Leseprobe: DHZ 1/2021
Fehlgeburt

Pathologie oder Variation der Natur?

Eine Fehlgeburt in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft verläuft meistens spontan. Die Angst der Fachleute vor Infektionen oder lebensbedrohlicher Blutung und der Drang der Frau, schnell aus der Not herauszukommen, führen jedoch oft zur medikamentösen Beschleunigung oder operativen Beendigung. Wie können Hebammen die Frauen sachkundig und bestärkend begleiten? Franziska Maurer,

Schätzungsweise jede dritte Schwangerschaft endet in den ersten drei Monaten. Es kommt zum Absterben des Embryos, zu Anpassungsreaktionen im Körper der Schwangeren und zu einer Geburt – der sogenannten Fehlgeburt. Das Wort deutet auf das Fehlen des lebendigen Kindes hin – nicht auf einen Fehler. Von den ersten Anzeichen, die die Frau wahrnimmt und sie darauf aufmerksam machen, dass »etwas nicht mehr stimmt« bis zur Geburt kann es wenige Stunden bis mehrere Wochen dauern. Das erste Trimenon ist die sensible Phase der Neuorganisation. Der kindliche Organismus entsteht, der mütterliche Organismus passt sich den »anderen Umständen« an und beide pendeln sich in ihrem Zusammenwirken ein. Während dieser hochkomplexen Vorgänge gilt das Gesetz natürlicher Regulierung. Ungefähr zwölf Tage nach der Befruchtung kommt es zur Implantation in das aufnahmebereite Endometrium. Ist die Gebärmutterschleimhaut nicht gesund, stagniert die Weiterentwicklung und es kommt zur Fehlgeburt. Auch verschiedene Formen von Embryopathien können eine Ursache sein: Möglich sind primäre, strukturelle Fehlbildungen während der sensiblen Organogenese zwischen der zweiten und achten Entwicklungswoche, die aufgrund von genetischen oder verschiedenen Einflüssen von außen entstehen. Im weiteren Verlauf können auch Veränderungen oder Zerstörung der bereits angelegten Organe zu sekundären Fehlbildungen und zu einer Fehlgeburt führen (Kosfeld 2019). Nach Absterben des Embryos und Sistieren seines Stoffwechsels stellt sich der mütterliche Organismus um, damit der tote Embryo zur Welt kommen kann und der Uterus wieder leer wird. Die schwangerschaftserhaltende Wirkung des Progesterons sinkt und in der Gebärmutter löst sich die Schleimhaut ab, was wie bei der Menstruation mit einer Blutung einhergeht (Maurer 2017). Die Adaptation bis zum Beginn der Blutung dauert in der Regel mindestens rund zwei Wochen nach Absterben des Embryos (Thorstensen 2000).

 

Vorzeitiges Wissen

 

Der Körper der Schwangeren braucht also 10 bis 14 Tage, um auf den Tod des werdenden Kindes zu reagieren, bis deutliche Geburtsbestrebungen wie Blutung und Kontraktionen einsetzen können. Dies gilt es insbesondere dann zu beachten, wenn der Tod durch eine Ultraschalluntersuchung festgestellt wird, ohne dass zuvor klinische Zeichen darauf hinweisen.

Durch diesen Zufallsbefund kommt es zu einem vorzeitigem Wissen. Die Frau hat bis dahin vielleicht noch gar keine Veränderung wahrgenommen oder kann diese zu dem Zeitpunkt erst ahnen. Die körperlichen Symptome wie abnehmende Schwangerschaftszeichen und stillstehendes Gebärmutterwachstum weisen erst nach und nach auf den veränderten Schwangerschaftsverlauf hin.

Mit der Blutung setzt dann ein deutliches Zeichen der Vorbereitung zur Geburt ein. Dabei kann auch der körpereigene Rhythmus der Frau beobachtet werden. So kommt es häufig erst im Zeitrhythmus der Menstruation zur Blutung und schließlich zur kleinen Geburt. Dabei können ein oder zwei Zyklen nötig sein, bis es zum Abschluss der Fehlgeburt kommt (Rockel-Loenhoff 2009). Beim Vergleich verschiedener Untersuchungen kam es je nach Zeitspanne des Zuwartens in 28 bis 94 % der untersuchten Fälle zu einem spontanen Verlauf und Abschluss der Fehlgeburt ohne Interventionen (Ankum 2010). Bei abwartendem Verhalten zwischen zwei und sechs Wochen stieg die Zahl der spontanen Verläufe deutlich an (Butler 2005). Nach der sonografischen Feststellung des Todes des Embryos wird dieser Zustand häufig als »missed abortion« oder als verhaltene Fehlgeburt diagnostiziert. Damit wird impliziert, dass etwas nicht rechtzeitig geschehen würde. Unter Berücksichtigung der physiologischen Gegebenheiten kann von verhaltener Fehlgeburt erst gesprochen werden, wenn es innerhalb von vier bis acht Wochen (zwei Menstruationszyklen) nicht spontan zur Geburt des toten Embryos kommt. Bis dahin erfordert eher die große Ungeduld Aufmerksamkeit, die durch das vorzeitige Wissen entsteht.

 

Infektion und Blutung

 

Der abgestorbene Embryo ist kein Infektionsherd, er ist nicht gefährlich. Bei Fehlgeburten im ersten Trimenon kommt es äußerst selten zu einer Infektion (Nanda 2012). Ist eine vorher bestehende Infektion mit anderer Ursache im Gang, kann diese mit sorgfältiger klinischer Einschätzung erkannt und bei Bedarf behandelt werden. Aufmerksamkeit bei der Fehlgeburt im ersten Trimenon erfordert die Blutung. Diese ist eine Abbruchblutung wie bei der Menstruation. Es blutet so lange, bis der Embryo und die gesamte Dezidua geboren sind. Die Stärke der Blutung ist wie bei der Menstruation individuell und in aller Regel in einem für die Frau verträglichen Maß. In den meisten Fällen entspricht die Blutung einer Menge, die die Frau zu dem Zeitpunkt der Schwangerschaft gut tolerieren kann, da sich das Blutvolumen bereits in der Frühschwangerschaft aufbaut. Tatsächlich kann die Frau – und auch die begleitende Fachperson – überrascht sein von der Blutungsmenge, weil sie zu dem Zeitpunkt nicht damit rechnen. Eine Blutung allein ist kein Grund zum Intervenieren. Eine differenzierte Einschätzung mit mindestens zwei weiteren klinischen Kriterien deckt allfälligen gezielten Handlungsbedarf auf. Die Vitalzeichen, der Allgemeinzustand der Frau, die Quantität und auch die Qualität der Blutung ergeben im Gesamtverlauf ein differenziertes Bild. Handlungsleitend ist immer die Abschätzung, ob die Frau akut gefährdet ist. Lebensbedrohliche Blutungen sind bei einem spontanen Verlauf sehr selten (Nanda 2012).

Die Fehlgeburt reiht sich ein zwischen Menstruation und Geburt eines reifen Kindes. Im ersten Trimenon gleicht die Fehlgeburt eher einer Menstruation, im zweiten eher einer Geburt. Im ersten Trimenon ist eine Fehlgeburt Teil der Physiologie von Schwangersein und Gebären. Entsprechend ist der gesamte Verlauf in den meisten Fällen physiologisch.

Im zweiten Trimenon ist mit der Hoch-Zeit der Plazenta alles auf Halt und Wachstum ausgerichtet. Die Bedingungen sind nicht auf Gebären eingestellt, eine Geburt in diesem Zeitraum entspricht nicht der Physiologie. Die Aufmerksamkeit richtet sich hier auf Geburtsbeginn und Plazentarphase. Aufgrund der physiologischen Gegebenheiten beginnt die Geburt oft nicht spontan und es kommt häufiger zu einer Plazentaretention. Eine Fehlgeburt im zweiten Trimenon erfordert daher eine medizinische Überwachung (Maurer 2017).

 

Was wird behandelt?

 

Selbst in renommierten, differenzierten Leitlinien wie den NICE-Guidelines wird von »Behandlung der Fehlgeburt« (National Institute for Health and Care Excellence 2019) gesprochen. Das Geschehen Fehlgeburt ist jedoch – genauso wie die Geburt eines reifen Kindes – nicht behandlungsbedürftig. Zur Abwendung sich abzeichnender Gefahr kann behandelnd ins Geschehen eingegriffen werden, wie beispielsweise bei einer Blutung, die für die Schwangere nicht mehr tolerierbar ist. Es bedarf einer Unterscheidung von sogenanntem Risiko und echter potenzieller Gefahr. Risiko bezeichnet einen hypothetischen, also einen eventuell möglichen zukünftigen Zustand, der mit der aktuellen Wirklichkeit nichts zu tun hat (Duden 2018). Eine echte Gefahr kündigt sich dagegen an. Sachverständnis des Geschehens und aufmerksame differenzierte Beobachtung ermöglichen eine fortlaufende Einschätzung und adäquates Eingreifen nur da, wo es angezeigt ist.

Die aktuellen Empfehlungen der WHO zur intrapartalen Betreuung können durchaus auch auf die Begleitung bei Fehlgeburt übertragen werden: »Trotz der beträchtlichen Debatten und Forschungen, die seit mehreren Jahren geführt werden, ist das Konzept der ›Normalität‹ bei Wehen und Geburt nicht universell oder standardisiert. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Anwendung einer Reihe von Arbeitspraktiken zur Einleitung, Beschleunigung, Beendigung, Regulierung oder Überwachung des physiologischen Prozesses der Wehen erheblich zugenommen mit dem Ziel, die Ergebnisse für Frauen und Säuglinge zu verbessern. Diese zunehmende Medikalisierung des Geburtsvorgangs untergräbt tendenziell die eigenen Fähigkeiten der Frau zu gebären und wirkt sich negativ auf ihre Entbindungserfahrung aus.« (WHO 2018). Die Problematik des routinemäßigen und oft unbegründeten Intervenierens zeichnet sich auch darin ab, dass der natürliche Verlauf einer Fehlgeburt mit dem Verlauf bei Medikamentengabe oder Kürettage verglichen wird. Das ist äußerst irreführend. Der natürliche Verlauf ist keine Methode, sondern die körpereigene Normalität. Dass diese begründet werden muss, ist ein Missstand an sich.

 

Aus der Ohnmacht in die Bewältigung

 

Erfährt die Schwangere, dass ihr werdendes Kind nicht mehr lebt, ist sie mit Ohnmacht konfrontiert. Angesichts des Todes hat sie keinen Handlungsspielraum, sie ist »ohne Macht«. Wie groß ihr Handlungsspielraum im Umgang damit ist, hängt stark von den Umständen ab. Je unvorbereiteter sie die Nachricht erreicht, umso heftiger können die Notreaktionen ausfallen. Die Kampf-/Flucht-Impulse sind Reaktionen des autonomen Nervensystems (ANS) auf eine vorübergehend überfordernde Situation. Dies ist Teil eines physiologischen Plans, um aus dem inkohärenten in einen kohärenten Zustand zu kommen.

Bedingt durch die Umstände kann zuerst die Angst dominieren. Die Situation erscheint erst einmal ausweglos, es ist kein Plan und kein gangbarer Weg erkennbar, es besteht kein Zugang zu den eigenen Ressourcen. Das Gefühl des Ausgeliefertseins beherrscht alles (Hüther 2020). Bieten die äußeren Umstände soweit Sicherheit, dass die Überwältigung sich zumindest teilweise beruhigen kann, wandelt sich die Ohnmacht in Handhabbarkeit. Die Verunsicherung vor dem, was da geschieht und noch geschehen wird, ist noch da. Gleichzeitig realisiert die Frau, dass ihr Leben nicht bedroht ist und dass sie Kräfte hat, um der Situation zu begegnen. An die Stelle lähmender Angst tritt Furcht. Diese beinhaltet im Gegensatz zur lähmenden Angst bereits Möglichkeiten, mit der Herausforderung umzugehen (Hüther 2020).

Es ist eine große somatische Weisheit, erst einmal innezuhalten in überwältigenden Situationen. Um dann die »Gewalt« wieder an sich zu nehmen, wieder selbst Kontrolle zu erlangen angesichts des Unabwendbaren. Innehalten schafft die Zeit, die nötig ist, um die Aufregung und Erschütterung sich beruhigen zu lassen. Die Zeit, um das Gehörte nach und nach in der Wirklichkeit zuzulassen – also auch in den Sinnen. Realisieren bedeutet, mit allen Sinnen begreifen und erfassen, was jetzt Wirklichkeit ist. Um dann ganz bei Sinnen – unter Nutzung aller Kräfte – damit einen Umgang zu finden. Jede Form von Aktionismus verstärkt den Impuls, der Not entfliehen zu wollen. Es kommt dadurch zu einer menschgemachten Verschärfung der akuten Krise. Anstatt, dass die Frau wieder zu sich und damit zu ihrer Selbstwirksamkeit findet, führen sie die Interventionen von außen weiter von sich weg und verstärken ihre Ohnmacht. Die angebotene Option, die Fehlgeburt durch Medikamente auszulösen oder durch Kürettage vorzeitig zu beenden, impliziert, dass es einen vermeintlichen »Ausweg« aus der akuten Not gebe. Und mehr noch: dass an der Selbstbewältigung der Frau gezweifelt wird und es zu ihrer »Rettung« eine Intervention von außen bräuchte.

Kommt es zu beschleunigenden Handlungen, solange die Frau noch im Zustand von ANS-gesteuerten Notreaktionen ist, manifestiert sich dieser Zustand in ihrem Organismus. Eine Narkose – die maximale Steigerung von machtlos sein – verstärkt dies. Kurz- oder langfristig kann diese Erfahrung von verstärktem Ausgeliefertsein in Form von Selbstzweifeln, Versagensgefühlen und allen bekannten Belastungs- und Traumatisierungszeichen wirken (Porges 2010; Rotschild 2002). Natürlich kann die Schwangere sich für einen medikamentösen oder operativen Eingriff entscheiden. Ausschlaggebend ist, ob sie dies im Zustand akuter Überforderung oder nach Beruhigung der Notreaktionen in einem sorgfältigen Abwägen ihrer Ressourcen tut.

 

Rechtslage in Deutschland

 

  • Meldepflicht für alle totgeborenen Kinder ab 500 g Geburts­gewicht (oder 24. vollendete Schwangerschaftswochen)
  • Keine Meldepflicht für fehlgeborene Kinder. Es besteht ein freiwilliges Melderecht

Quelle: Verordnung zur Ausführung des Personenstandgesetzes (PStV) §31 Lebendgeburt, Totgeburt, Fehlgeburt. https://www.gesetze-im-internet.de/pstv/__31.html

 

Selbstwirksamkeit kurz- und langfristig unterstützen

 

In der akuten Krise ist es Aufgabe der begleitenden Fachperson, sich selbst zu beruhigen, um dem eigenen Handlungsdrang widerstehen zu können und stattdessen möglichst rasch einen Überblick über das aktuelle Geschehen zu bekommen – handlungsfähig zu werden. Das heißt, durch Selbstregulation mit sich im Kontakt und ganz bei Sinnen zu sein, um eine klare Einschätzung der Situation gewinnen zu können und zu erkennen, wo Handlungsbedarf besteht.

In den meisten Fällen besteht bei Fehlgeburt im ersten Trimenon kein akuter geburtshilflicher Handlungsbedarf. Aufmerksamkeit erfordert allerdings die akute Krise.

Im Zustand von Überwältigung brauchen Menschen Schutz und beruhigenden Beistand. Es geht primär um die Abwendung von zusätzlichen Verletzungen, also auch um Handlungen, deren Ausmaß die Betroffenen im Moment nicht einschätzen können. Unter beruhigenden, verlangsamenden Bedingungen können die Notreaktionen ablaufen bis zum Umkehrpunkt, an dem die hohe Erregung sich legt. Die Schwangere kann nach einem gangbaren Weg statt nach einem Ausweg suchen, sie kommt aus der Ohnmacht in die Selbstwirksamkeit. Das ist auch der Moment, in dem ganz im Sinne der Empfehlungen der NICE-Guideline, adäquate Informationen von Fachpersonenseite der Frau Orientierung geben. »Erklären Sie, was abwartendes Verhalten bedeutet und dass die meisten Frauen keine weitere Behandlung benötigen« (NICE 2019).

Die Erfahrung einer Fehlgeburt prägt die Frau und beeinflusst ihr weiteres Leben. Laut einer aktuellen Untersuchung von Jessica Farren und ihrem Forschungsteam hat jede fünfte bis sechste Frau noch neun Monate nach einer Fehlgeburt Anzeichen von posttraumatischem Stress und/oder mittelschweren bis schweren Angstzuständen (Farren 2019). Es wirkt nicht nur der Verlust des erwarteten (erwünschten) Kindes – auch die Erfahrung, dass die Kontrolle über das Leben eines Menschen in Frage gestellt ist. Das kann auch eine Bedrohung für die Pläne der weiteren Elternschaft darstellen. Posttraumatische Belastung muss also im kulturellen Kontext betrachtet werden. Wie gehen wir mit Unkontrollierbarem um? In welcher Heftigkeit treffen uns Ereignisse, die uns deutlich machen, dass wir keine Kontrolle über unser Leben und das unserer Kinder haben, dass das Leben und der Tod letztlich immer stärker sind als unsere Kontrolle darüber? Die Forscherinnen resümieren aus ihren Untersuchungen, dass Frauen nach einer Fehlgeburt psychologisch-therapeutische Betreuung benötigen und entsprechende Angebote bereitzustellen seien. Das mag ein möglicher und wohl auch notwendiger Ansatz sein, wenn wir am aktuellen Umgang mit dem Fehlgeburtsgeschehen festhalten.

Interessanter noch scheint hingegen zu untersuchen, was tatsächlich zur Schwächung und Belastung führt. Und wie es möglich ist, die Frauen im Akutgeschehen so zu begleiten, dass sie gestärkt aus dieser Lebenserfahrung herausgehen. So dass sie nicht nur nicht belastet sind, sondern gereift und im Leben tiefer verankert weitergehen können. Das würde eine tragfähige Basis schaffen für ihr weiteres Muttersein – und für ihr gesamtes weiteres Leben, selbst wenn sie nicht noch einmal Mutter werden.

 

Durch die Enge begleiten

 

Bis heute wurden praktisch alle Lebensbereiche von äußerer Kontrolle abhängig gemacht, so auch die Fruchtbarkeit und Mutterschaft. Das Aushalten von Ungewissem und Unabwendbarem ist unter diesen Gewohnheiten fast nicht mehr möglich. Die technische Überwachung von Schwangerschaft und Geburt vermittelt, dass von außen immer etwas machbar und auch nötig wäre. Da ist es schwierig für die Schwangere, ganz bei sich zu sein und ihrem Körper und sich selbst zu vertrauen. Gleichzeitig bietet die Schwangerschaft – und auch eine Fehlgeburt – eine große Chance für eine Frau, die Erfahrung zu machen, dass sie Episoden ihrer Fruchtbarkeit aus sich heraus mit eigenen Kräften meistern kann. Daher erfordert die Begleitung bei Fehlgeburt die Kernelemente originärer Hebammenarbeit: Die Fähigkeit zu einer differenzierten Erfassung, Beurteilung und Prognostik. Und die Fähigkeit, in Beziehung zu sein und daraus ermutigenden Beistand zu leisten.

Die differenzierte Erfassung setzt diagnostisches Verständnis statt Verdächtigung voraus. Oder mit den Worten der Medizinhistorikerin Barbara Duden: »...dass das physiologische Geschehen im Licht seines Eigensinns gedeutet wird und die Diagnostik und Prognostik nicht einen vermeintlichen Fehler voraussetzen, sondern einen inneren Sinn erfassen.« (Duden 2018)

Das heißt, mit fundierter Sachkenntnis genau zu beobachten, wie es dem Körper gelingt, sich an die veränderten Umstände anzupassen. Zu schauen, wie die Frau in und mit ihrem Körper das Ganze regelt. Beobachten mit hoher Wachsamkeit, um rechtzeitig Aufmerksamkeits- oder Alarmzeichen zu erkennen und entsprechend zu handeln und die Adaptationsvorgänge nicht zu stören, damit sie in Ruhe ablaufen können. Hebammenarbeit heißt auch, Frauen durch die Enge zu begleiten. Sie ermutigen, wo sie der Mut verlässt. Ihnen beizustehen, wo sie sich selber beinahe verlieren. Schmerz, Leid und Not zu teilen, ermöglicht die Entwicklung der notwendigen inneren Kraft. Verletzlichkeit wird so nicht mehr als Schwäche empfunden, sondern als Erfahrung, die im Teilen lebbar wird (Gruen 2013). Hebammenarbeit heißt auch, Nichtwissen mit auszuhalten und sich am situativen Wissen zu orientieren. Oder wie es die Hebamme Selina Keller auf den Punkt bringt: »Es ist nur in der aktuellen Situation möglich zu wissen, weil jede Geburt anders ist. Die Hebamme weiß nicht im Vorhinein, sondern im Moment, in dem etwas geschieht.« (Keller 2018)

 

Orientierung, Fachwissen, Mut

 

Hebammenarbeit erfordert fundierte Wissens- und Erfahrungsvermittlung in Aus- und Weiterbildung und die laufende Reflexion der eigenen Arbeit. Durch das vorwiegend intervenierende Vorgehen in den vergangenen 60 bis 70 Jahren fehlt heute vielen Frauen und vielen geburtshilflich Tätigen das Wissen über den natürlichen Ablauf einer Fehlgeburt. Entsprechend wichtig sind alle Erfahrungen von Frauen und Hebammen im physiologischen Verlauf einer Fehlgeburt. Das systematische Sammeln von Erfahrungsberichten und die gemeinsame Reflexion aktueller Begleitsituationen könnten dazu beitragen, das heutige Wissen breiter abzustützen. Der aktuelle Wissensstand zur Physiologie von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft bildet auch für die Betreuung bei Fehlgeburt die Grundlage und kann entsprechend adaptiert werden. Berücksichtigt werden muss dabei auch das langjährige Wissen aus der Stress- und Traumaforschung. Zusammenhänge aus der aktuellen Gehirnforschung präzisieren dies und verweisen deutlich auf schwächende Faktoren in akuten Krisen oder auf bestärkende Begleitung zur Bewältigung von Krisen und herausfordernden Lebenssituationen (Porges 2010; Rotschild 2020; Hüther 2020).

Die Grundlage der Geburtshilfe bestand lange Zeit aus der Erfahrung, dass Frauen schwanger sein und ihre Kinder in den meisten Fällen heil auf die Welt bringen können. Diese Gewissheit ist inzwischen untergraben. Fortschrittsversprechen, Planbarkeit, Kontrolle und Beherrschbarkeit prägen den heutigen Denkstil – und somit auch die »somatische Gewissheit« und die Orientierung in der Hebammenarbeit. Was trauen sich Frauen heute zu? Was trauen Hebammen ihnen und sich selbst zu? Diese Fragen sind zentral, auch um die neuen Ausbildungscurricula für Hebammen zu schaffen. Wenn es gelingt, darin auch die Phase der Frühschwangerschaft in die originäre Hebammenarbeit aufzunehmen, könnte altes und neues Wissen sinnvoll und bestärkend zum Tragen kommen. Daraus schöpfen die Hebammen von morgen Orientierung, Fachwissen, Mut und Entschlossenheit, Frauen in allen Phasen der Fruchtbarkeit sachkundig zu begleiten.

 

Abrechnung von Hebammenleistungen

 

  • Hilfe bei Fehlgeburt: Pauschale – außerklinisch inklusive acht Stunden vor der Fehlgeburt, mit Belegvertrag in der Klinik inklusive einer Stunde vor der Fehlgeburt: Position 130X/131X Die Positionen 130X/131X können auch abgerechnet werden, wenn die Fehlgeburt ärztlicherseits künstlich eingeleitet wurde.
  • Hilfe bei Schwangerschaftsbeschwerden oder Wehen: wenn die Betreuung vor der Fehlgeburt mehr als die in der Pauschalvergütung vorgesehene Zeit beansprucht: Position 050X/051X
  • Wochenbett: Position 180X/181X: Beratung, auch mit Kommunikationsmedium (Position 230)

Ausführliche Erläuterung und weitere Angaben:

> https://www.gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/ambulante_leistungen/hebammen/hebammenhilfevertrag/hebammenhilfevertrag.jsp

Übrigens …

Die Hebammenbegleitung bei Fehlgeburt erfordert keine Geburtshilfe-Haftpflichtversicherung. Dies gilt für Hebammen, die über den Deutschen Hebammenverband (DHV) versichert sind. Individuelle Handhabung der anderen Versicherungen müssen abgeklärt werden.

Aussage des Versicherers des DHV: »Die Betreuung von Fehlgeburten ist in Form 2 versichert, wenn der medizinische Hinweis auf eine Fehlgeburt vorliegt (keine fetalen Herztöne und eine Schwangerschaftswoche, die einer Fehlgeburt entspricht, sowie ein erwartetes Kindsgewicht von unter 500 g). Bitte beachten Sie, dass Sie diese Aufgabe nur übernehmen sollten, wenn Sie auch dafür ausgebildet sind, beziehungsweise eine Fortbildung zu diesem Thema besucht haben. Der Einschluss dieser Tätigkeit in den Haftpflichtversicherungsschutz bedeutet nicht, dass alle persönlichen und haftungsrechtlichen Risiken ausgeschlossen sind.«

Quelle: DHV 2020

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 1/2021

Literatur

Ankum WM: Management of pregnancy loss. In: Farquharson G, Stephenson MD (Hrsg.). Early Pregnancy 2020. S. 53–58. Cambridge: University Press

Butler C, Kelsberg G, Leilani A: How long is expectant management safe in first-trimester miscarriage? The Journal of Family Practice 2005. 54(10):889–890

Duden B: Hinsehen, zuhören, wissen. Deutsche Hebammen Zeitschrift 2018. 70(9): 22–28
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