Leseprobe: DHZ 08/2017
Kompetenzprofil

Eckpfeiler der Akademisierung

Für den berufsbegleitenden Studiengang „Angewandte Hebammenwissenschaft“ in Stuttgart wurde ein Kompetenzprofil entwickelt, auf dem der Lehrplan aufbaut. Das Studienkonzept konzentriert sich damit weniger auf den Input von Inhalten, als auf das gewünschte Outcome von Fähigkeiten. Julia Butz, Kornelia Walper, Sonja Wangler, Prof. Dr. rer. pol. Anke Simon,
  • Zum Kompetenzprofil der Hebamme gehört unter anderem ihre Arbeit als Teamworkerin, als Kommunizierende und auch als Lehrende und Lernende.

In Stuttgart entsteht der neue Studiengang „Angewandte Hebammenwissenschaft“: Er wird im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojektes „Future Education in Midwifery“ (FEM) als dualer, berufsbegleitender Studiengang an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in enger Kooperation mit langjährigen Praxispartnern entwickelt. Der Studiengang richtet sich an bereits beruflich qualifizierte Hebammen und Entbindungspfleger. Er ermöglicht eine hochschulische Weiterbildung und -qualifizierung in unterschiedlichem zeitlichem und fachlichem Umfang. Die Regelstudienzeit umfasst sechs Semester und schließt mit dem Bachelor of Science ab (B.Sc., 210 ECTS-Punkte). Bereits seit den 1990er Jahren spricht sich der Deutsche Hebammenverband, gestützt auf wissenschaftliche Befunde der Berufsfeldforschung, für eine Vollakademisierung für Hebammen und Entbindungspfleger aus (DHV 2012). Denn die Anforderungen an den Hebammenberuf sind komplexer geworden (AG Hochschulbildung der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. DGHWi 2015). Im vergangenen Jahr beschloss nun der Deutsche Bundestag eine Umsetzung der Forderung bis 2020. Gleichzeitig entsteht damit ein international anerkannter Berufsabschluss (Deutscher Bundestag 2016). Hierfür und um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, ist es wichtig, ein System vergleichbarer Abschlüsse zu schaffen. Da es jedoch meist unterschiedliche Qualifikationen und Zugangsarten zu einem Berufsfeld gibt, sind gerade auf europäischer Ebene für eine gute Strukturierung und weitere Professionalisierung die benötigten Kompetenzen von Bedeutung (Kraft 2010).

 

ECTS – was ist das?

 

Das European Credit Transfer System (ECTS) ist ein Credit-System, das in Europa zur Akkumulierung und Übertragung von Hochschulleistungen angewendet wird. Es verbessert die Vergleichbarkeit von Qualifikationen und Lerneinheiten und soll dadurch die Mobilität von Studierenden erleichtern (European Commission 2017).

 

Kompetenzen als Vergleichsfaktor

 

Die EU hat beschlossen, die schulische sowie berufliche Ausbildung der Mitgliedsstaaten nicht zu vereinheitlichen, das bringt zwangsläufig nationale Unterschiede hinsichtlich der Bildung mit sich. Basiert die Entwicklung von Bildungsprogrammen auf dem Konzept der Kompetenzorientierung, sind Wissen und Fähigkeiten jedoch trotzdem auch über nationale Grenzen hinaus vergleichbar (Egetenmeyer 2012).

Unter Kompetenzen werden häufig ganz allgemein die Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden, über die Mitarbeitende verfügen müssen, um die an sie gestellten Anforderungen im Beruf bewältigen zu können. Früher wurden Bildungs-, Unterrichts- und Ausbildungskonzepte sowie Curricula primär danach entwickelt, welche Inhalte für einen bestimmten Themenbereich oder Beruf vermittelt werden müssen. Aktuell wird aber eher danach gefragt, was erforderlich ist, um der zu erwerbenden Qualifikation und den damit verbundenen Aufgaben gerecht werden zu können (Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen/AK DQR) 2011). Das heißt, die Entwicklung eines Studienkonzepts konzentriert sich viel weniger auf den Input, als auf das gewünschte Outcome.

 

Das Kompetenzprofil als Grundlage

 

Einer der ersten Arbeitsschritte des Förderprojekts bestand darin, das Kompetenzprofil auszuarbeiten. Dieses wird in der Literatur bezüglich der Studiengangsentwicklung ausdrücklich empfohlen, um eine verbesserte Lehre gewährleisten zu können (Scharper 2012). Kompetenzen sind dabei definiert als eine Kombination aus Wissen und Einstellungen (Pädagogischer Fachbeirat des Deutschen Hebammenverbandes/PFB; DHV 2008). Hinzu kommen kognitive, meta-kognitive, soziale, ethische, interkulturelle und praktische Fähigkeiten, die zur beruflichen Ausübung befähigen (AG Hochschulbildung DGHWi 2015). Darüber hinaus bilden Kompetenzprofile den Rahmen für die weitere curriculare Arbeit in der Lehre, die sich an den Forderungen der Bologna-Reform orientieren (PFB DHV 2008).

Die zentrale Frage für die Konzeption des Kompetenzprofils war, welche Kompetenzen sich die AbsolventInnen mit Beendigung des Studiums angeeignet haben sollten. Dabei wurde keine grundlegende Neugestaltung der Kompetenzen angestrebt, sondern auf  Vorarbeiten der Literatur aufgebaut. Die Grundlage bilden die Qualifikationsziele der AG Hochschulbildung der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e. V. (DGHWi). Diese sollen zukünftige Hebammen und Entbindungspfleger befähigen, sowohl die Verantwortung bei Geburten zu übernehmen, als auch ihr eigenes Handeln auf ethische Grundsätze auszurichten und selbstständig kritisch zu reflektieren und zu evaluieren. Dabei werden neben Handlungskompetenzen auch Persönlichkeitsentwicklung und evidenzbasierte Vorgehensweisen gefördert, um eine professionelle Berufsausübung gewährleisten zu können (AG Hochschulbildung DGHWi 2015). Des Weiteren wurde bei der Konzeption das „Kompetenzprofil Hebamme“ vom pädagogischen Fachbeirat des Deutschen Hebammenverbandes eingebettet.

 

Verknüpfung von Theorie und Praxis

 

Die Kompetenzbasierung wird als Verknüpfung von Theorie und Praxis verstanden, die den Rahmen für zukünftige Lern- und Lehrkonzepte darstellt. Insgesamt besteht das Profil aus acht Kompetenzen, die in weitere Kriterien untergliedert sind. Diese zeigen das Niveau der Kompetenzausführung an (DHV 2008). Das offen angelegte Curriculum des Deutschen Hebammenverbandes wird für die Entwicklung dieses Studiengangs durch die Hinzunahme zusätzlicher Kompetenzprofile weiter entwickelt.

Strukturell wird auf das Rollenmodell CanMEDS zurückgegriffen, das in einem mehrjährigen Prozess entwickelt und empirisch validiert wurde. 1990 wurde CanMEDS erstmalig als Kompetenzprofil für ÄrztInnen in Kanada vorgestellt, um den sich dynamisch verändernden Anforderungen des Gesundheitssystems gerecht zu werden. Die aktuellen Anforderungen nach einer Outcome-orientierten Studiengangsgestaltung stärkt dabei die Bedeutung des CanMEDS (Reiber 2012). Zur Entwicklung des Kompetenzprofils wird das Modell in seiner dritten Auflage von 2015 genutzt. Erarbeitet wurde das aktuelle Konzept in Zusammenarbeit mit zwölf medizinischen Ausbildungsorganisationen, die alle das Kompetenzprofil an ihre jeweiligen Bedürfnisse angepasst haben und verwenden. International ist CanMEDS ein anerkanntes und angesehenes Bezugssystem, das in mehreren Ländern sowohl in der Medizin als auch in weiteren Gesundheitsfachberufen als professionelles Kompetenzprofil verwendet wird (Frank et al. 2015). Aufgrund der allgemein gehaltenen Rollen und Schlüsselkompetenzen ist es übertragbar auf andere Teildisziplinen der Gesundheitsfachberufe (Meyer et al. 2009; Flaiz et al. 2016).

CanMEDS umfasst sieben Rollen, denen weitere Schlüsselkompetenzen zugeordnet sind (siehe „Die Kompetenzbereiche“). Die Rolle der ExpertInnen ergibt sich dabei aus der Schnittmenge der sechs vorausgegangenen. Alle Rollen stehen sowohl einzeln für sich als auch in Zusammenhang mit den weiteren Kompetenzen (Frank et al. 2015).

 

Kompetenzbereiche der Hebamme

 

Die Auswertung von 15 ExpertInnen-Interviews ergab folgende Rollen beziehungsweise Kompetenzbereiche (siehe auch Abbildung):

 

➊ Die Hebamme als Fachbereichsexpertin:

 

Die Hebamme ist Expertin für die physiologischen Abläufe in der Zeit von Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Stillzeit und für das Neugeborene. Dabei verfügt sie über ein breites und integriertes Wissen einschließlich wissenschaftlicher Grundlagen sowie über ein kritisches Verständnis der wichtigsten Theorien und Methoden in der Hebammenarbeit. Sie übernimmt in diesem Bereich jegliche Tätigkeiten und Aufgaben. Über die Physiologie hinaus erkennt sie als Expertin Regelabweichungen und Pathologien und kann diese einschätzen. Sie ist in der Lage komplexe, fachbezogene Probleme und Lösungen gegenüber Fachpersonen argumentativ zu vertreten und mit ihnen weiterzuentwickeln.

 

➋ Die Hebamme als Kommunikatorin:

 

Einen Schwerpunkt der Hebammenarbeit bildet die Begleitung und Betreuung von Schwangeren und jungen Familien, dazu gehören auch Beratung und Anleitung. Hierbei kommuniziert die Hebamme sowohl mit Schwangeren und jungen Familien als auch innerhalb und außerhalb der Berufsgruppe (intra- und interprofessionelle Kommunikation). Sie wendet dabei verschiedene Formen der Kommunikation an.

 

➌ Die Hebamme als Lernende und Lehrende:

 

Die Hebamme arbeitet evidenzbasiert und reflektiert, wobei sie aktuelle Forschungsergebnisse einbezieht. Sie erweitert ihr Wissen durch lebenslanges Lernen und gibt das Wissen an andere weiter, zum Beispiel als Praxisanleiterin. Sie bewertet ihre Lern- und Arbeitsprozesse eigenständig und gestaltet diese nachhaltig. Sie identifiziert Forschungsbedarf zu Fragen der Hebammenwissenschaft, beteiligt sich an Forschungsprojekten und verfasst wissenschaftliche Arbeiten.

 

➍ Die Hebamme als Teamworkerin:

 

Sie arbeitet effektiv, interdisziplinär und kollegial mit dem Ziel der optimalen frauen- und familienzentrierten Versorgung von Mutter, Kind und Familie. Die Betreuung in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett führt sie teamorientiert durch, arbeitet an Schnittstellen mit ÄrztInnen und weiteren Heil- und Gesundheitsfachkräften zusammen.

 

➎ Die Hebamme als Managerin:

 

Die Hebamme arbeitet in Klinik und Freiberuflichkeit wirtschaftlich. Sie geht mit personellen und materiellen Ressourcen verantwortungsvoll um. Sie beschreibt die Versorgung der Frauen und Familien und führt sachlich sowie fachlich richtige Dokumentationen durch. Sie wendet qualitätssichernde Maßnahmen und Fehlermanagement an. Im Hinblick auf ihre eigenen Ressourcen und die Planung ihrer Karriere führt die Hebamme Selbstmanagement durch.

 

➏ Die Hebamme als Berufsgruppenvertreterin:

 

Die Hebamme arbeitet nach ethischen Grundsätzen. Sie kennt und reflektiert die Berufsethik und hält die einschlägigen Rechtsvorschriften ein. Sie verfolgt die aktuellen fachlichen Entwicklungen, hat Kenntnisse zur Weiterentwicklung der Hebammenwissenschaft und fördert so die Entwicklung und das Ansehen des Berufsstandes.

 

➐ Die Hebamme als Health Advocate:

 

Die Hebamme versteht sich als Anwältin der Frau und Familie in Gesundheitsfragen. Sie führt Gesundheitsförderung und Prävention durch und integriert dabei die Ressourcen der Frauen und Familien.

 

➑ Persönliche Kompetenz:

 

Idealerweise sollten Hebammen und Entbindungspfleger soziale Bestandteile mitbringen. Dazu zählen die Befragten in den ExpertInneninterviews Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, eigenständiges Handeln, Durchsetzungsfähigkeit, psychische Belastbarkeit sowie Menschenkenntnis und Feinfühligkeit.

 

Das Vorgehen bei der Entwicklung

 

Für den geplanten Studiengang ist besonders die Fundierung des Kompetenzprofils von Interesse. Um ein transparentes Kompetenzprofil entwickeln zu können, wurde im Projekt folgende Vorgehensweise gewählt:

  1. Orientierung an den Qualifikationszielen der AG Hochschulbildung der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e. V. (DGHWi 2015), dem „Kompetenzprofil Hebamme“ des pädagogischen Fachbeirats des Deutschen Hebammenverbandes (DHV 2008) sowie am Original-CanMEDS in seiner neuesten Auflage (Frank et al. 2015), der deutschen Übersetzung für die Medizin (Meyer et al. 2009) und der schweizerischen Vorlage für die Gesundheitsfachberufe (Sottas 2011).
  2. Anschließend folgte eine umfassende Fachliteraturrecherche zu Kompetenzen im Allgemeinen, sowie eine Sichtung der Kompetenzprofile bereits angelaufener Studiengänge sowohl in Deutschland als auch international.
  3. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden zusammengetragen, sortiert und als Kernaussagen den jeweiligen Rollen des CanMEDS-Modells zugeordnet.
  4. Um eine Validierung der Ergebnisse gewährleisten zu können, wurden im Rahmen der Evaluationsforschung des Projektes Future Education in Midwifery (FEM) von November 2015 bis Januar 2016 15 ExpertInneninterviews mit VertreterInnen aus Praxis, Wissenschaft, Lehre und Ausbildung durchgeführt. Diese dienten unter anderem der Fundierung der Kompetenzprofile von Studierenden.
  5. Die Aussagen und Erkenntnisse wurden thematisch geordnet und den entsprechenden Rollenbeschreibungen des CanMEDS zugeordnet (siehe Kasten und Abbildung).
  6. Mit Hilfe der Interviewergebnisse konnten die Kompetenzen des CanMEDS auch für die Hebammenwissenschaft validiert und verwendet werden. Das entwickelte Kompetenzprofil nach CanMEDS wurde im Rahmen der Studiengangsentwicklung um eine weitere Komponente ergänzt, nämlich die persönliche Kompetenz. Die Bedarfsanalyse zu den benötigten Kompetenzen bestärkt die Forderung des Hebammenverbandes nach einer Vollakademisierung für Hebammen und Entbindungspfleger. Zusätzlich kann sie die Grundlage für weitere curriculare Arbeit sowie interprofessionelle Module zur Aus-, Fort- oder Weiterbildung darstellen (Mahler et al. 2012).

 

Herausforderungen bei der Erstellung

 

Die Ausarbeitung eines Kompetenzprofils wird erschwert durch die mitunter uneinheitliche disziplinübergreifende Verwendung des Begriffs. Des Weiteren können kulturelle Differenzen im Sprachgebrauch zu einer unterschiedlichen Gebrauchsweise führen (Pehlke-Milde 2009).

Überdies könnte sich die Trennschärfe zwischen den einzelnen Kompetenzen als Problem erweisen. In der praktischen Anwendung konnten Fähigkeiten, die in der Lehre vermittelt werden sollen, mehreren Kompetenzen zugeordnet werden. In den ExpertInneninterviews ließen sich auch inhaltliche Überschneidungen feststellen.

Das resultierende Kompetenzprofil konnte zur Konzeption des Curriculums und des Modulhandbuchs herangezogen werden. Somit stellt es die Grundlage des Studiengangs „Angewandte Hebammenwissenschaft“ dar.
Die angesetzte, umfangreiche Evaluation des Studienganges wird zeigen, ob die Kompetenzen umgesetzt werden können oder weiterer Optimierungsbedarf besteht.

Rubrik: Ausbildung & Studium | DHZ 08/2017

Literatur

AG Hochschulbildung der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. (DGHWi): Qualifikationsziele für hochschulisch qualifizierte Hebammen bzw. Entbindungspfleger. In: Zeitschrift für Hebammenwissenschaft 03 (1)/2015, S. 9–12

Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen (AK DQR): Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen 2011. In: www.deutscherqualifikationsrahmen.de (letzter Zugriff: 13.2.17)

Deutscher Bundestag: Bericht über die Ergebnisse der Modellvorhaben zur Einführung einer Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten. In: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/094/1809400.pdf (letzter Zugriff: 10.11.2016)
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