Leseprobe: DHZ 01/2017
Fallgeschichte

Den Händen vertrauen

Eine Hebamme mit über 40 Jahren Berufserfahrung erzählt von einer Schwangeren, bei deren Fetus im Mutterleib ein zu kleiner Kopf diagnostiziert wurde. Sie selbst kam aufgrund ihres Tastbefundes zu einem anderen Ergebnis. Die Frau verbrachte die Schwangerschaft zwischen Hoffen und Bangen – und die Geburt ging gut aus. Emilia Melitzki,

Meine Rolle als Hebamme sehe ich darin, einerseits der Frau die größtmögliche Selbstbestimmung zu überlassen und gleichzeitig meinen Teil der Verantwortung für Mutter und Kind zu tragen. Ich versuche, die Frauen bereits in den Geburtsvorbereitungskursen oder in Einzelgesprächen zu stärken, denn für die Geburt brauchen sie Geduld, Kraft, Bewegung und Ausdauer. Frauen können gebären – wenn sie mit dem eigenen Körpergefühl arbeiten. In meiner Tätigkeit als freiberufliche Hebamme ist mir sehr deutlich geworden, dass die Eins-zu-eins-Betreuung für die Frauen ideal ist. Nur dies ermöglicht eine enge, ganz auf die Bedürfnisse der Frau abgestimmte Zusammenarbeit.

Jede Frau ist eine eigene Persönlichkeit. Deshalb nehme ich sie an, wie sie ist, mit all ihren Eigenarten. Genau das ist es auch, was ich an dem Beruf der Hebamme so interessant finde. Die Frau und ich gehen auf diese Weise gemeinsam den Weg durch die Geburt, so wie es jede einzelne Gebärende braucht. Ich mache ihr Mut und stärke ihr den Rücken mit Massagen oder mit positiven Worten.

 

Hören mit dem „Holzstethoskop"

 

Bereits in der Schwangerschaft betrachte ich jede Frau intensiv, ertaste ihr Baby mit den vier Leopoldschen Handgriffen, höre mit dem „Holzstethoskop" die kindlichen Herztöne und äußere mich auf Wunsch der Frau zum Gewicht des Babys. Ich erfühle die Lage des Kindes, taste, wo sich der Rücken befindet, wo die Ärmchen und Beinchen liegen, wo das Köpfchen und wie es zum mütterlichen Becken steht. Darauf basieren meine Gewichtsschätzungen des Kindes im letzten Drittel der Schwangerschaft.

Nachdem ich immer wieder nach der Geburt meine eigenen Gewichtsschätzungen mit dem tatsächlichen Geburts-gewicht verglichen habe, schätze ich dieses mittlerweile etwa auf 100 Gramm genau. Den Frauen und Paaren sage ich: „Zu meiner Zeit lernte man noch, alles mit den Händen zu erfühlen. Wir hatten keine elektronische Technik. Ich bin heute noch dankbar, das gelernt zu haben. So kann ich mich auf meine Hände verlassen."

Ein aktuelles Beispiel bestätigt meine Art zu arbeiten. Vielleicht lernt man mit den Jahren, die Sinne so zu schärfen und dem eigenen Urteil zu trauen.

 

Verhältnismäßig kleiner Kopf?

 

Eine junge werdende Mutter erzählte mir, dass sie von ihrem Gynäkologen den Hinweis erhalten habe, dass ihr Baby einen zu kleinen Kopf hätte. Sie holte sich daher eine zweite Meinung ein, von einem Arzt, der bekannt dafür ist, dass er „gute" Ultraschallbilder macht. Dieser bestätigte die Aussage vom verhältnismäßig kleinen Kopf. Er fügte jedoch hinzu, dass das Gehirn normal entwickelt sei. Er empfahl ihr, sich zur Abklärung noch in Leipzig bei einem Spezialisten vorzustellen. Das lehnte die Frau ab, denn sie wollte keinerlei weitere Ultraschalluntersuchungen mehr. Sie hatte Angst vor weiteren schlimmen Nachrichten.

Die junge Frau kam völlig verzweifelt und verängstigt zu mir in die Sprechstunde. Ich schaute mir ihren Bauch mit meinen Händen an. Sie war in der 31. Schwangerschaftswoche und nach meinem Befinden war das Kind zeitgerecht gewachsen. Den Kopf konnte ich gut ertasten. Er fühlte sich normal groß an, wobei ich mich zur Größe nicht äußern wollte. Ich sagte ihr, dass ich nicht hineinschauen oder zuverlässig von außen messen könne. „Ich kann ihn nur durch die Bauchdecke tasten, und dafür fühlt er sich normal groß an."

Auf Wunsch der Frau schaute ich mir fast wöchentlich den Bauch an und stellte fest, dass das Baby schön wächst. Seine Herztöne und Kindsbewegungen waren gut. Ich sagte ihr, ich könne mir nicht vorstellen, dass hier etwas nicht stimmen würde.

Jedoch konnte ich ihr die von den beiden Gynäkologen gestellte Diagnose nicht ausreden. Ich versuchte, sie mit einfachen Worten zu stärken. Ich erinnerte sie daran, dass sie eine gesunde junge Frau sei, und dass auch ihre Schwester gesund sei und zwei gesunde wunderbare Kinder geboren habe. „Wieso sollst du jetzt kein gesundes Kind bekommen? Glaube selbst an dich!"

Bei einer weiteren ärztlichen Vorsorgeuntersuchung riet ihr der Gynäkologe, es sei besser, dass sie eine Sectio bekäme, so dass sie nicht so genau wahrnehmen würde, wenn das Baby nicht gesund wäre oder wegen der zu erwartenden Fehlbildungen sogar gleich nach der Geburt sterben müsste.

Wieder erschien die Frau völlig aufgelöst bei mir zum Gespräch und ich konnte ihr die Geschichte nicht ausreden. Doch machte ich ihr stets Mut und sagte ihr, sie möge auf ihren gesunden Körper und den bisherigen guten Verlauf der Schwangerschaft vertrauen. Ich sagte ihr abermals: „Ich habe ein gutes Gefühl."

 

Nur Mut!

 

Auf Empfehlung ihres Gynäkologen stand in der 37. Schwangerschaftswoche ein Termin in der Klinik zur Geburtsplanung an. Sie wollte diesen Termin erst nicht wahrnehmen, aber der werdende Vater und die Eltern der Frau rieten ihr dazu. Im Klinikgespräch erfuhr sie abermals, dass der Kopf zu klein sei. Es wurde hier erneut ein Ultraschall gemacht. Die Schwangere wurde gefragt, ob sie vielleicht Kontakt mit dem Zikavirus gehabt haben könnte, was nicht der Fall war. Die Klinikgynäkologen informierten vorsorglich die Kinderärzte im Haus. Ich dagegen stellte nur immer wieder fest, dass das Kind in einem schönen Bauch einer hübschen Schwangeren gut gedieh und wir von ihm stets optimale CTGs aufzeichneten. Ja, ich schreibe auch CTGs und benutze das Hörrohr, wenn die Frau es wünscht …

Von nun an blieb die Schwangere aus eigenem Entschluss nur noch unter meiner Obhut und wir warteten auf die Geburtswehen. Die Klinikärzte erwarteten derweil mit Spannung die Frau „mit dem kleinen Kindskopf". In der 41. Schwangerschaftswoche setzten dann endlich die Wehen ein. Anfangs betreute ich die Frau zu Hause, später gingen wir gemeinsam in die Klinik. Der diensthabende Gynäkologe begrüßte uns und bat uns, ihn und den Kinderarzt rechtzeitig zur Geburt zu rufen. Ich hatte immer noch ein gutes Gefühl. Die Gebärende freute sich, dass sie eigene Wehen bekam. Sie war viel in Bewegung, aber auch in innerer Anspannung.

Die Frau hat schließlich spontan ein gesundes stattliches Baby mit einem Kopfumfang von 36 Zentimetern geboren. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf und ähnlich erging es auch dem Vater – die Last der Ungewissheit fiel von beiden ab. Der Kinderarzt untersuchte das Baby und diagnostizierte ein gesundes Neugeborenes.

Ich kann nicht erklären, woher ich diese positiven Instinkte hatte. Aber eines ist sicher: Wir müssen den Frauen gut zuhören, den Bauch anfassen, das Baby ertasten, stets genau beobachten, unser Bauchgefühl zulassen – und den Frauen Mut machen!

 

Blick zurück und nach vorn

 

Eigentlich wollte ich meine Hebammenlaufbahn langsam ausklingen lassen. Das fällt mir allerdings schwer, denn ich bin immer wieder neu beflügelt und dankbar dafür, wenn ich mit meiner Arbeit die Frauen stärken kann. Es ist wunderbar, mit ihnen den Weg durch die Geburt zu gehen, sie zu ermutigen, dass sie in Bewegung bleiben und möglichst spontan gebären.

In meiner Arbeit haben sich einige Aspekte als besonders wichtig erwiesen: eine gute Beziehung zur Frau aufzubauen und wertfrei auf ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse einzugehen. Meine Intuition und eine intensive Beobachtung der Frau, ihrer Emotionen, ihres Verhaltens und die Gespräche mit ihr geben mir wichtige Informationen über Mutter und Kind. So kann ich sie in ihrem Tun bestärken, in ihrem Vertrauen in ihren Körper und ihre Intuition, und in ihrer Hoffnung auf ein gesundes Kind und eine gute Geburt.

Rubrik: Schwangerschaft | DHZ 01/2017