Leseprobe: DHZ 08/2014
Hebammenkunst

Die Grundlagen erinnern

In der Gründungsphase der Hebammen­wissenschaft stehen wir an einer Weggabelung: Liegen die Grundlagen des Wissens für die tägliche Praxis in Leitlinien und ExpertInnenstandards oder in der Kunst der Gegenwärtigkeit dieser einen Schwangeren und Gebärenden gegenüber? Ihre Gedanken zu dieser Frage hatte die Autorin ursprünglich für ihren Einführungsvortrag auf dem 2. DHZCongress formuliert, den sie leider absagen musste. Prof. Dr. Barbara Duden,

Im Schwerpunkt des Juniheftes präsentierte die DHZ einen Fächer von Beiträgen, welche die Frage ausleuchten, was die Kunst von Hebammen heute an nutzbarem Wissen zu bieten hat. Ich habe mit Freude gelesen – von den Handgriffen, wenn das Kind mit dem Steiß zuerst auf die Welt kommen will; davon, wie eine Hebamme in einem afrikanischen Krisengebiet sich wieder ganz auf altes und bewährtes Wissen verlässt; davon, was einer Hebamme zu Ohren kommt, wenn sie ihre Hochschwangeren ermutigt zu erzählen, wie sie die Bewegungen ihres Kindes in den Wochen vor der Geburt wahrnehmen; von alten Hebammen, die vor Jahrzehnten schon die damals dramatische Beschleunigung der Gebärarbeit in der Klinik als schädlich für die Gebärende beurteilten. Auf den ersten Seiten des Schwerpunktes erscheint ein Aufsatz unter dem Titel „Leitstern für die Praxis" zu „Leitlinien", insbesondere zur Leitlinie bei „Terminüberschreitung" (Schäfers 2014). Mich verblüffte dieses unkommentierte Nebeneinander von Perspektiven auf die Hebammenkunst, die sich nach meinem Verständnis wechselseitig ausschließen. Ich nämlich sehe einen Widerspruch zwischen dem einen und dem anderen: einerseits der Anleitung zur Organisation von Studienergebnissen, welche ein leitliniengemäßes Handeln am Geburtstermin sicherstellen soll, und andererseits der nachdenklichen Suche der Geburtshelferin über die Zeichen einer herannahenden Geburt; einerseits die Dokumentation von Daten, die statistische Befunde an Populationen weiblicher Merkmalsgruppen zur „Terminüberschreitung" dokumentieren, und andererseits eine Geburtshelferin, die in den Erspürnissen und Berichten von Schwangeren Hinweise darauf sucht, ob sie und ihr Ungeborenes schon zur Geburt bereit sind (Kühberger 2014).

Durch diese Ausgabe der DHZ geht ein Riss. Hü: individuelle, singuläre, lokale, sinnhafte Beobachtungen, um etwas zu wissen. Hott: universelle, instrumentell vermittelte, statistische Studienergebnisse als Anleitung zum Verfahren der Hebamme. Auf der Suche nach der Hebammenkunst heute dokumentiert der Schwerpunkt der DHZ also nebeneinander und gleichgültig: die Informationsverarbeitung globaler Datenmassen nach Gütekriterien und die Suche einer Geburtshelferin nach nicht-normativen Anhaltspunkten zur Beurteilung des individuellen Geburtstermins. Dieses Nebeneinander heterogener Prinzipien wirft Fragen auf.

 

Das Drama um die Hebammenkunst

 

Wenn ich den Kontrast zwischen Hebammenkunst und Leitlinienhandeln in die Mitte der folgenden Überlegungen stelle, tue ich dies gewiss nicht, um Streit zu schüren zwischen Hebammen, sondern um auf ein Drama aufmerksam zu machen. Heute haben Hebammen nach Jahrzehnten endlich die Möglichkeit, die Grundlagen ihrer Kunst zu diskutieren und wissenschaftlich zu bearbeiten; sie tun dies aber in einer Situation, da ihnen die Grundlagen für die Hebammenkunst neuerlich entzogen werden – und zwar, unter anderem, durch die Forderung nach einem Handeln entlang von Leitlinien. Dieses Drama wird nur dann sichtbar, wenn wir einen längeren Zeitraum betrachten. Wir müssen die Forderung der Verwaltung nach Leitlinien für das Hebammenhandeln im Zusammenhang sehen mit der langwierigen Entwertung des erfahrungskundigen, situativen, praxisleitenden Wissens der Entbindungskunst und seinen Ersatz durch ein geburtsmedizinisch definiertes, präzedenzloses Modell von Geburt. Die Grundlage des Hebammenhandelns lag einstmals in der kulturellen Gewissheit, dass die Natur der Frauen so gemacht ist, dass sie zu allermeist ihr Kind mit der Hilfe einer erfahrenen Geburtshelferin wohlbehalten zur Welt bringen kann. An die Stelle des Vertrauens in die lebendige Natur der Frau, in ihre Körperlichkeit und die ihres ungeborenen Kindes, dem eine abwartende Begleitung der Geburt entsprach, rückte der konstitutionelle Verdacht – in den 1960ern von Seiten der akademischen Geburtsmedizin, spätestens seit den 80er Jahren dann der Risikomedizin. Hier kam ein unerhörtes Modell von Geburt in die Welt: eine fehlerträchtige, der Pathologie verdächtige Geburt, die nicht umsichtig begleitet, sondern aktiv, eingreifend gestaltet und gemacht werden muss. Ein Geburtsprozess, der kontrolliert und produziert werden muss und – ähnlich einem rationalisierbaren Produktionsprozess – effizienter organisiert werden kann. Die Logik der geburtsmedizinischen Betreuung stülpte sich innerhalb weniger Dekaden – zwischen den 50er und 80er Jahren – um: An die Stelle der Unterstützung der Gebärenden gemäß ihrer Eigenart trat die vor- und eingreifende Gestaltung standardisierter, zeitlich beschleunigter Geburtsprozesse. Die Risikomedizin schließlich bewertete eine nicht vorgreifend intervenierende Geburtsbegleitung gar als Zeichen für eine Fahrlässigkeit. Ich erinnere an diese lange, dramatische Geschichte der Ab- und Entwertung einer abwartenden Entbindungskunst, weil heute die Leitlinien die damaligen Konflikte und die wachsende Distanz gegenüber der einzelnen Gebärenden in einem neuen, formalisierten Gewand fortsetzen.

 

Erweiterung oder Einschnürung?

 

Wie komme ich dazu zu behaupten, dass Leitlinien das Handeln von Hebammen bedrohen, obwohl sie doch in der Rhetorik der Hebammenwissenschaft dazu dienen, einer verantwortungslosen und übergriffigen Praxis ohne Evidenz Einhalt zu gebieten und Korridore für die Möglichkeit verantwortungsvoller, persönlicher Betreuung zu schaffen? Ich greife eine Beobachtung von Prof. Dr. Rainhild Schäfers auf. Sie stellt fest, dass die Leitlinie zur Terminübertragung, die den Handlungsspielraum für Hebammen gegenüber der Medizin erweitern sollte, „nicht als Entscheidungshilfe genutzt, sondern der empfohlene Zeitraum von acht Tagen nach dem errechneten Geburtstermin als ‚Deadline’ für die Einleitung aufgefasst" wurde (Schäfers 2014, S. 15). Ihre Antwort auf diese unvorhergesehene Zweckwidrigkeit lautet, dass „die Leitlinie selbst offenbar nicht immer verstanden wurde. Anders ist es nicht zu erklären, dass sich das Einleitungsregime vielerorts nach Erscheinen der Leitlinie gravierend verändert hat" (ebd. S.17). Wenn ich es recht verstehe, wirkte die Leitlinie wie ein Kommando. Sie führte dazu, dass die vorgreifende Intervention der Geburtseinleitung vermehrt praktiziert wurde. Schäfers sieht die Ursache in einer Inkompetenz der Hebammen, Leitlinien zu gebrauchen, nicht aber bei den Leitlinien selbst. Ich meine aber, dass dieses beunruhigende Ineinander des Versprechens auf eine Erweiterung von „Handlungskorridoren" mit dem Ergebnis einer Einengung dessen, was Hebammen tun, eine Frage aufwirft. Die Verfeinerung weiterer Leitlinien mit höherem finanziellem Aufwand und die Schulung von Hebammen in Leitlinienkompetenz ist keine Antwort. Wenn Leitlinien verführerisch sind in ihrem Versprechen für die Hebammenkunst und kontraproduktiv in der Einhaltung dieses Versprechens, so sollten wir einen Moment innehalten und uns überlegen, womit wir es zu tun haben.

Leitlinien untergraben das Vermögen und Können von Hebammen, etwas Wirkliches im Verlauf der Gebärarbeit der von ihnen begleiteten Frau genau und begründet wahrnehmen zu können und darauf mit ihrem Tun zu antworten. Leitlinien sind Ausdruck einer Leerstelle. Ich fürchte, dass wir an der Durchsetzung von Leitlinien erkennen können, dass das geburtshilfliche Wissen seinen Gegenstand verloren hat: das Vermögen der lebendigen, individuellen Natur eines vielsinnigen Geschehens. Dieser Gegenstand bot der Beobachtungskunst einen Anhaltspunkt, an dem sich wohlbegründetes, nichtwillkürliches Wissen entfaltete. Eine Leitlinie indessen kann kein Anhaltspunkt sein, sie beantwortet der Hebamme nicht die Frage, was sie dieser Gebärenden und ihrer lebendigen, persönlichen Natur gegenüber tun soll oder auch worauf sie achten soll, insofern bleibt sie willkürlich in Bezug auf die einzelne Frau. Eine Leitlinie liefert keine Beurteilung einer vorliegenden Wirklichkeit, worauf es der Hebamme ankäme. Sie liefert eine Beurteilung der Beurteilungen, also eine „Qualifizierung" von „Evidenzen" gemäß vorgegebener Gütekriterien (ebd. S. 16). Mit der Vorstellung, „Qualität" käme durch die Beurteilung der Beurteilungen, durch die Evaluation von Evidenzen zustande, untergraben Leitlinien das eigenständige, situative Urteilsvermögen von Hebammen und verschieben die Suche nach der im Einzelnen angemessenen Diagnose auf das Terrain der Bewertung von Forschungsergebnissen.

 

Distanz nehmen

 

Wenn Hebammen heute die Prinzipien ihrer Kunst eigenständig und ohne Einrede der Geburtsmedizin wissenschaftlich klären wollen, beginnen sie nicht im Nichts. Denn diese Möglichkeit tut sich am Ende von Jahrzehnten auf, in denen andere wissenschaftlich definiert haben, worum es bei der Geburt und der Geburtshilfe ginge. Sie stehen also vor einem Korpus anerkannter Denkstile, Methoden und Konzepte, die das Feld bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, auf dem sie ehemals weitgehend eigenständig und verantwortlich tätig waren.

In den Jahrzehnten seit den späten 50er Jahren gab es eine Reihe von Verschiebungen, die darauf hinausliefen, die Distanz zwischen der einzelnen Gebärenden und denjenigen, die ihr professionell gegenüberstehen, beständig auszuweiten. Geburtsmediziner haben die abwartende, haptische Erfahrungskunde von Hebammen in der freiberuflichen Praxis als vorwissenschaftlich und gefährlich abgetan, und ebenso haben sie als bedeutungslos marginalisiert, wie Schwangere ihren Zustand wahrnehmen. Die Organisation der Klinik, die Arbeitsteilung dort und die Geburtsmediziner nährten den Mythos, dass es sich bei der Geburt um ein Geschehnis handele, das sich nur dem bewaffneten Auge offenbart und ohne technische Eingriffe, ständige Kontrollen und fortwährende Korrekturen nicht gut ausgehen könne. Die Mediziner schoben zwischen den Blick, die Nase und die Hände der Hebamme und zwischen die Wahrnehmung und Physis der Schwangeren die technische Datenvermittlung, Wehenschreiber, Ultraschall, Blutwerte und CTG. Das Gespräch wurde ersetzt durch Datenaufnahmen und Kontrollen. Auf der Grundlage einer technischen Parallelwelt versuchten Mediziner, ein universelles Modell der Geburt zum Vorschein zu bringen, das für das steht, was als „normale Geburt" gelten darf. Zum Beispiel versuchte Emanuel Friedman in den 60er Jahren den „Fortschritt" der Geburt aus den zeitlichen Verläufen der Öffnungen der Cervices einer Vielzahl Gebärender zu bestimmen und einen normalen Geburtsverlauf zu ermitteln. Er produzierte eine wachsende Datensammlung und entwickelte aus den Mittelwerten der Dilatationen pro Zeiteinheit ein Modell der Phasen eines Fortschritts. Für Friedman waren nicht mehr die einzelne Gebärende, ihr Kind und ihre Befindlichkeit das Maß für das, was wohl gut sein könnte, dass er es ihr angedeihen oder nicht angedeihen lassen würde. Der aus Daten konstruierte Geburtsverlauf war es, der nunmehr als Maßstab fungierte, zur Beurteilung von „richtigen" und „falschen" Verläufen, wie auch der „Befindlichkeit" der Gebärenden. Die Ethnologinnen Brigitte Jordan und Emily Martin haben anschaulich geschildert, was der Wahnsinn dieses entkörperten und autoritativen „Wissens" in der klinischen Praxis den Gebärenden abverlangt (Jordan 1997; Martin 1989).

 

Ein neuartiger Typ von Pathologien

 

Hebammen wussten, dass durch solche Verschiebungen in der Beurteilungsgrundlage die Interventionen ausgeweitet werden können. Der statistische Standard und seine einprägsame grafische Visualisierung schufen einen neuartigen Typ von Pathologien, die sich nicht auf ein Vorkommnis im Fortgang einer Geburt beziehen, sondern zustande kommen als Resultat einer Abweichung vom universellen Standard in linearer Zeit und den Durchschnitten versachlichter Dilatation – der Dilatation. Dabei wurde gleichgültig, ob diese Abweichung auf die Eigenart dieser Gebärenden oder auf eine Komplikation zurückgeführt werden kann. Die Kurven des Standardverlaufes vermittelten den Eindruck, auf etwas Biologisches zu verweisen, das wissenschaftlich konstituiert worden war. Die Verschiebung der Referenz für die Beurteilung von der konkreten und unmittelbaren Wirklichkeit zur technisch vermittelten Vision als Instanz, wo sich zeigt, was ist, erzeugte nicht nur eine Dis­tanz zwischen den Geburtshelfern und der Gebärenden, sie verwandelte vor allem langfristig und grundlegend die Praxis der Geburtshilfe.

Die Risikomedizin brachte seit den 70er Jahren eine Radikalisierung dieser Distanznahme der Professionellen von den Wirklichkeiten der Gebärenden. Im Kontrast zur Erweiterung von Gebärmutterausgängen, die noch körperlich feststellbar sind, gründet die Zuschreibung des Status einer Risikoschwangeren oder einer Risikogeburt auf nichts konkret Greifbarem mehr. Denn Risiko besagt nichts, was in der Wirklichkeit vorfindlich ist. Ebenso wenig, wie man an einem Lotterieschein erkennen kann, ob er zu einem Treffer führt, lässt sich am Alter einer 35-jährigen Frau ein objektiver Hinweis darauf finden, ob sie ein Kind mit Down-Syndrom in sich trägt. Der Lotterieschein ist kein Hinweis auf einen Gewinn, und das Alter einer Frau kein Symptom einer Krankheit. Kurzum, es sind keine Ursachen im objektiven Sinne. Entscheidender noch kam hinzu, dass Risiko im Gegensatz zur Gefahr, die wirklich vorliegt und erkennbar ist, ein Konzept von Zeit mit sich bringt, bei dem alle bloß erdenklichen Möglichkeiten in die Gegenwart der Frau hineingeholt werden, als ob es sich um ihre Zukunft handelte.

Indem Risiko die Erwartung von der Wirklichkeit trennt, wird die Schwelle zwischen Gegenwart und Zukunft getilgt. Dies brachte den Handlungsdruck vorwegnehmenden Eingreifens in die Geburtshilfe und zerstreute die ruhige Aufmerksamkeit auf die Frau und auf das, was sich im Verlauf des Geschehens zeigt. Ohne objektiven, im Wirklichen vorfindbaren Grund drängen Risiken darauf, dass etwas getan oder beliebig Vorstellbares bedacht werden müsse. In diese Leerstelle setzte sich die Verdichtung von Maßnahmen zur Prävention des schlimmsten, denkbaren Falles. Aus einem Geschehen, das in den allermeisten Fällen ohne eine vorgreifende Intervention gut ausgeht, wurde ein riskantes Unterfangen, auf dessen guten Ausgang niemand vertrauen darf, und das eine ständige Überwachung und vorgreifende Risikosteuerung durch Interventionen verlangt. Das Konzept des Risikos in der Geburtsmedizin löste die enge Verbindung der Geburtsbegleitung zu einem körperlich im Konkreten erkennbaren Geschehen noch grundlegender als die Normen einer Medizin nach Emanuel Friedman. Die Gewissheit eines unmittelbaren und konkreten Urteils der Hebamme wie auch der Gebärenden musste radikaler verloren gehen, da Risiken ohne greifbare und vorfindliche Ursachen vergegenwärtigt werden müssen. Risiko war also geeignet, den Sinn für das Vertrauen in körperlich wahrnehmbare Befindlichkeiten weiter zu lähmen. Es machte das, was Hebammen konnten, undenkbar: das ruhige, in das Vermögen der Frauen und ihrer Kinder vertrauende Abwarten.

Der Gegenstand des Wissens von Hebammen – die Kraft der lebendigen, individuellen Natur der Frau – wird infolge der Geburtsmedizin in zwei Schüben aus dem Wissen verdrängt. Für die Medizin eines Emanuel Friedman war für die Beurteilung und Praxis nicht das wirkliche Geschehen und das Vertrauen in das Vermögen der Gebärenden entscheidend, sondern eine universelle, technisch vermittelte, durchschnittliche Geschwindigkeitskurve der Cervix-Öffnung. Die Begründung für einen Eingriff oder für die Prognose eines guten Geburtsverlaufs hat Friedman nicht im unmittelbar Wirklichen gesucht, sondern in seinen Graphen. Die Risikomedizin hat die Distanz zwischen den Geburtshelfern und dem physischen Geschehnis noch weiter vergrößert. Die Interventionen werden in der Risikomedizin nicht durch vorliegende Pathologien begründet, also durch objektive Ursachen, und auch nicht mehr durch scheinbare Pathologien, also durch „Ursachen", die im Abgleich des physischen Geschehens mit einer Norm konstruiert werden, sondern deshalb, weil beispielsweise bei 1.000 Frauen im Alter von 35 Jahren drei Kinder mit Down-Syndrom zur Welt gekommen waren. Beim Risiko gibt es keine kausalen Zusammenhänge mehr, die das Handeln leiten könnten, sondern nur noch die Parallelitäten von Ereignissen: Die Schwangere ist 35 Jahre alt, ebenso wie es 1.000 andere Frauen waren, von denen drei ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt gebracht hatten. Diese abstrakte Zugehörigkeit zu einer Menge genügt, für die Schwangere ein Risiko zu konstatieren, dessen Evidenz unter anderem daran bemessen wird, ob die Anzahl 1.000 groß genug ist, dass die Methoden der Statistik angewandt werden können.

 

Abwartende Geburtshilfe

 

Hebammen sollten darüber reden, wie sie mit diesen Schüben der Distanzierung umgehen, wenn sie sich daran machen, eine eigenständige Hebammenkunst auszubauen. Das Verführerische und Kontraproduktive von Leitlinien könnte darin liegen, dass sie den Konflikt, der zwischen Hebammenkunst und Medizinern bestand, in einer symbolischen Form aufgreifen, während sie zugleich die Haltung und die sich daraus ergebende Sichtweise und Denkweise ihrer Antagonisten bestätigen. Sie versuchen zwar eine Neubewertung von Interventionen, kritisieren aber nicht die Konzepte der Geburt, die ihnen zugrunde liegen. Zur Veranschaulichung: Es geht Hebammenwissenschaftlerinnen um eine Verschiebung von Schwellenwerten, beispielsweise wann wird eingeleitet und mit welchen Maßnahmen. Indem sie sich jedoch auf eine Debatte um die Verschiebung dieser Schwellenwerte einlassen, sind sie dabei, ein Modell der Geburt zu bekräftigen, das von Geburtsmedizinern in die Welt gesetzt wurde. Erst der berechnete Geburtstermin definierte Abweichungen, die als Pathologie interpretiert wurden, beispielsweise als „die Übertragung". Hebammenwissenschaftlerinnen bekräftigen also unter der Hand, dass es Sinn macht, etwas wie einen universellen Termin und die Spanne der Abweichung als Bezugsgröße für Pathologien aufzufassen, Pathologien, die nicht erst einmal diagnostisch begründet werden müssten.

Leitlinien erweitern nicht das Wissen um konkrete Geburtsverläufe und das ihnen entsprechende vernünftige Handeln der Hebamme. Sie behandeln zentrale Fragen der Praxis überhaupt nicht. Vielmehr verschieben sie die Frage einer guten, konkreten Praxis auf das abstrakte Feld der Ordnung und Bewertung von Texten, die jeweils scheinbar isolierbare Sachverhalte – Berechnung des Geburtstermins, Wahl des Einleitungsregimes, Applikation spezifischer Maßnahmen – in der Forschung untersucht haben. Um Beobachtungen, Fragen, Zusammenhänge, die vom Geschehen her denken, vom Kind her und der Gebärenden, ans Licht zu bringen, müsste man hinter das klinische Modell zurückgehen, das die Mediziner ausgearbeitet hatten. Dieser Schritt wird durch Leitlinien verstellt, da sie erstens die kritische Position für sich beanspruchen und zweitens die Distanz der Medizin zum konkreten Geschehen, zur einzelnen Gebärenden übernehmen und verfestigen.

Die Frage, was es braucht, damit eine Geburt gelingt, und die Hebamme diese Frau gut betreuen kann, kann durch Leitlinien nicht thematisiert werden. Die Begründung des Tuns und Lassens der Hebammen stammt bei Leitlinien aus der Evaluation von Publikationen, sie geht nicht aus von dem, was sich der Hebamme in der umsichtigen Beobachtung und Beurteilung zeigt, also einen Anhaltspunkt im Wirklichen hat. Die dringlichen Fragen nach der Natur der Hebammenkunst werden somit abgeschoben: Was braucht diese Frau? Was ist gut und normal für genau diese eine Gebärende? Und warum, wann und wie muss man dann manchmal doch eingreifen? An welchen charakteristischen Zeichen kann man das erkennen? Alles dies sind Fragen, die zum situativen, praxisleitenden Wissen beitragen, einem Wissen, das schon lange nicht mehr ernsthaft zur Sprache kommen konnte. Leitlinien verschieben solche Fragen, die auf eine gute Unterstützung der einzelnen Gebärenden hinauslaufen, in einen Raum, der sich von der guten Praxis im Einzelnen gelöst hat. Wenn das „Niveau" der Leitlinie, S1 bis S3, verwechselt werden kann mit der erfahrbaren, in der Wirklichkeit gründenden Güte dessen, was eine Hebamme tut, um ihre Gebärende zu unterstützen, stehen wir vor einem Bruch in der Vernunft.

Leitlinien haben eine verrückte symbolische Wirkmacht: Mit ihnen lassen sich „unbegründete" Interventionen kritisieren – solche ohne statistische Evidenz oder mit mangelnder statistischer Evidenz. Damit stoßen sie vor in die Mitte der Risikomedizin. Gleichzeitig provozieren sie jedoch ein Handeln, das die Leitlinie als Kommando übernimmt. Denn Leitlinien erheben statistische Evidenz und damit das Modell der Risikomedizin zum Maßstab für wissenschaftlich gültige Urteile. Damit machen sie das in der unmittelbaren Wirklichkeit gründende, immer singuläre, konkrete, an der einzelnen Gebärenden sich orientierende Urteil der Hebamme nichtig. Rainhild Schäfers hat diesen rätselhaften Widerspruch von Plausibilität und Kontraproduktivität von Leitlinien als Modell für die Geburtshilfe am Beispiel der Wirkung der Leitlinie für „Terminüberschreitung" hervorragend sichtbar gemacht.

 

Das Fortleben unbearbeiteter Konflikte

 

Wenn ich in die Geschichte der Hebammenkunst zurückschaue, bin ich jedes Mal frappiert darüber, dass die alten Hebammen so wortkarg waren. Sowohl, als die Mediziner in ihre Praxis und Kunde hineinzudringen begannen, und die Grundlagen der Hebammenkunst zur Disposition gestellt wurden, ebenso in vielen Interviews, in denen Hebammen ihre älteren Kolleginnen um Geschichten von Erfahrungen und Erlebnissen fragten. Am meisten beschäftigt mich aber, weshalb das, was Hebammen selbstverständlich gemacht hatten und mit gutem Erfolg konnten, im Aufstieg der Geburtsmedizin und Risikomedizin jeden anerkannten Status verlor. In einem Interview, das Claudia Toengie mit der Hebamme Anna Zberg machte, erzählte diese von ihrer Erfahrung in der Klinik, in der sie ausgebildet wurde und länger praktiziert hatte, dass das medizinische Vokabular als Deutungsmuster ihr nicht erlaubte, das zu formulieren und auszudrücken, was ihr in der Betreuung von Gebärenden wichtig war und gut und richtig erschien: „Ich hätte nichts sagen können, wovon es geheißen hätte, ja, das stimmt" (Toengie 1998, S. 136). In der Distanznahme zwischen den Hebammen und den Frauen, die sie betreuten, steckt eine Gewalt, von der wir noch viel zu wenig wissen, eine Ankränkung des Wissensgrundes und der Haltung von Hebammen. Ich fürchte, wenn die Hebammenwissenschaft sich nicht mit diesen Ankränkungen auseinandersetzt, wird sie den Standpunkt ihrer Kolonialherren einnehmen.

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 08/2014

Hinweis

Der Artikel fußt auf dem Vortrag, den Prof. Dr. Barbara Duden als Einführungsvortrag unter dem Titel „Die Grundlagen des Hebammenwissens erinnern" auf dem 2. DHZCongress halten wollte. Sie musste ihn leider absagen. Die Redaktion der DHZ bedankt sich für die Möglichkeit, ihn hier abzudrucken.

Literatur

Jordan, B.: Authoritative Knowledge and its Construction. In: Davis-Floyd, R. E.; Sargent, C. (Hrsg): Childbirth and Authoritative Knowledge – Cross-Cultural Perspectives. University of California Press. 55–79. Berkeley (1997)

Kühberger, J.: Kindsbewegungen: Das Wissen der Frauen. DHZ. 6: 42–44 (2014)

Martin, E.: Die Frau im Körper. Weibliches Bewusstsein, Gynäkologie und die Reproduktion des Lebens. Campus. Frankfurt am Main (1989)
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