Leseprobe: DHZ 03/2022
Gegen Rassismus

Lasst uns aktiv werden!

Rassismus ist Alltag und macht vor der Kreißsaaltür nicht Halt. Zwei Hebammen beschreiben ihre Erfahrungen und wollen eine Organisation gründen, die sich dem Abbau von Rassismus im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett widmen soll. Mitmachen erwünscht! Reena Suri, Jessica Schliewe,
  • Jessica Schliewe (links) und Reena Suri (rechts): »Eine rassismuskritische Haltung und Praxis muss fester Bestandteil des Hebammenstudiums sein.«

Die Kollegin kommt zur Übergabe. Ihr Blick geht zum Geburtenbuch. Beim Durchblättern gibt sie einen angestrengten, leicht überheblich-genervten Ton von sich und schlägt das Buch mit den Worten wieder zu, dass »schon wieder nur ausländische Namen« darin stünden. »Wann entbindet denn endlich hier mal wieder eine Deutsche?« Bei mir zieht es in der Magengrube, es ist mir unangenehm. Ich mag die Kollegin. Sie ist jung und dynamisch. Eine richtige Powerfrau. Sagen werde ich nichts.

 

»Rassistisch sind doch die Anderen«

 

Ich bin Hebamme. Per se gehöre ich aus der Perspektive der Öffentlichkeit zu »den Guten«. Ich helfe, begleite und stehe bei. Auf mich kann man setzen, auch wenn es brenzlig wird. Hebamme halt! Rassistisch sind doch die Anderen.

Dann kam dieser Nachtdienst. Der Kreißsaal war voll. Neben ambulanten Tätigkeiten, die bereits meine volle Aufmerksamkeit brauchten, waren da auch zwei Gebärende. Eine privatversicherte Zweitgebärende mit starken Wehen und Anfangsbefund. Sie hatte bereits einmal komplikationslos geboren. Ihr Mann unterstütze sie. Im anderen Kreißsaal wehte eine Erstgebärende mit Partner. Sie wirkte etwas ängstlich und schüchtern. Dankbar für die wenigen Minuten, die ich bei ihr anwesend war, bedachte sie meine leicht gehetzte Zuwendung stets mit einem kleinen Lächeln.

Obwohl ihre Geburt viel zügiger voranschritt als die der Mehrgebärenden und ihre Lautstärke bei jeder Wehe immer mehr Verzweiflung und Erschöpfung verriet, ließ ich sie allein. Mehr Zeit verbrachte ich bei der Mehrgebärenden. Diese betreute ich zugewandter und gab ihr die nötige Hilfestellung. Beide Kinder kamen nicht mehr in meinem Dienst. Die Zweitgebärende, so schlug ich später nach, gebar spontan. Die Erstgebärende mit PDA und vaginal operativ.

 

Unbewusste Entscheidungen

 

Die unbewussten Gründe für meine Abwesenheit bei der Erstgebärenden waren – das weiß ich jetzt – ihre Hautfarbe, ihre vermeintliche Herkunft, das Kopftuch, ihr sozialer Status (nicht privatversichert) und die Tatsache, dass der rassistisch-sozialisierte Anteil in mir meine Handlungen bestimmt hat. Zum einen habe ich das Schmerzempfinden der Frau in Bezug zu ihrer Herkunft und den damit verbundenen rassistischen Vorurteilen gesetzt und zum anderen ihren sozialen Status als innerliche Begründung dazu benutzt, dass sie sich sowieso nicht beklagen oder mein Verhalten in Frage stellen würde. Aufgrund meiner Vorurteile hat die Frau intersektionale Diskriminierung erfahren. Rassismus und Klassismus haben ineinandergegriffen und sich, da bin ich mir sicher, auf das Geburtsoutcome dieser Frau negativ ausgewirkt.

Die Privilegien der Mehrgebärenden waren durch ihr weiß-sein selbstverständlich gegeben und wirkmächtig. Auch hier spielten die Hautfarbe, die Herkunft und der soziale Status als Privatversicherte für das Geburtsoutcome eine Rolle. Sie erhielt mehr von der Begleitung, die die Erstgebärende so dringend gebraucht hätte. Struktureller und institutioneller Rassismus sind komplex und betreffen auch immer die eigenen rassistischen Vorurteile und Privilegien, die während der Sozialisation entstanden sind (Wachtendorfer 2001)

 

Sei nicht »anders«!

 

Was die Kollegin berichtet, kenne ich gut. Auch ich bin Hebamme und eine von den »Guten«:

In bin in Deutschland als PoC (Person of Colour) geboren, aufgewachsen und sozialisiert. Schon immer begleitet mich die andauernde Auseinandersetzung zwischen: »Ich bin Deutsche, weil ich mich als solche fühle« und: »Ich bin keine richtige Deutsche, weil ich nicht so aussehe«. Ich habe mich mein Leben lang bemüht, so farblos wie nur möglich zu sein. Schweigend und unbewusst akzeptiere ich weiß-sein als Norm, der sich alle anderen anpassen müssen. Stumm und »gut integriert« sehe ich zu, wie Kolleg:innen sich über ihre weißen Privilegien nicht bewusst sind und diese in ihrer täglichen Praxis nutzen.

Ob in Form von positivem Rassismus, wie: »Sie können aber gut deutsch sprechen« oder: »Du hast so schöne braune Haut und tolle schwarze Haare, die hätte ich auch gerne!« bis: »Wo kommst du denn her? ... Nein, wo kommst du ursprünglich her?« Oder als offensichtlicher Rassismus: »Wir haben `ne Z*-Frau zur Geburt im Kreißsaal, schließt alles weg, auch Windeln und so!« oder: »Die soll Deutsch mit mir sprechen, schließlich lebt die schon seit sechs Jahren hier.«

Die implizierte Botschaft dieser Sätze sowie zahlreiche Gesten und wortlose Handlungen manifestierten sich auch in meiner Gedankenwelt: Sei nicht »anders«! Falle nicht negativ auf! Ich wurde farblos. Struktureller und individueller Rassismus können nicht über Nacht oder durch Engagement aufgelöst werden. Rassismus ist tief in unser Unterbewusstsein eingeschrieben, institutionell und strukturell verankert (Maafalani 2021; Tißberger 2017). Er betrifft auch die Geburtshilfe. Es ist nicht egal, wie wir geboren werden, aber auch nicht, wer gerade gebärt!

 

Geburt ist politisch!

 

Da Rassismus gesamtgesellschaftlich wirkt und auch die peripartale Praxis nicht ausspart, müssen Maßnahmen ergriffen werden, um strukturellen und individuellen Rassismus abzubauen.

Rassismus im peripartalen Kontext ist im deutschsprachigen Raum weitgehend eine Unbekannte (Günes-Schneider 2020). Sowohl im wissenschaftlichen als auch berufspolitischen Zusammenhang gibt es nur wenige Versuche, die Bedeutung und Auswirkungen der »epistemischen, institutionellen und personalen Dimension« (Kerner 2016) von Rassismus und deren Wechselwirkung aufzuzeigen.

Das Gesundheitswesen im Allgemeinen und das Hebammenwesen im Speziellen benötigen einen wissenschaftlichen und berufspolitischen Diskurs über Rassismus. Eine rassismuskritische Haltung und Praxis – generiert aus den wissenschaftlichen Evidenzen der rassismuskritischen Forschung, Critical Whiteness Studies, Intersektionalitätsforschung und postkolonialen Theorie sowie Critical Race Theory – müssen fester Bestandteil des Hebammenstudiums sein und können nicht in den privaten Bildungsraum der einzelnen Hebamme abgeschoben werden. Universitäten sind politische Räume. Politisches Bewusstsein und eine kritische Haltung zu den Lehrinhalten und deren Bedeutung für die Gesellschaft betreffen auch (studierende) Hebammen.

Die kritischen Mediziner:innen haben bereits die Initiative ergriffen und organisieren sich, um die sozial-gesellschaftliche und politische Dimension ihrer Arbeit sichtbar zu machen. Es ist dringend nötig, eine Organisation von und für Hebammen zu gründen, die als Schnittstelle operiert und mittels wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie politischem Aktivismus gesellschaftlich und berufspolitisch Einfluss nimmt.

Daher suchen wir nach Personen, Vereinen oder Institutionen, die mit uns eine Organisation zum Abbau von Rassismus im peripartalen Praxisfeld gründen und aufbauen möchten (siehe Kasten).

Aufruf

 

»Critical Midwifery Germany – kritische Hebammenarbeit«

 

»Wir«, das sind Jessica Schliewe und Reena Suri, Hebammen(-studentinnen) und jetzt auch im Gründungsteam von Critical Midwifery Germany (CMG). Mit CMG wollen wir uns zunächst auf Rassismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungsformen konzentrieren, wohl wissend, dass Personen und Familien, die wir begleiten, durch verschiedene Diskriminierungsformen, geprägt sein können und diese auch zu ihrer Marginalisierung beitragen. Da Rassismus als gesamtgesellschaftliches Konstrukt wirkt und auch das Feld der Hebammenpraxis nicht ausspart, müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, auch in diesem Bereich Rassismus abzubauen.

Die rassismuskritische Bildung und Vernetzung von und für Hebammen steht als erstes im Fokus des Projektes.

Mittels bereits vorhandener, wenn auch bislang weniger, wissenschaftlicher Erkenntnisse, sowie politischem Aktivismus, möchten wir Hebammen für Rassismus sensibilisieren.

Wir sind uns sicher, dass eine Organisation nationale und internationale wissenschaftliche Beiträge zu den Themen Critical Race Theory, Critical Whiteness Studies und Postkoloniale Theorie nutzen kann, um

  • eine rassismuskritische Haltung und rassismuskritisches Wissen durch Fortbildungen, Vorträge und Workshops zu fördern
  • Aktionen und Öffentlichkeitsarbeit zu planen
  • berufsbezogenes Engagement zu unterstützen und Projekte zu bewerben
  • Bewusstsein innerhalb der Berufsgruppe zu schaffen, um unbewussten Rassismus in der Versorgung von schwangeren Personen und deren Familien zu erkennen, darzustellen und zu vermindern
  • antirassistische Haltung und Praxis im Hebammenwesen zu implementieren und dadurch strukturellen Rassismus stetig abzubauen
  • die Diversität im Hebammenwesen und in der Hebammenarbeit zu vergrößern
  • Kooperationen und Vernetzungen mit anderen Organisationen und Betroffenen zu schaffen und zu pflegen.

Die Mitgliedschaft und das Engagement in der Organisation und der damit verbundene regelmäßige Austausch könnten zu einem Qualitätsmerkmal werden. Es kann zu einem sichtbaren Zeichen für eine antirassistische Haltung und Praxis der jeweiligen Institution oder Person werden, das sich in einer Zukunftsvision, in Form eines Zertifikates, öffentlich wirksam verdeutlichen lässt.

Wer Interesse an einem Austausch hat, schreibe an: cmgkritischehebammenarbeit@web.de

 

Rubrik: Politik & Gesellschaft | DHZ 03/2022

Literatur

Güneş-Schneider NB: Black lives matter – auch im Kreißsaal! In: Deutsche Hebammen Zeitschrift 2020. 72. (12): 82–85

Kerner I: Critical Whiteness Studies: Potentiale und Grenzen eines wissenspolitischen Projekts. Feministische Studien: Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung 2013. 31. (2): 278–293

Mafaalani A: Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021
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