entschloss mich zur Doula-Ausbildung. Eine Erfahrung, die mich reicher gemacht hat. Nicht nur das fachliche Wissen rund um Geburt – die Verbindung zu den Doula-Schwestern, die inspirierenden Ausbilderinnen Melanie Schöne (Doulas in Deutschland e.V.) oder Debra Pascali Bonaro (Orgasmic Birth) zeigten mir, was es bedeutet, Liebe in die Geburtshilfe bringen.

Besonders heilsam war für mich die Begleitung meiner ersten Beleggeburt als Doula 2014. Es stand für mich in so einem Gegensatz zu meinen eigenen Erlebnissen, zu sehen und zu fühlen, wie Geburt sein kann. Und vor allem, wie die Zeit danach positiv geprägt wird.

Auf der Suche nach Antworten stürzte ich mich in wissenschaftliche Literatur. Das meiste, was ich über Geburt recherchierte, in Doula- und Hebammenfortbildungen lernte, entsprach inhaltlich nahezu dem Gegenteil von dem, was ich erlebt habe. Oder es erschreckte mich in Bezug auf die fehlende Berücksichtigung der psychosomatischen Aspekte der Frau. Beides ist ungerecht.

Nach wie vor jedoch ist insbesondere der Umgang mit Forschungsergebnissen katastrophal. Kurz vor der Gründung meiner Initiative, während der Lektüre von „Geburt und Stillen“, einem Buch des französischem Geburtshelfers Michel Odent, erreiche ich meine „innerliche Grenze“. Er berichtet darin von einer Metastudie zur elektronischen kindlichen Herztonüberwachung. Der einzige nachweisbare Effekt des CTGs war eine erhöhte Rate von Kaiserschnitt- oder vaginal operativen Geburten. Andere Unterschiede zur Vergleichsgruppe, beispielsweise in Bezug auf den Gesundheitszustand der Babys, gab es nicht. Für mich war das neu. Er folgert daraus, dass der Einsatz von elektronischen Monitoren während der Geburt gefährlich sei: „Eine größere Anzahl von Babys muss durch eine größere Anzahl von operativen Eingriffen gerettet werden.“ Die Studie erschien 1987, vor knapp 30 Jahren.

Wann erscheint denn endlich eine Studie darüber, wie relevante Forschungsergebnisse sinnvoll in die Praxis kommen? Die würde ich gerne auf meiner Plattform zur Verfügung stellen!

 

Ein gutes Jahr

 

Das vergangene Jahr war gut! 2015 gibt die WHO eine Erklärung zu „Vermeidung und Beseitigung von Geringschätzung und Misshandlung bei Geburten in geburtshilflichen Einrichtungen“ heraus und hält fest: „Jede Frau hat das Recht auf die bestmöglichsten Gesundheitsstandards, welche das Recht auf eine würde- und respektvolle Behandlung beinhalten.“ Zu meinem Geburtstag erscheint „Gewalt unter der Geburt“ von Christina Mundlos. Vielversprechend ist der Zusammenschluss der Elterninitiativen für Geburtskultur. Es muss sich etwas bewegen!

 

10 Schritte zum optimalen Mutter-Baby-Geburtsservice

 

Einen Weg zur gerechten Geburt bietet die International Mother Baby Childbirth Organisiation (IMBCI) mit ihren „10 Schritten zum optimalen MutterBaby-Geburtsservice“. Geburtshilfliche Teams könnten zum Beispiel jeden Monat einen der zehn Schritte im Kreißsaal thematisieren oder als Kalenderblatt aushängen:

  1. Jede Frau mit Respekt behandeln und ihre Würde schützen.
  2. Sich jenes Hebammenwissen aneignen und routinemäßig anwenden, das eine natürliche Geburt und ein normales Stillen fördert.
  3. Die Mutter über die Vorteile von durchgehender Unterstützung während der Wehen und der Austreibungsphase informieren und sich dafür einsetzen, dass sie eine solche Unterstützung von einer Person ihrer Wahl bekommt.
  4. Zugang zur Geburtserleichterung ohne Medikamente und zu natürlichen Schmerzlinderungsmethoden ermöglichen und ihre Vorteile für eine natürliche Geburt erklären.
  5. Nur evidenzbasierte Praktiken anwenden, die sich ausdrücklich als vorteilhaft erwiesen haben.
  6. Potenziell schädliche Maßnahmen und Praktiken vermeiden.
  7. Maßnahmen ergreifen, die das Wohlbefinden fördern sowie Krankheiten und Notfällen vorbeugen.
  8. Zugang zu evidenzbasierter qualifizierter Notfallbehandlung schaffen.
  9. Kontinuierliche Zusammenarbeit in der medizinischen Behandlung mit dem gesamten medizinischen Personal sowie anderen Institutionen und Organisationen sicherstellen.
  10. Die Erreichung der 10 BFHI Schritte für erfolgreiches Stillen anstreben (Baby-friendly Hospital Initiative der WHO/UNICEF).

Rubrik: Geburt | DHZ 12/2016

Literatur

Gottvall K, Waldenström U: Does a traumatic birth experience have an impact on future reproduction? BJOG. 03/2002; 109|3: S.254-60. http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1471-0528.2002.01200.x/full (letzter Zugriff: 11.11.2016)

Geisel E: Tränen nach der Geburt. Kösel 1997

Mundlos Ch: Gewalt unter der Geburt. Tectum Verlag 2015
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