Leseprobe: DHZ 03/2014

"… ich habe es mir anders ausgemalt."

„Wie nehmen Mütter aus sozial belasteten Familien ihre Lebenssituation wahr?“, lautet der Titel und die Forschungsfrage einer Bachelorarbeit. Der Wunsch der Mütter, als Gestalterinnen ihres eigenen Lebensentwurfes respektiert zu werden, zieht sich durch die Interviews. Ulrike von Haldenwang,

Als Hebamme habe ich in einem Berliner Bezirk mit einem hohen Anteil von Menschen mit geringem sozioökonomischen Status und schwierigen Lebensbedingungen gearbeitet. Bis heute habe ich häufig Kontakt mit Familien, die von den gesundheitsfördernden Angeboten nicht erreicht wurden und werden. Ich wollte verstehen, woher das Misstrauen gegen institutionelle Hilfe kommen mochte, aus welchen Gründen es nicht gelang oder warum es manchmal gelang, Hilfe zu implementieren. Mit diesem Interesse habe ich mir in meiner Bachelorarbeit am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft in Halle die Frage gestellt, wie Mütter aus sozial belasteten Familien ihre Lebenssituation wahrnehmen.

Die Arbeit ist noch nicht fertig, aber drei Interviews liegen transkribiert vor. So habe ich eine erste Auswertung durchgeführt. Dabei haben mich zwei Analysepartnerinnen unterstützt, eine Sozialarbeiterin und eine Hebammenwissenschaftlerin. Mit ihnen wurden die Interviews Satz für Satz diskutiert und die relevanten Sätze interpretiert.

Im Rahmen einer zeitlich begrenzten Bachelorarbeit verstehe ich meine Ergebnisse als Anregung zu einer Diskussion über die Schnittstellen von Angeboten der Frühen Hilfen und der subjektiven Wahrnehmung der Empfängerinnen. Ich erhoffe mir, dass sie zu einem tieferen Verstehen der Situation sozial belasteter Mütter führt.

In einer Datenbankrecherche habe ich viele Studien gefunden, die sich mit sozial belasteten Familien beziehungsweise Familien mit einem geringen sozioökonomischen Status beschäftigen. Allerdings haben sich diese Studien immer mit einem eingegrenzten Anliegen auseinandergesetzt, beispielsweise dem Zusammenhang von Adipositas und sozialer Belastung. Ich aber wollte diese Frauen einfach erzählen lassen. Sie sollten entscheiden, wo sie ihre Belastung sehen. Dazu habe ich mich für ein qualitatives Studiendesign entschieden. Die Interviews wurden bei allen drei Interviewpartnerinnen mit derselben Frage gestartet: „Wie sehen Sie im Moment Ihre Lebenssituation?" Angestrebt wurden lange narrative Phasen.

Das Lebenslagenkonzept

Die Theorie, auf die ich mich in der Arbeit beziehe, ist das Lebenslagenkonzept. Der Begriff „Lebenslagen" findet sich bereits bei den kommunistischen Gesellschaftstheoretikern Karl Marx und Friedrich Engels. Er wurde aber erst von dem österreichischen Nationalökonomen und Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Sozialwissenschaft eingeführt und inhaltlich geprägt. Das Konzept betont die Mehrdimensionalität der Lebensumstände und deren Wirkung auf Personen. Es geht davon aus, dass Menschen – als einzelne oder als Gruppen – unterschiedliche Lebensbedingungen haben und deshalb in unterschiedlicher Weise von gesellschaftlichen Ressourcen profitieren können. „Die Lebenslage bildet einerseits den Rahmen von Möglichkeiten, innerhalb dessen eine Person sich entwickeln kann, sie markiert deren Handlungsspielraum. Andererseits können Personen in gewissem Maße auch auf ihre Lebenslagen einwirken und diese gestalten. Damit steht der Begriff der Lebenslage für die konkrete Ausformung der sozialen Einbindung einer Person, genauer: ihrer sozioökonomischen, soziokulturellen, soziobiologischen Lebensgrundlage" (Engels 2008, S.634).

Vor allem für das Ziel gesundheitlicher Chancengleichheit ist das Konzept der Lebenslage interessant, da es die ungleichen Möglichkeiten der Bevölkerung zur Mitgestaltung ihres eigenen und ihres gesellschaftlichen Lebens erkennbar macht (Kolip 2010). Es gibt verschiedene Autorinnen, die sich mit der konzeptuellen Gestaltung der Lebenslagen befasst haben. Insbesondere auf Ingeborg Nahnsen möchte ich dabei verweisen, die das Konzept in seiner Anwendbarkeit entscheidend voranbrachte (zitiert nach Röh 2013, S. 147). Sie entwickelte fünf Handlungsspielräume:

  • Versorgungs- und Einkommensspielraum (Zugang zu Ressourcen)
  • Kontakt- und Kooperationsspielraum (Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion, soziale Einbindung)
  • Lern- und Erfahrungsspielraum (Möglichkeiten der Realisierung von Interessen)
  • Muße und Regenerationsspielraum (Möglichkeiten, Belastungen auszugleichen)
  • Dispositions- und Partizipationsspielraum (Kolip 2010).

Die Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin Uta Enders-Dragässer und die Soziologin und Ökotrophologin Brigitte Sellach haben 2002 die Entscheidungs- und Handlungsspielräume um drei Einzelspielräume erweitert, um die besondere Lebenslage von Frauen besser abzubilden. Vor allem der Sozialbindungsspielraum spielt in meiner Arbeit eine übergeordnete Rolle, da die Mutter in allen Handlungen und Emotionen vorrangig angesprochen wird. Die von Ender-Dragesser und Sellach konzipierten Handlungsspielräume sind:

  • Geschlechterrollenspielraum (zum Beispiel die Benachteiligung in der Erwerbsarbeit)
  • Sozialbindungsspielraum (beispielsweise Mutterschaft, Gewaltbedrohung in sozialen Bindungen)
  • Schutz- und Selbstbestimmungsspielraum (beispielsweise Gesundheit, aktive und sexuelle Selbstbestimmung).

In allen Interviews mit den Frauen spreche ich von „sozialer Belastung", da dieser Begriff nicht stigmatisiert, sondern einen gegenwärtigen Zustand beschreibt. Per Definition stellt er das subjektive Erleben in den Vordergrund. So kommen Sandra Kunz und Meik Michalke (2003) in ihrer Diplomarbeit „Konzeptualisierung und Diagnostik sozialer Belastung" nach Sichtung der Studienlage zu dem Ergebnis, dass bei der Erfassung sozialer Belastung das „Erleben des Rezipienten" im Vordergrund stehen soll. Nur dieser erlebt beispielsweise, ob Handlungen anderer als Belastung oder als Unterstützung erfahren werden. Es ist möglich, dass zwei Personen die gleiche Intervention unterschiedlich erleben, als hilfreich oder als belastend.

Auswahl der Gesprächspartnerinnen

Die Suche nach Interviewpartnerinnen gestaltete sich schwierig. Für eine bessere Vergleichbarkeit der Ergebnisse habe ich Einschlusskriterien bestimmt, die ich aber erweitern musste, um die erforderliche Anzahl von Interviews zu bekommen: Leben von Hartz IV, kein Schulabschluss, (erweiterter) Hauptschulabschluss, mittlerer Schulabschluss, mindestens ein Kind unter zwölf Monaten, Leistungsempfängerin Früher Hilfen, mindestens zwei soziale Risiken, gute Deutschkenntnisse.

Alle Interviews sind gut verlaufen. Die Frauen haben die Gelegenheit genutzt, über sich und ihre Situation zu reden. Allerdings war es ihnen allen sehr wichtig, dass absolute Anonymität der Daten zugesichert wurde. Für mich war die Interviewsituation eine neue Erfahrung. Da ich die Informationen nicht nutzen musste, um ein professionelles Handeln als Hebamme oder Familienhebamme daraus abzuleiten, habe ich anders zugehört. Die Geschichten der Frauen haben mich bewegt. Eine davon möchte ich hier vorstellen.

Beispiel A., Mutter von vier Kindern

„… ich meine, Stress und Probleme hat jeder, das kann keiner sagen, aber es mal zu sehen, dass ich auch was kann und auch was schaffen kann, …"

A., Mutter von vier Kindern, lebt in Berlin. Ihre Eltern sind aus dem Ausland nach Berlin gezogen, als sie ein Kleinkind war. Sie hat viele Geschwister. Zurzeit ist sie mit dem jüngsten Kind zu Hause, aber sie hat den Wunsch, zu arbeiten und ihr eigenes Geld zu verdienen. Sie hat eine gute Freundin, mit der sie häufig den Tag verbringt. Mit ihrem Mann lebt sie zusammen, weil sie Kinder haben und er ein guter Vater ist. Sie liebt ihn nicht mehr. Früher hat er sie geschlagen, das tut er jetzt nicht mehr. Dafür hat sie gekämpft. Sie hat ein hartes Leben und sie hatte eine harte Kindheit, sagt sie. Sie hat zu Hause wenig Fürsorge, aber viel Gewalt erlebt. Ihre Mutter, zu der sie eine enge Beziehung hatte, war sehr häufig krank und ist früh gestorben.

In der Schule hat sie viel geschlafen, weil sie so müde war von der Hausarbeit, die sie leisten musste. Sie denkt sehr gerne an ihren Klassenlehrer, der sie hat schlafen lassen. Von ihm hat sie sich verstanden gefühlt. A. hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich. Sie wünscht sich sehr viel mehr Unterstützung, hat aber gleichzeitig kein Vertrauen in das Unterstützersystem. Sie hat Angst vor weiterer Verunglimpfung und davor, abgestempelt zu werden: „Also, man wird immer ein Stück abgestempelt. Die, die einen nicht kennen". Sie erlebt sich als hilflos, da über ihren Kopf hinweg über sie geredet wird und sie keiner „einfach mal fragt".

Im Interview redet sie sehr offen. Es wird sehr deutlich, dass sie sich nicht verstanden und nicht geschätzt fühlt in dem, was sie leistet. Das zieht sich wie ein roter Faden durch das Interview.

Wunsch nach Mitgestaltung

Im Gegensatz dazu hat meine zweite Interviewpartnerin B. sich selbst Hilfe gesucht und erlebt diese als wertschätzend und häufig als Rettungsanker. Die dritte interviewte Mutter C. hat mit drei verschiedenen Jugendämtern zu tun. Wer mit welchen Auflagen an sie heran tritt, ist ihr nicht klar. Die Hilfen, die sie jetzt bekommt, empfindet sie nicht alle als hilfreich. Die Einzige, die sie akzeptiert, ist die Familienhebamme. Deren handlungsorientierte Angebote kann sie annehmen. Bei allen anderen hat sie das Gefühl, kontrolliert zu werden und nicht unterstützt.

Alle Interviewten äußern den Wunsch nach Mitgestaltungsmöglichkeit. Dass dies häufig nicht möglich scheint, ist ein großer Schmerz. Akzeptanz, das Recht auf Selbstbestimmung und gute soziale Kontakte sind wichtige Ressourcen.

Eine Kollegin hat mich gefragt, was ich für unsere Arbeit in den Familien aus meinen Erkenntnissen mitnehme, was ich ihr mitgeben würde. Folgendes Bild tauchte dazu vor meinen Augen auf: Stellen Sie sich vor, vor ihnen überquert eine Person mit einer schweren Kommode auf dem Rücken die Straße. Was würden Sie tun? Sicher halten Sie an, stellen sich ihr auf keinen Fall in den Weg, Sie sind beeindruckt ob ihrer Kraft und ihres Geschicks und ganz sicher würden Sie nicht noch eine Bücherkiste auf die andere Schulter aufladen: Aber genau das tun wir, tut das unterstützende System mit den belasteten Familien immer wieder. Denn wir nehmen die Last, die Mütter und Väter tragen, häufig nicht wahr.

Wir wissen, wie wichtig es ist, das eigene Handeln in den Familien zu reflektieren. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass wir zu einer zusätzlichen Belastung werden können. „… ich hätte mir selber gewünscht, eine intakte Familie zu haben, Mutter, Vater, Kinder, ich habe es mir selber anders ausgemalt und dann ist es so, wie wenn man mit einer Nadel noch in eine Wunde piekst oder Salz in die Wunde streut, ja, man weiß es selbst, man ist selbst damit unzufrieden, und wenn dann von außen noch so was kommt, dann ist das ein Treffer."

Rubrik: Politik & Gesellschaft | DHZ 03/2014

Literatur

Enders-Dragässer, U.; Sellach, B.: Weibliche Lebenslagen und Armut am Beispiel allein erziehender Frauen. In: Hammer, V.;, Lutz, R.: (Hrsg.): Weibliche Lebenslagen und soziale Benachteiligung. Theoretische Ansätze und empirische Beispiele. Campus-Verl. 18–44 (2002)

Engel, D.: Lebenslagen. In Grunwald, K.; Horcher, G.; Maelicke, B. (Hrsg.): Lexikon der Sozialwirtschaft. Artikel „Lebenslagen". 2. Aufl. Nomos. 643–646 (2013)

Kolip, P.: Lebenslagen und Lebensphasen. Hrsg. v. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Köln.
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