Leseprobe: DHZ 10/2015
Plazentare Transfusion

Eine Frage des Niveaus?

Das verzögerte Abnabeln und das postpartale Lagern des Kindes unter Plazentaniveau sind seit 2012 in den Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften und in den WHO-Empfehlungen enthalten. Eine Multicenterstudie aus Argentinien stellt diese Praxis in Frage, da die Ergebnisse darauf hinweisen, dass die plazentare Transfusion unabhängig vom Niveau des Kindes stattzufinden scheint. Eine kritische Diskussion relevanter Studien ist nötig, zumal die Ergebnisse direkten Einfluss auf die ersten Lebensminuten des Kindes und das Handeln einer Hebamme haben. Dr. phil. Beate Ramsayer,
  • Die plazentare Transfusion scheint unabhängig vom Niveau des Kindes stattzufinden.

Seit 2012 empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die kindliche Nabelschnur zunächst eine bis drei Minuten nach der Geburt auspulsieren zu lassen und im Anschluss daran zu durchtrennen. Während dieser Zeit soll das Kind auf dem Niveau der Plazenta oder darunter gehalten werden (WHO 2012). Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftliche Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) empfiehlt bei der Betreuung gesunder reifer Neugeborener in der Geburtsklink, ein reifes Neugeborenes nach einer bis eineinhalb Minuten oder nach Auspulsation der Nabelschnur abzunabeln, jedoch in Übereinstimmung mit der WHO (2012), das Kind vor dem Abnabeln nicht über dem Plazentaniveau zu halten (Herting et al. 2012). Dieser Teil der Empfehlung hat eine große Relevanz für das praktische Handeln der Hebamme bei der Geburt, da es den Zeitraum umfasst, in dem der Erstkontakt zwischen der Mutter und ihrem Neugeborenen stattfindet.

 

Plazentare Transfusion

 

Die plazentare Transfusion findet zwischen der Geburt des Kindes und der Geburt der Plazenta statt. Während der plazentaren Transfusion gelangt über die pulsierende Nabelschnur Blut aus der mütterlichen Plazenta zum Kind und führt so zu einem erhöhten postnatalen kindlichen Blutvolumen. Die Zunahme der Blutmenge wird übereinstimmend berichtet, die Angabe zur Höhe variiert jedoch. Vain et al. (2014) beschrieben eine Zunahme von 14 bis 15 Milliliter pro Kilogramm bei einem kindlichen Geburtsgewicht von 3,5 Kilogramm. Andere Quellen nennen eine Zunahme, die zwischen 20 bis 40 Milliliter pro Kilogramm liegt (Farrar et al. 2011; Wyllie & Niermeyer 2008). Durchschnittlich erhöht sich die Hämoglobin-Konzentration im kindlichen Blut nach einer erfolgten plazentaren Transfusion um 2,17 Gramm pro Deziliter (McDonald & Middleton 2008), weil über ein erhöhtes kindliches Blutvolumen mehr Erythrozyten, mehr Hämoglobin und damit mehr Sauerstoffträger im kindlichen Blut vorhanden sind. Dies spielt nach einer Geburt eine wichtige Rolle, da häufig ein physiologischer Sauerstoffmangel beim Kind vorliegt. Über den normalen Sauerstoffkompensationsmechanismus nach der Geburt weiß man, dass es ungefähr fünf Minuten dauert, bis eine arterielle Sauerstoffsättigung von mindestens 80 Prozent erreicht wird (Mariani et al. 2007). Dadurch wiederum erklärt sich, dass die plazentare Transfusion zu einer verbesserten kindlichen Sauerstoffversorgung führt und besonders in den ersten Lebensminuten nach der Geburt eine bessere Adaptation an das extrauterine Leben ermöglicht. Kinder scheinen auch langfristig davon zu profitieren, weil sie über ein geringeres Risiko für eine Anämie im Alter von zwei bis sechs Monaten nach der Geburt verfügen als Kinder, bei denen keine plazentare Transfusion stattgefunden hat. Dies zeigten Ergebnisse von Untersuchungen, bei denen Kinder nach erfolgter plazentarer Transfusion noch sechs Monate nach der Geburt über bessere Ferritinspiegel verfügten (McDonald & Middleton 2008; Hutton & Hassan 2007). Gleichzeitig stehen auch mögliche Nebenwirkungen nach der plazentaren Transfusion mit dem erhöhten kindlichen Blutvolumen in Zusammenhang. So ist beispielsweise das Risiko für den Erwerb eines postpartalen Ikterus erhöht (McDonald & Middleton 2008).

 

Wie kann das Neugeborene profitieren?

 

Es liegt auf der Hand, dass ein abwartendes Verhalten in Bezug auf das Abklemmen der Nabelschnur notwendig ist, wenn ein Neugeborenes von der plazentaren Transfusion profitieren soll. Nur wenn der Blutfluss durch die Nabelschnur nicht am Fließen gehindert wird, kann die plazentare Transfusion stattfinden. In der Praxis gehen die Empfehlung der WHO (2012) und der AWMF (Herting et al. 2012), das Neugeborene hierbei auf plazentarem Niveau zu halten, jedoch mit einem nicht unerheblichen Problem einher. Das bedeutet nämlich, dass ein Neugeborenes nicht auf den Bauch der Mutter gelegt werden oder von ihr in den Arm genommen werden kann, weil es dann über dem plazentaren Niveau liegt. Dies könnte in der Praxis zu nachfolgender Situation führen.

Hebamme: „Nein, nehmen Sie Ihr Kind jetzt bitte noch nicht in den Arm und legen Sie es bitte noch nicht auf Ihre Brust. Warten Sie damit lieber noch ein wenig ab. Wissen Sie, im Moment fließt noch Blut aus Ihrem Mutterkuchen zu Ihrem Kind, und das kann am besten stattfinden, wenn Ihr Kind nun auf der Höhe Ihres Mutterkuchens oder darunter liegt …". Die Umsetzung in der Praxis könnte also bedeuten, dass eine Mutter daran gehindert wird, den Erstkontakt zu ihrem Kind so zu gestalten, wie sie es intuitiv gern tun würde, weil ihr gegenüber eine Handlungsempfehlung ausgesprochen wird. Es könnte zu einer Verunsicherung der Mutter und einem eingeschränkten Bonding führen.

Dieses Problem ist gar nicht so weit hergeholt, da in der Literatur beschrieben wird, dass insbesondere die Empfehlung, das Kind auf plazentarem Niveau oder darunter zu halten, zu Problemen in der praktischen Durchführbarkeit führte und so als Konsequenz gänzlich auf das Auspulsierenlassen der Nabelschnur verzichtet wurde (Hutchon 2010). Daher wurde bereits in der Vergangenheit ein Augenmerk auf die Frage gelegt, ob diese Empfehlung als evidenzbasiert eingestuft werden kann oder nicht.

So wurde beispielsweise bereits im Jahr 2010 eine Cochrane Studie durchgeführt, in der randomisiert-kontrollierte Studien in Bezug auf alternative Positionen des Kindes vor dem Abklemmen der Nabelschnur miteinander verglichen werden sollten (Palethorpe et al. 2010). Allerdings war das Ergebnis der Studie sehr ernüchternd, da keine einzige Studie gefunden wurde, die sowohl verschiedene Positionen des Kindes während der plazentaren Transfusion untersuchte, als auch ein randomisiert-kontrolliertes Studiendesign aufweisen konnte.

 

Multicenterstudie aus Argentinien

 

Daher füllen die Ergebnisse einer aktuellen randomisierten Multicenterstudie eine bestehende Forschungslücke (Vain et al. 2014). Sie sind insofern von hoher praxisrelevanter Bedeutung, da sie dafür sprechen, die plazentare Transfusion abzuwarten und gleichzeitig vermuten lassen, dass das Niveau, auf dem ein Kind während der plazentaren Transfusion nach der Geburt gehalten wird, weniger entscheidend ist, als bislang angenommen wurde. Diese Studie wurde durch den argentinischen Pädiater Nestor Vain und seine KollegInnen in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht (Vain et al. 2014). Vain und sein Team führten eine Multicenterstudie durch, in die drei argentinische Krankenhäuser eingebunden wurden. Frauen wurden nach ihrer Aufnahme zur Geburt in der Klinik um ihre freiwillige Zustimmung zur Studienteilnahme gebeten. Die Einschlusskriterien umfassten, dass die Frauen eine unkomplizierte Einlingsschwangerschaft hatten, sich am Geburtstermin befanden, die Geburt noch nicht allzu weit fortgeschritten war und die Aufnahmeuntersuchungen eine unkomplizierte vaginale Geburt erwarten ließen. Somit wurden 688 Frauen rekrutiert. Anschließend erfolgte eine computergestützte Randomisierung. Die Frauen wurden entweder der Gruppe zugeordnet, in der das Kind direkt nach der Geburt für zwei Minuten auf dem Niveau der Plazenta gehalten (Plazentaniveau-Gruppe) oder auf den Bauch der Mutter gelegt wurde (Abdominalniveau-Gruppe). Letztlich wurden 197 Kinder der Frauen aus der Plazentarniveau-Gruppe und 194 Kinder der Frauen aus der Abdominalniveau-Gruppe in die Studie eingeschlossen, da 142 Frauen im Verlauf der Geburt ihre anfängliche Zustimmung zurückzogen und 155 Geburten komplikationsreicher als erwartet verliefen und damit nachträglich ausgeschlossen wurden (beispielsweise Kaiserschnittgeburt oder kurze Nabelschnur des Kindes). Bei den in die Studie einbezogenen Kindern erfolgte direkt nach der Geburt innerhalb von 15 Sekunden ein erstes Wiegen und genau zwei Minuten nach der Geburt ein zweites Wiegen des Kindes. Aus der Differenz des Gewichtes wurde dann die erfolgte plazentare Transfusion errechnet, wobei zugrunde gelegt wurde, dass 1 Milliliter Blut 1,05 Gramm wiegt.

Hierbei wurden eine durchschnittliche Zunahme von 56 Gramm in der Plazentarniveau-Gruppe und eine durchschnittliche Zunahme von 53 Gramm in der Abdominalniveau-Gruppe errechnet. Umgerechnet in Milliliter erfolgte in der Studie eine durchschnittliche Zunahme des kindlichen Blutvolumens während der plazentaren Transfusion um 50 bis 53 Milliliter Blut. Der Unterschied von drei Gramm zwischen den beiden Vergleichsgruppen wurde von den Autoren so interpretiert, dass die Position des Neugeborenen während der plazentaren Transfusion als vernachlässigbar eingestuft werden kann. Sie zogen die Schlussfolgerung, dass Müttern auch während der plazentaren Transfusion empfohlen werden kann, ihr Kind auf den Bauch oder die Brust zu legen.

 

Limitierungen der Studie

 

Die Ergebnisse von Nestor Vain und seinen KollegInnen sprechen dafür, dass die plazentare Transfusion unabhängig vom Niveau des Kindes stattzufinden scheint. Dies könnte damit zusammenhängen, dass über die Pulsation das Blut von der Plazenta zum Kind transportiert wird und dies auch gegen die Schwerkraft funktioniert. Dieser Gedanke hat eine gewisse Logik, da auch nach dem physiologischen Auspulsieren der Nabelschnur keine plazentare Transfusion mehr stattfindet. Betrachtet man nach der Geburt die frisch geborene Plazenta, kann man oft trotzdem noch Blut in den plazentaren Gefäßen beobachten. Wäre einzig und allein die Schwerkraft der Grund dafür, dass die plazentare Transfusion funktioniert, wäre es unerheblich, ob die Pulsation diese unterstützt oder nicht. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die zeitliche Dauer der Pulsation unterschiedlich zu sein scheint. Wodurch sich diese Unterschiede erklären lassen, wurde bislang nicht wissenschaftlich untersucht und könnte Gegenstand weiterer Forschung sein.

Die Studie von Vain und KollegInnen aus dem vergangenen Jahr weist jedoch einige Limitierungen auf, die berücksichtigt werden sollten. Zum einen fehlt eine ausführliche Beschreibung, wie das Kind gewogen wurde. Es wurde lediglich berichtet, dass eine Präzisionswaage verwendet wurde, die die Ergebnisse grammgenau wiedergibt. Jedoch wären praktische Informationen für die Einschätzung der Qualität der Wiegeergebnisse von Bedeutung, da sich das Kind beim Wiegen noch an der Nabelschnur befunden hat. Somit kann es weder zu einer beliebig weit entfernt stehenden Waage transportiert werden, noch völlig problemlos in einer Hängewaage gewogen werden, da die Nabelschnur anliegen und so die Messergebnisse verfälschen könnte. Ebenso fehlt eine Beschreibung, wie die Messergebnisse durch eine anzunehmende starke Bewegung vitaler Neugeborener beeinflusst wurden, beziehungsweise ob und wie Mittelwerte bei schwankenden Werten errechnet wurden. Beim Bericht der Ergebnisse fällt auf, dass lediglich der Zeitraum der ersten zwei Minuten in Betracht gezogen wurde. Es wird bei diesem Vorgehen nicht berücksichtigt, dass die Auspulsation der Nabelschnur in der Praxis auch länger als zwei Minuten dauern kann. Bei der Diskussion der Ergebnisse muss zudem berücksichtigt werden, dass diese nicht direkt auf die Situation in Deutschland übertragen werden, da die Studie auf argentinischen Daten beruht und in einem anderen geburtshilflichen Kontext durchgeführt wurde. Beispielsweise wurde von einer PDA-Rate von 100 Prozent in einer der eingeschlossenen Kliniken berichtet, sowie einer routinemäßigen postpartalen Gabe von 10 IE Oxytocin.

 

Resümee

 

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Fragestellung nach dem Einfluss des Niveaus des Kindes während der plazentaren Transfusion eine hohe Relevanz hat, da sie das Handeln einer Hebamme und den Erstkontakt zwischen der Mutter und ihrem Neugeborenen beeinflusst. Betrachtet man die derzeit gültigen Empfehlungen der WHO und der AWMF, die beide aus dem Jahr 2012 stammen und die in vielen Kreißsälen umgesetzt werden, fordern die aktuelleren Ergebnisse der Studie von Vain und seinen KollegInnen aus dem Jahr 2014 dazu heraus, eine vergleichbare Studie in Deutschland durchzuführen, um zu untersuchen, welchen Einfluss das Niveau des Kindes nach der Geburt auf die plazentare Transfusion hat. 

Rubrik: Geburt | DHZ 10/2015

Literatur

Farrar, D.; Airey, R.; Law, G.; Tuffnell, D.; Cattle, B.; Duley, L.: Measuring placental transfusion for term births: Weighing babies with cord intact. BJOG: An International Journal of Obstetrics & Gynaecology. 118: 70–75 (2011)

Herting, E.; Vetter, K.; Gonser, M.; Bassler, D.; Hentschel, R.; Groneck, P.: Betreuung von gesunden reifen Neugeborenen in der Geburtsklinik. Leitlinie der DGGG, DGKJ, DGPM, dem Deutschen Hebammenverband und der GNPI. AWMF-Register Nr. 024/005. http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/024-005l_S2k_Betreuung_von_gesunden_reifen_Neugeborenen_2012-10.pdf (letzter Zugriff: 14.7.2015) (2012)

Hutchon, D.J.R.: Why do obstetricians and midwives still rush to clamp the cord? British Medical Journal. 341: 5447 (2010)
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