Leseprobe: DHZ 09/2014
Poster zu Kindsbewegungen

Frauenwissen hörbar machen

Wie beschreiben Schwangere die Bewegungen ihres Babys in ihrem Leib? Was lesen sie daraus – was kann die Hebamme daraus erfahren? Diese Fragen hat die Hebamme und Studentin an der FH Salzburg Josy Kühberger in ihrer Masterarbeit untersucht. Ihre Ergebnisse demonstrierte sie auf einem Poster, das auf dem 2. DHZCongress im Juni beim Posterwettbewerb den 1. Platz gewonnen. Josy Kühberger,

Fetale Bewegungen sind Ausdruck neuronaler Aktivität und geben damit Einblick in die Entwicklung des Gehirns. Vorgeburtliches Verhalten kann daher wertvolle Hinweise auf Reifungs- und Vorbereitungsprozesse des Ungeborenen geben (siehe auch DHZ 6/2014, Seite 42).

Auslöser für die Beschäftigung mit dem Thema war die Überarbeitung des österreichischen Mutter-Kind-Passes im Jahr 2011. Im Zuge der Aktualisierung wurde die Frage nach den ersten Kindsbewegungen aus dem Vorsorgeprogramm getilgt. Das Auf- treten von kindlichen Regungen wird zwar nach wie vor dokumentiert, allerdings nicht anhand der Angaben der Schwangeren, sondern mittels Ultraschall. Die Frauen, um deren Wohlergehen es in diesem Fürsorge- programm geht, haben in einem vielstim- migen Kanon an Zu- und Beschreibungen ihrer Schwangerschaft keine Stimme mehr.

 

Mütterliche Wahrnehmung

 

Im Kontrast zur Bedeutungslosigkeit mütterlicher Wahrnehmungen in der gängigen Schwangerschaftsvorsorge stellt die Beurteilung sowohl der Häufigkeit, als auch der Art der Kindsbewegungen einen festen Bestandteil der praktischen Hebammenarbeit dar. Ziel dabei ist es, einen Eindruck von der Vitalität des Kindes zu gewinnen. Beschreibungsmerkmale sind „Intensität, Lokalisation, Reaktionen auf Geräusche, Berührungen oder Gefühlsmomente wie Schreck, Fröhlichkeit, und Tageszeitabhängigkeit" (Funke & Teuerle 2005). Die Interpretation dieser sinnlichen Empfindungen ist abhängig vom persönlichen Erfahrungshintergrund der Hebamme und war noch nicht Inhalt wissenschaftlicher Arbeiten.

In leitfadengestützten Einzelinterviews haben mir vier Schwangere am Termin ihre Zeit und ihr Wissen über Kindsbewegungen zur Verfügung gestellt, um herauszufinden „welche Wahrnehmungen Frauen hinsichtlich des Bewegungsverhaltens ihrer ungeborenen Kinder im letzten Trimenon beschreiben".

Bei der folgenden inhaltlichen Analyse nach Mayring (2003) wurde eine große Kontinuität sowohl quantitativer, als auch qualitativer Aspekte in den Bewegungsmustern der einzelnen Kinder deutlich. Veränderungen beider Aspekte geschahen langsam über einen Zeitraum von Tagen und Wochen. Die Beschreibungen der Frauen bezogen sich auf drei Bereiche der Wahrnehmung: Erspürnisse auf sensorieller Ebene, zirkadian-rhythmischer Ebene und reaktiv-interaktiver Ebene.

 

Sensorielle Wahrnehmungen

 

Die Schwangeren schilderten detailliert die Art der Bewegungen, deren Lokalisation und Intensität und unterschieden dabei genau zwischen Ganzkörperbewegungen und den Bewegungen einzelner Gliedmaßen. Die Frauen erlebten die Bewegungen ihrer Kinder als zunehmend ausdifferenzierter und kräftiger, wie es auch Stacey et al. (2011) und Raynes-Greenow et al. (2013) in den Beschreibungen physiologischer Schwangerschaften festgestellt hatten. Alle Interviewpartnerinnen erspürten vielschichtige Bewegungsmuster wie Strecken, Drehen, Treten, Streichen oder Schieben, die ihren Widerhall in Ultraschallbeobachtungen finden. In diesen werden Variabilität und Komplexität hinsichtlich Geschwindigkeit, Amplitude und Intensität als Zeichen des sich intakt entwickelnden Nervensystems betrachtet (Prechtl 2001).

Wovon alle Schwangeren einhellig erzählten, war eine Zunahme der Schubbewegungen des kindlichen Kopfes in Richtung Beckeneingang in den letzten Wochen. Zwei der Frauen, deren Interviews zeitlich sehr nahe an der Geburt stattfanden, bemerkten zudem auch drehende Kopfbewegungen im Beckeneingang. Intrauterine Drehbewegungen des Kopfes werden für die Vorläufer des Rootingreflexes gehalten (Prechtl 1989). Er unterstützt sowohl den Geburtsvorgang als auch das Stillen. Das Einsetzen von Schub- und Drehbewegungen des Kopfes könnte als Instrument zur zeitlichen Einschätzung des Geburtsbeginns genutzt werden, ähnlich den Veränderungen der Wehentätigkeit oder des Scheidensekrets.

Eine weitere Wahrnehmung, die alle Frauen teilten, war das Auftreten von Schluckauf. Die meisten ForscherInnen gehen davon aus, dass es sich dabei um Vorbereitungen auf die eigenständige Atmung handelt (Kahrilas & Shi 1997; Piontelli 2006). Stacey et al. (2011) vermuteten in ihrer Untersuchung einen Zusammenhang zwischen dem Vorkommen von Schluckauf und einem reduzierten Risiko für einen späten intrauterinen Fruchttod.

 

Zirkadian-rhythmische Wahrnehmungen

 

Alle Frauen beschrieben ein für ihr Kind typisches zeitliches Auftreten seiner Regungen. Gemeinsam war den Ungeborenen eine deutliche Aktivitätsspitze am Abend. Neben dem „zur Ruhe Kommen" der Schwangeren zu dieser Tageszeit erklärt sich die stark ausgeprägte Wachheit in den Abendstunden mit der zunehmenden Funktionstüchtigkeit der „inneren Uhr" im letzten Trimenon (Rivkees 2003). Das abendliche Aktivitätshoch kann daher auch als Ausdruck der zunehmenden Reife des zirkadianen Systems verstanden werden (siehe DHZ 5/2013).

Ein weiteres Reifezeichen stellt die Ausdifferenzierung einzelner Verhaltenszustände dar. Die Frauen bemerkten einen fließenden Übergang von aktiven zu ruhigen Phasen, gefolgt von Zeiten, in denen sie gar keine Bewegungen wahrnahmen. Non-REM-Schlaf, REM-Schlaf, ruhiger und aktiver Wachzustand beginnen sich beim Fötus ab der 30. Woche langsam auszuformen und verfestigen sich ab der 36. Woche (de Vries & Fong 2006). Am Termin sind die Verhaltenszustände stabil und wiederholen sich – ohne Störung von außen – ungefähr alle zwei Stunden.

 

Reaktiv-interaktive Wahrnehmungen

 

Der dritte Themenkomplex umfasste kindliche Verhaltensänderungen auf Grund äußerer Einflüsse und beschreibt zudem das fortwährende komplexe Zwiegespräch zweier miteinander verbundenen Menschen. Mit den Wahrnehmungen auf reaktiv-interaktiver Ebene drückten die Frauen die Fähigkeit aus, kindliche Signale zu empfangen und die Bedürfnisse der Ungeborenen zu verstehen. Das Erfragen der Kindsbewegungen gibt damit einen Einblick in die Tiefe der bestehenden Bindung zwischen Mutter und Kind (Shin et al. 2006).

 

Die Erspürnisse nutzen

 

Die in den Interviews ausgemachten drei Dimensionen der Wahrnehmung bezeichnen keine von der Frau losgelöste Checkliste zur Abfrage kindlicher Entwicklungsschritte. Sie eignen sich auch nicht als singuläre Screeningmethode zur Identifizierung von Risikofaktoren. In erster Linie weisen sie Richtungen des Fragens aus. Frauenwissen kann damit hörbar gemacht und fetale Reife- und Vorbereitungsprozesse in eine gesamtheitliche Betrachtung eingeordnet werden.

Weitere Untersuchungen sind nötig, um den Zusammenhang zwischen mütterlicher Wahrnehmung und kindlichem Entwicklungs- und Gesundheitszustand besser zu verstehen.

Rubrik: Ausbildung & Studium | DHZ 09/2014

Literatur

de Vries, J.I.; Fong, B.F.: Normal fetal motility: an overview. Ultrasound Obstet Gynecol. 27: 701–11 (2006)

Einspieler, C.; Prayer, D.; Prechtl, H.: Fetal Behaviour: A Neurodevelopmental Approach. Mac Keith Press. London (2012)

Funke, M.; Teuerle, M.: Routineuntersuchungen. In: Bund deutscher Hebammen. Schwangerenvorsorge durch Hebammen. 100. Hippokrates Verlag. Stuttgart (2005)
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