Leseprobe: DHZ 10/2022
Frühgeborene stillen

Jeder Tropfen zählt

Für kranke und frühgeborene Kinder ist Muttermilch besonders wichtig. Aber oft klappt es nicht, die Neugeborenen früh genug anzulegen oder Kolostrum zu füttern. Um die Milchbildung bei den Müttern zu sichern und Familien mit besonderen Bedürfnissen beim Stillen zu unterstützen, brauchen Hebammen ein gutes Betreuungsmanagement. Elke Sams,
  • Häufiger Haut-zu-Haut-Kontakt fördert das Stillen. Je mehr darauf geachtet wird, dass Mutter und Baby nah beieinander sind, desto besser kann die Milchbildung bei der Mutter unterstützt werden.

Die Wissenschaft zeigt deutlich, welche Möglichkeiten das Wunderwerk Muttermilch bietet, besonders wenn ein Baby sehr klein oder krank ist. Doch die Herausforderung in der Stillberatung sind mannigfaltig. Jede Erkrankung und jede Familie bringt andere Voraussetzungen und Einflüsse mit, so dass die Begleitung individuell angepasst werden sollte. Dennoch lassen sich allgemeingültige Bausteine identifizieren, die je nach Situation angepasst werden können.

Eine Frühgeburt konfrontiert die Familie mit besonderen psychischen Belastungen. Der Zeitpunkt kann sehr unterschiedlich sein: bei der Geburt oder kurz danach. Manche Eltern erfahren auch schon während der Schwangerschaft, dass ein anderer Weg vorgezeichnet ist. Stress, Müdigkeit und Angst sind nicht unterstützend für eine gelungene Laktation (Meier, 2003). Prä- und perinatale Belastungen können das Bindungserleben der Mütter und die Entwicklung eines sicheren Bindungsverhaltens der Kinder nachhaltig beeinträchtigen (Russel, 2014). Deshalb sollte der Milchaufbau wissenschaftlich fundiert und zeiteffizient begleitet werden.

 

 

Bausteine des Milchaufbaus und des Stillens bei Familien mit besonderen Bedürfnissen

Abbildung: Nindl 2015

 

 

Den Milchaufbau unterstützen

 

Viele der Familien befinden sich schon vor der Geburt in gynäkologischer Betreuung und werden entweder ambulant oder stationär begleitet. Diese Termine könnten genutzt werden, um die Eltern über den Milchaufbau zu informieren. Bonding und Haut-zu-Haut-Kontakt fördern nicht nur die Bindung, sondern unterstützen auch eine bessere hormonelle Situation und damit eine effektive Milchbildung (Moore, 2012). Sollte dies aus medizinischen Gründen nicht möglich sein, können auch Fotos und Filme Kontakt schaffen – vor allem am Anfang, wenn die räumliche Trennung der Familien unumgänglich ist. Familien auf den Stationen oder zumindest in der Nähe unterzubringen, kann die Bindung zusätzlich stärken.

Reife, gesunde Neugeborene unterstützen intuitiv die Laktation. Auch Kinder mit einem schwierigen Start können dies tun – wenn auch mit technischen Hilfsmitteln. Der Beginn sollte wie beim reifen Neugeborenen optimal in der ersten Lebensstunde starten (Parker, 2012; Parker, 2015). Eine Möglichkeit bietet die Oxytocinmassage und das Entleeren der Brust per Hand, da die gewonnen Tropfen sofort dem Kind zur Verfügung gestellt werden können. Die Häufigkeit wird mit 8 bis 12 Mal am Tag angegeben, die Dauer bei 10 bis 15 Minuten mit Doppelpumpsystem (Bishara, 2009). Dieses Pumpmanagement in einen belasteten Alltag zu integrieren, ist eine Herausforderung. Variable Zeitabstände zwischen den Pumpeinheiten können für Erleichterungen sorgen, ebenso längere Schlafpausen von maximal fünf Stunden, wenn nötig, Abpumpbustier und Techniken zur besseren Entleerung der Brust (Power Pumping, Brustkompression, Brustmassagen). Ein Pumpmanagement kann auch eingesetzt werden, wenn Kinder ineffizient saugen, zum Beispiel wegen einer Lippen-Kiefer-Gaumen Spalte, Late Preterm oder wenn sie wegen Stoffwechselerkrankungen nur teilgestillt werden dürfen. Um die Milchbildung zu erhalten und die Eltern zu unterstützen, ist in dieser Zeit ist geschultes Personal nötig (Spatz, 2015).

 

Wie Brust und Baby zueinander finden

 

Häufiger Haut-zu-Haut-Kontakt fördert das Stillen. Frühe Hungerzeichen, effektive Milchtransferzeichen (Milchspendereflex an der anderen Brust, Schluckgeräusche, kontinuierliches Saugen mit Atempausen) und gut aufgebaute Stillhaltungen können für die Eltern ein guter Anhaltspunkt sein, wobei der Unterschied zu reifen Neugeborenen nicht stark ausgeprägt ist. Manche Kinder müssen erst die Koordination von Saugen, Schlucken und Atmen lernen oder verbessern. Hier wird die Geduld aller Beteiligten strapaziert, da das Trinkverhalten und damit die Gewichtsentwicklung des Kindes eine der letzten Hürden vor der Entlassung aus der Klinik ist.

Alle alternativen Formen der Zufütterung können je nach Möglichkeit des Kindes unterstützend wirken, sollten aber sorgfältig abgewogen werden (Stillhütchen, Feeder, Sonde an der Brust, Brusternährungsset, Becher, Ernährungssonde des Kindes). Ziel sollte immer sein, möglichst einfach und nah an der Brust zu bleiben. Dabei sollte auf die Bedürfnisse der Familien eingegangen werden: »Bunt Stillen« beschreibt, den individuellen Weg mit den Eltern zu erarbeiten und Stillen in jeder Variante zu ermöglichen. Auch das sogenannte »Liebestillen«, was bedeutet, dass eine Mutter ihr Kind nicht ausschließlich über die Brust ernähren kann, kann für Frauen mit weniger Muttermilch eine gute Möglichkeit sein, Nähe zu schaffen. Muttermilch ist dosisabhängig: Je mehr verabreicht wird, desto höher die positiven Effekte. Das heißt aber auch, dass jeder Tropfen zählt.

 

Stillförderung endet nicht mit der Klinikentlassung!

 

Die Stillraten in den Kliniken können zu Hause nur hochgehalten werden, wenn die Eltern auch dort eine Betreuung oder Beratung zum Stillen erhalten (Sinha, 2015). Die WHO hat sechs Monate ausschließliches Stillen als Ziel ausgegeben. Das heißt, keine andere Nahrung oder Flüssigkeit außer Muttermilch zu füttern und danach neben geeigneter Beikost bis zum Ende des zweiten Lebensjahres und darüber hinaus weiter zu stillen (WHO, 2001). Dazu ist eine intensive Zusammenarbeit zwischen Krankenhaus und dem nachbetreuenden System zu Hause – Hebammen, Hauskrankenpflege, Kinderarzt – notwendig.

Ein Kind braucht ein ganzes Dorf, um gut zu gedeihen. Eine Familie mit besonderen Bedürfnissen braucht ein gut geschultes und vernetztes, interdisziplinäres Team, um den bestmöglichen Start in die gemeinsame Zeit zu erhalten.

Rubrik: , 1. Lebensjahr | DHZ 10/2022

Literatur

Bashar, R., Dunn, M. S., Merko, S. E. & Darling, P. (2009). Volume of Foremilk, Hindmilk, and Total Milk Produced by Mothers of Very Preterm Infants Born at Less Than 28 Weeks of Gestation. Journal of Hum Lactation, 25(3), 272–279. Doi: 10.1177/089033 4409334606

Meier, P. P. (2003). Supporting lactation in mothers with very low birth weight infants. Pediatr Ann, 32:317–25. 13

Moore, E. R., Anderson, G. C, Bergman, N. & Dowswell, T. (2012). Early skin-to-skin contact for mothers and their healthy newborn infants. Cochrane Database of Systematic Reviews, 16(5), doi: 10.1002/ 14651858.CD003519.pub2
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