Leseprobe: DHZ 03/2022

Engpass im Kreißsaal?

Die Geburtshilfe im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf nutzt Deutschlands erstes Instrument, mit dem die situative Auslastung im Kreißsaal objektiv erfasst werden kann. Im »Punktesystem zur Operationalisierung der Auslastung im Kreißsaal« (POAK) wird das geburtshilfliche Arbeitsaufkommen in ein Verhältnis zu den Betreuungskapazitäten der diensthabenden Hebammen gesetzt. Wenn die Berechnung einen Engpass aufzeigt, werden Maßnahmen eingeleitet. Caroline J. Agricola, Madita Voß,
  • Das Poster von Caroline Agricola und Madita Voß belegte den 1. Platz beim LiP 2021. (Zur Detailansicht das PDf des Posters herunterladen)

Die Geburtshilfe zeichnet sich durch variierendes Geburtenaufkommen aus. Bei einer hohen Auslastung kann es zu einem Missverhältnis vom geburtshilflichen Arbeitsaufkommen zu den vorhandenen Betreuungskapazitäten von Hebammen kommen. Die Versorgung von weiteren Frauen im Kreißsaal kann in diesen Ausnahmesituationen nicht optimal gewährleistet werden, so dass der Kreißsaal temporär von der Notversorgung bei der Rettungsleitstelle der Feuerwehr abgemeldet wird.

Temporäre Abmeldungen sind ein Instrument, um Versorgungsengpässe aufzuzeigen und die Patientinnensicherheit aufrechtzuerhalten. In Baden-Württemberg geben 21 % der festangestellten Hebammen an, wöchentlich oder häufiger Schwangere aufgrund von temporären Abmeldungen abzuweisen (Köhler & Bärninghausen 2018). Hauptursache für Abmeldungen sind Personalengpässe, als weitere Ursachen werden Mangel an Räumlichkeiten, fehlenden Betten- oder Betreuungskapazitäten auf der Neonatologie sowie technische Störungen im Krankenhaus genannt (DGGG et al. 2018).

Im Jahr 2020 gaben 48 % der Krankenhäuser an, Probleme bei der Besetzung von Hebammenstellen zu haben (Blum et al. 2020). Der zunehmende Personalmangel weist auf den Bedarf an Strategien zum Aufzeigen von Versorgungs-Missverhältnissen in der Akut-Situation hin.

 

Das Konzept

 

Das »Punktesystem zur Operationalisierung der Auslastung im Kreißsaal« (POAK) ist ein Instrument zum situativen Erheben der geburtshilflichen Auslastung, die dynamisch und transparent von interdisziplinären Teams im Kreißsaal erfasst werden kann. Das Konzept basiert auf den Elementen Zuständigkeiten, geburtshilfliches Arbeitsaufkommen und Betreuungskapazität. In jedem Dienst übernimmt eine Hebamme die Rolle der Schichtleitung, die für die Erhebung der situativen Auslastung sowie für die Kommunikation mit dem ärztlichen Personal zuständig ist. Das oberärztliche Personal ist für die Indikation zur temporären Abmeldung verantwortlich.

Für die Berechnung des Arbeitsaufkommens werden Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen mit einem Durchschnittswert klassifiziert. Die Summe der einzelnen Betreuungsumfänge der Frauen stellen das geburtshilfliche Arbeitsaufkommen dar. Die Berechnung der Betreuungskapazität der Hebammen basiert auf der gängigen Eins-zu-zwei-Betreuung, so dass jede Hebamme eine Betreuungskapazität von vier Punkten zur Verfügung steht. In der Berechnung der Betreuungskapazität werden Frauenärzt:innen, Hebammenstudierende, FSJ´ler:innen und Praktikant:innen nicht berücksichtigt.

Das Verhältnis vom geburtshilflichen Aufkommen zur Betreuungskapazität der Hebammen stellt die Auslastung dar. Die Auslastung wird regelmäßig aktualisiert und für alle involvierten Berufsgruppen zentral im Kreißsaal dargestellt. Wenn das geburtshilfliche Arbeitsaufkommen die Betreuungskapazitäten überschreitet, werden Maßnahmen zur Entlastung des Kreißsaalpersonals eingeleitet. Hierzu zählt das Verschieben von elektiven Eingriffen (beispielsweise eine äußere Wendung), das Pausieren von Maßnahmen (beispielsweise Geburtseinleitungen) und Verlegungen von Frauen auf periphere Stationen.

Wenn die entlastenden Maßnahmen nicht ausreichen, um das Missverhältnis zu bewältigen, bespricht die Schichtleitung der Hebammen mit dem oberärztlichen Personal die temporäre Abmeldung. Auch räumliche Mängel im Kreißsaal oder auf peripheren Stationen sowie die Betreuungskapazitäten auf der Neonatologie werden bei POAK klinikintern berücksichtigt. Während einer temporären Abmeldung werden keine weiteren Frauen mit dem Rettungs- oder Krankentransport in den Kreißsaal gebracht, sodass sich das Missverhältnis nicht verstärkt. Frauen, die selbstständig in den Kreißsaal kommen, werden ersteinschätzend behandelt und bei medizinischer Indikation eine stationäre Aufnahme ermöglicht. Reichen die Kapazitäten für eine stationäre Aufnahme nicht aus, muss im Einzelfall über eine Verlegung in ein anderes Krankenhaus beraten werden. In einer Notfallsituation wird die sofortige Versorgung von Mutter und Kind gewährleistet.

 

Universell anwendbar

 

POAK stellt ein Grundgerüst dar, das mithilfe von klinikinternen Anpassungen in allen Kreißsälen implementiert werden kann. Die Klassifikation der Frauen mit Risiken sollte auf die jeweilige Versorgungsstufe des Kreißsaals angepasst werden. Angesichts der zunehmenden Zahl der Praxisanleitungen für Hebammenstudierende kann POAK genutzt werden, um den personellen Mehraufwand für Anleitungen aufzuzeigen.

Mit einer täglichen Dokumentation der Auslastung in den jeweiligen Diensten kann erhoben werden, wie häufig festangestellte Hebammen in Diensten mit hoher Auslastung arbeiten. Mit einer detaillierteren Darstellung der Gründe für Abmeldungen sowie der Abmeldezeiträume kann ein Monitoring der geburtshilflichen Versorgungsengpässe in Deutschland durchgeführt werden.

 

Fazit

 

POAK ist das bisher erste und einzige Instrument zur Operationalisierung der Auslastung im Kreißsaal. Versorgungs-Missverhältnisse können frühzeitig identifiziert und geeignete Maßnahmen abgeleitet werden. In Überlastungssituationen ermöglicht POAK kriterienbasierte Entscheidungen für temporäre Abmeldungen und verhindert willkürliche, subjektive Bewertungen der personellen, räumlichen und neonatologischen Ressourcen. Das Konzept ist praktikabel, dynamisch und kann in allen Funktionsbereichen mit Leer- und Spitzenzeiten in adaptierter Form Anwendung finden. Mit der Nutzung von POAK kann der Blick fürs geburtshilfliche Arbeitsaufkommen geschärft sowie die Kommunikation im Team verbessert werden. Zweieinhalb Jahre nach Implementierung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ist es weiterhin ein effektives Instrument zur Erhebung der Auslastung im Kreißsaal.

Rubrik: Ausbildung & Studium | DHZ 03/2022

Hinweis

Vortrag auf dem DHZCongress online

Madita Voß wird zum Thema »Koordination von Kreißsaalabmeldungen« am 9. September auf dem DHZCongress ein Mutmachbeispiel vorstellen. Weitere Informationen und Anmeldung: > www.dhz-congress.de

Literatur

Blum K, Heber R, Löffert S, Offermanns M, Steffen P: Krankenhaus Barometer. Umfrage 2020. Deutsches Krankenhausinstitut. Düsseldorf. 2020

DGGG, BVF, BLFG, DHV, BfHD, DGHWi: Neujahrsgespräch: Sicherstellung der klinischen geburtshilflichen Versorgung in Deutschland. Pressemitteilung. 2018. www.dggg.de/pressenews/pressemitteilungen/mitteilung/neujahrsgespraech-sicherstellung-der-klinischengeburtshilflichen-versorgung-in-deutschland-697/

Kohler S, Bäringhausen T: Entwicklung und aktuelle Versorgungssituation in der Geburtshilfe in Baden-Württemberg. Bericht für den Runden Tisch Geburtshilfe in Baden-Württemberg. Heidelberg 2018
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