Leseprobe: DHZ 03/2024
Kontroversen zum Thema Babyschlaf

Kompass fürs Leben

Eine Ärztin und Eltern-Säuglings- sowie Kleinkindberaterin regt an, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist für die Beratung beim Thema Babyschlaf. Denn in vielen online geführten Debatten fehlt ihr der Blick auf den Grundstein einer tragfähigen Bindung: Das ist nicht immer und nicht einfach nur Stillen, Tragen oder Wippen, sondern vor allem die Einbeziehung der Bedürfnisse aller Familien­mitglieder, um langfristig Vertrauen zu schaffen. Dr. med. Daniela Dotzauer,
  • Dr. Daniela Dotzauer kritisiert: »Bei hohem Druck müssen einfache Lösungen her: Es wird empfohlen, was schnell geht und sich irgendwie nach Bedürfnisorientierung anhört.«

Mit der Geburt eines Kindes beginnt ein lebenslang bedeutsames Beziehungsgefüge, doch die Vorstellungen, Erwartungen und Träume des Elternseins decken sich nicht immer mit der Realität.

Die Eltern versuchen nach Kräften, die Sprache ihrer Neugeborenen zu entschlüsseln, jedoch bringt die Unreife der Babys Schwierigkeiten mit sich und die Eltern auch manchmal an ihre Grenzen. So ist es besonders der Schlafmangel, der junge Eltern umtreibt und der sie bei der Suche im Netz zu einer unübersichtlichen Flut von Coaching- und Beratungsangeboten führen wird. Eine Beratungswelt mit sehr unterschiedlichen Herkünften, Ausbildungswegen, Intentionen, Zielen und diversen Heilversprechen.

Bei hohem Druck müssen einfache Lösungen her: Es wird empfohlen, was schnell und einfach geht und sich irgendwie – gemäß dem Zeitgeist – nach Bedürfnisorientierung anhört.

In meiner Wahrnehmung entsteht insbesondere im Netz ein Kräftemessen, wer sich am meisten der Bedürfnisorientierung widmet. Mit emotional geführten Kampfreden werden die eigenen Standpunkte untermauert, andere nicht zugelassen, häufig sogar entwertet und herabgewürdigt.

Wozu eigentlich? Was ist die Triebfeder solcher Debatten im Netz? Und warum diese Vehemenz? Geht es schlicht darum, Recht zu behalten?

 

Vom Wert einer sicheren Bindung

 

Worum geht es wirklich? Ich finde, es sollte um die Familien gehen und um die Eltern-Kind-Beziehung. Denn das Wichtigste, was Eltern ihrem Kind mitgeben können, ist eine sichere Bindung. Diese begleitet sie lebenslang und dieser emotionale Kompass kann ihm helfen, im Leben zurecht zu kommen, selbst gelingende Beziehungen zu leben und Krisen zu meistern.

Für Bindung und Beziehung wird von vielen Seiten gerne das Stillen als ein Allheilmittel ins Spiel gebracht. Es wird darum gekämpft und gelitten, geweckt und ausgehalten, beraten und missioniert. Alle haben dazu eine Meinung, vielleicht auch eigene Erfahrungen – und das Netz wird geflutet mit unversöhnlichen Haltungen.

Für eine sichere Bindung gibt es allerdings verschiedene Schlüsselfaktoren, die von beiden Elternteilen gleichermaßen erfüllt werden können (siehe Kasten).

Überspitzt formuliert, ist es dazu nicht entscheidend, wann in welcher Frequenz wie lange gestillt wird oder ob überhaupt gestillt wird. Denn letztlich spielen auch Väter und Partner:innen eine enorm wichtige Rolle.

Natürlich wünsche ich allen Müttern und Kindern eine glückliche Stillbeziehung. Und es ist gut, sich wirklich darum zu bemühen. Aber die Realität der heutigen Welt erfordert auch die Erlaubnis zu individuellen Lösungen. So brauchen Flasche-gebende oder wieder arbeitende Mütter kein schlechtes Gewissen zu haben und Väter oder Partner:innen sollten genauso im Fokus der Beratung sein wie Mütter. Mit dem nicht stillenden Elternteil machen Kinder eben andere, aber genau so wichtige Lebenserfahrungen.

 

Schlüsselfaktoren für sichere Bindung

 

  1. Reaktionsfähiger, aufmerksamer, feinfühliger Elternteil mit emotionaler Verfügbarkeit: Dieser erkennt, versteht und erfüllt prompt, angemessen und zuverlässig die Babybedürfnisse. Das schafft Vertrauen und Sicherheit beim Kind, es fühlt sich verstanden, akzeptiert und unterstützt.
  2. Körper- und Haut-zu-Hautkontakt: Die physische Verbindung und Oxytocin-Freisetzung stärkt die emotionale Verbundenheit.
  3. Verlässliche vorhersagbare Routinen: Diese stärken die Bindung, weil sie eine verlässliche Struktur schaffen. Diese Konsistenz bietet Sicherheit und hilft Kindern, ihre Umwelt zu verstehen. Sie können Vertrauen aufbauen und das gibt ihnen ein Gefühl von Stabilität, was wesentlich ist für eine sichere Bindung.
  4. Gegenseitige Kommunikation: Diese fördert die Eltern-Kind-Bindung, indem sie ein Verständnis für Bedürfnisse, Gefühle und Erfahrungen des Kindes ermöglicht. Durch den Austausch entsteht eine tiefere Verbindung, die Vertrauen und eine stützende Umgebung schafft.
  5. Gemeinsame Aktivitäten: Durch positive Interaktionen und gemeinsame Erlebnisse wird Vertrauen gefördert, die emotionale Verbindung gestärkt und ein gegenseitiges Verständnis möglich. Das Teilen von Erfahrungen schafft Erinnerungen und eine gemeinsame Basis, was die Bindung vertieft und festigt.

 

Schlafwelten sind individuell

 

Seit mehr als 15 Jahren erreichen mich gleichermaßen verzweifelte Anfragen von Familien mit den verschiedensten Gewohnheiten. Es gibt schlecht schlafende Kinder, die sich die Flasche oder die Brust wünschen, andere brauchen den Pezziball und wieder andere wollen getragen werden und schweben.

Das ist alles völlig in Ordnung, es handelt sich um elterliche Unterstützung und in jeder Familie gibt es schicksalhaft andere Gepflogenheiten und es entstehen ganz individuelle Schlafwelten. Nur müssen die Eltern damit leben, dass die Kinder diese Gewohnheiten nicht nur tagsüber in Anspruch nehmen, sondern auch nachts als Selbstverständlichkeit mehrfach erwarten.

Diese Co-Regulation ist in den ersten Monaten notwendig, aber wie lange das aufrechterhalten wird, ist eine ganz individuelle Entscheidung und absolut wertfrei. Diesen Sachverhalt versuche ich den Eltern transparent zu machen und mir geht es um eine informierte Entscheidung.

Denn es ist gut möglich, von Anfang an den Kindern eine große Palette an Beruhigungsstrategien zu zeigen und auch die Belastung der ersten Zeit zu teilen, indem beide Elternteile eine Sprache lernen, die ihre Kinder erreicht.

Mein Ziel ist es, präventiv diese Schlafwelten über das Elternwissen günstig zu beeinflussen, so dass manche Probleme gar nicht erst entstehen. Das war der Antrieb für meinen Instagram-Account @dr.danieladotzauer, den ich seit November 2023 mit Leben, Wissen und Erfahrung fülle.

 

Aufreibung im Netz

 

Meine Erfahrungen im Netz sollen zum Nachdenken anregen und vielleicht den Blick etwas weiten, so dass ein Familienverständnis entsteht. Es wäre dringend an der Zeit, eine etwas differenziertere Sicht zu entwickeln, nicht nur auf ein Symptom und den Moment zu fokussieren, sondern auf die ganze Familie und vor allem auf die gemeinsame Entwicklung.

Als ich mit meinem Instagram-Kanal startete, wusste ich nicht, was mich erwartet. Bestenfalls kann ich meine Erfahrungen mit etwa 6.000 Familien weitergeben und meine Vision von Prävention damit umsetzen. Mein Traum ist es, Familien zu begleiten, die gut informiert wissen, was auf sie zukommt, die wissen, was sie tun, und trotz aller Anstrengungen des Elternwerdens Freude haben am Miteinandersein. Familien, die den Entwicklungszauber ihrer Kinder bestaunen und die Herausforderung Elternschaft bewusst annehmen.

Diesem hohen Ziel gegenüber mutet es merkwürdig an, dass sich im Netz Beratende darüber aufreiben, ob, wann und wie oft in der Nacht gestillt werden soll. Ich sah mich plötzlich diversen Vorwürfen gegenüber, sie reichten von fehlender Bedürfnisorientierung bis Adultismus. Die Triebfeder dieser Vorwürfe ist mir völlig unbegreiflich und ich weise diese weit von mir. Mir geht es immer um die kindliche Perspektive, um die Bezogenheit zwischen Eltern und Kind, und nicht um einfache Lösungen.

 

Wie erreiche ich mein Kind?

 

Es ist nicht immer leicht, sein Baby zu verstehen. Dies verlangt den Eltern viel ab. Nicht selten kommt es zu Konflikten, Erschöpfung und Enttäuschung bei den frischgebackenen Eltern. Sie suchen Hilfe und Unterstützung, aber die schnellen Klicks auf Instagram-Posts sowie das Durchforsten der widersprüchlichen Kommentare verwirrt mehr, als dass es hilft. Da greifen Ratschläge einfach zu kurz wie: »Hör doch auf dein Bauchgefühl«, »Im Zweifel einfach stillen« oder »Pack’s doch in die Federwiege« .

Viele Jahre der Beratung haben mich gelehrt, dass Eltern gut daran tun, die Aufgaben der frühen Kindheit zu lösen. Also beispielsweise die Frage: »Wie erreiche ich mein Kind beim Beruhigen?« oder aus kindlicher Perspektive: »Mama, wie geht eigentlich Ruhigwerden?«

Dabei geht es nicht isoliert um das Problem des Ruhigwerdens, sondern um die gemeinsame Sprache. Dass Eltern und Kind gemeinsam erfahren und lernen, wie das Ruhigwerden in Verbindung gelingt. Dass beide Seiten ein verlässliches Konzept der »positiven Gegenseitigkeit« erfahren, wie die heute 83-jährige Entwicklungspsychologin und Eltern-Säuglings-Therapeutin Mechthild Papoušek es formuliert. Das bindet Kinder und Eltern aneinander. Dazu braucht es allerdings ein emotional verfügbares Gegenüber und keine Maschinen.

Wenn die elterlichen Bemühungen das Baby nicht erreichen, kann man das Problem zwar auslagern und notfalls zum Beispiel die maschinelle Stimulation der Federwiege nutzen, aber es hat nichts mit Nähe und Eltern-Kind-Kommunikation zu tun. Beide Seiten lernen dabei etwas Wesentliches nicht: Der Elternteil lernt nicht, sein Kind zu erreichen und in Wohlgefühl einzuhüllen, und das Kind lernt nicht, sich der Nähe und dem Wohlgefühl des Elternteils zu überlassen.

Verstehen die Eltern, sich mit ihrem Kind zu verbinden, dessen Bedürfnisse zu lesen und zu erfüllen, fühlt sich das Kind geborgen und erfährt Sicherheit. Und damit entwickelt es Vertrauen in die Eltern, in die Welt und letztlich in sich. Dieses Vertrauen ist wichtig für alle unübersichtlichen Zustände und Übergänge, beispielsweise von Aufregung zu Beruhigung, von Wachen zu Schlafen und von Aufwachen zu Wiedereinschlafen – am Tag und auch in der Nacht.

 

Singen, Streicheln, Wiegen

 

Für die Verbindung von Eltern und Kind müssen alle Beteiligten gut aufeinander eingestimmt sein und es braucht dazu günstige Rahmenbedingungen. Es ist häufig mühsam, nicht einfach und geht auch nicht schnell, wie so oft auf Instagram verheißen, aber diese Erfahrung des sich Erreichens ist für beide Seiten ungeheuer wertvoll.

Wenn das verstanden würde, gäbe es weniger Verzweiflung am Anfang des Lebens, die Nächte wären ruhiger, es gäbe mehr Guck-guck-da-Spielchen auf der Wickelablage, anstatt das iPad zur Ablenkung und schließlich Familien, die das gemeinsame Ins-Bett-Bringen genießen. Versteht das kleine Baby die Beruhigungssprache seiner Eltern, kann es das Konzept »Verbindung« verinnerlichen. Aus dem anfänglichen Singen, Streicheln und Wiegen werden später Worte, Verständnis und gelebte Zuneigung. Ist dieses Gefühl unerschütterlich und verlässlich, entsteht eine Bindung, die lebenslang trägt. Denn auf die Verbindung kommt es an!

Rubrik: , 1. Lebensjahr | DHZ 03/2024