Leseprobe: DHZ 12/2017

Starkes Plädoyer für die Känguruh-Pflege

Wie kann das Outcome von Frühgeborenen weltweit verbessert werden? Die WHO hat dazu zehn Empfehlungen herausgegeben. Deren Umsetzbarkeit ist allerdings mit Blick auf die Ressourcen der Länder unterschiedlich. Dr. Axel von der Wense,
  • Dr. Axel von der Wense ist Leitender Arzt der Abteilung für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin am Altonaer Kinderkrankenhaus in Hamburg.

Noch immer sterben täglich weltweit 15.000 Kinder unter fünf Jahren – knapp die Hälfte von ihnen in den ersten 28 Lebenstagen. Diese neonatalen Todesfälle resultieren etwa zur Hälfte aus Komplikationen der Frühgeburt.Dabei verwundert es nicht, dass die neonatale Mortalität weltweit unterschiedlich hoch ist. So tragen die Länder Indien, Pakistan, Nigeria und Äthiopien mit jeweils hohen Geburtenraten, aber auch einer sehr hohen Säuglingssterblichkeit zu einem erheblichen Teil bei. Die zehn Hauptempfehlungen der 2015 von der WHO herausgegebenen Empfehlungen zur Verbesserung des Outcomes von Frühgeborenen sind daher sehr zu begrüßen.

Für Länder mit niedrigen Ressourcen sind diese Empfehlungen von besonderer Bedeutung, gleichzeitig sind sie jedoch gerade in den ärmsten Ländern der Welt bisher nur schwer umzusetzen. Es braucht daher nicht nur Empfehlungen, die auf evidenzbasierten Studien und Metaanalysen beruhen, sondern vor allem Programme zur möglichst effizienten Umsetzung dieser Empfehlungen, angepasst an die Gesundheitssysteme der einzelnen Länder.

 

Kritische Punkte

 

Die vollständige Fassung der WHO-Empfehlungen ist sehr lesenswert, auch für alle Berufsgruppen, die sich in deutschsprachigen Ländern mit Geburtsmedizin und Frühgeburt auseinandersetzen. Sie enthalten auf über 100 Seiten umfangreiche Analysen zur aktuellen wissenschaftlichen Evidenz, auf denen die zehn Hauptempfehlungen beruhen. Für die deutschsprachigen Länder kann bei fast allen Empfehlungen davon ausgegangen werden, dass sie in der klinischen Praxis umfangreich umgesetzt sind.

Die ersten sechs Empfehlungen betreffen Maßnahmen, die bei der Mutter und der Geburtsleitung beziehungsweise bei der Verhinderung der Frühgeburt wirksam sein können. Danach folgen die Empfehlungen zur Behandlung von Frühgeborenen. Der erste Punkt befasst sich mit den unterschiedlichen klinischen Situationen und der Indikation zur Lungenreifungsinduktion durch Corticosteroide. Hier verwundert allerdings die Empfehlung unter Punkt 1.4, dass bei Frauen mit einer Chorioamnionitis eine solche Therapie nicht durchgeführt werden solle. Da die zu dieser Empfehlung führende Evidenz ausgesprochen gering ist und es durchaus Literatur gibt, die auch für diese Patientinnengruppe Vorteile beim Outcome für Frühgeborene zeigen, sollte jede geburtshilfliche Einrichtung in dieser Situation gegebenenfalls auch eine andere Entscheidung treffen. Häufig wird bei Verdacht auf Chorioamnionitis mit vorzeitigen Wehen eine empirische antibiotische Therapie begonnen und gleichzeitig eine Lungenreifung durch Corticosteroide induziert.

Auch der zweite Punkt, eine tokolytische Behandlung bei drohender Frühgeburt nicht zu empfehlen, wird sicherlich nicht für jede drohende Frühgeburt zu allen Zeitpunkten umzusetzen sein. Auch hier ist es in der klinischen Praxis eher so, dass eine tokolytische Behandlung begonnen wird, um zumindest die Frühgeburt so lange aufzuhalten, bis die Lungenreifungsinduktion vollständig wirksam sein kann. Dass andererseits Tokolytika nicht unkritisch und schon gar nicht langfristig angewendet werden sollten, dürfte inzwischen in den meisten Zentren realisiert sein.

 

Die Umsetzbarkeit bedenken

 

Die Empfehlungen 7 bis 10 zielen auf die Behandlung der Frühgeborenen nach der Geburt. Das starke Plädoyer für die Känguruh-Pflege basiert inzwischen auf weltweiten guten Erfahrungen und bietet gerade in Ländern mit wenig medizinischen Ressourcen eine Chance, die Sterblichkeit bei den Frühgeborenen und bakterielle Infektionen zu senken.

Die Empfehlungen zur Atemunterstützung und zur Surfactant-Therapie sowie zur Sauerstoffdosierung sind so formuliert, dass sie nur dort umgesetzt werden können, wo auch die entsprechenden medizinischen Möglichkeiten bestehen. Gerade für die teure Surfactant-Behandlung ist daher für Länder mit geringen Ressourcen vor allem die Frage zu stellen, wie sie solche Empfehlungen realistisch umsetzen können und wie die Weltgemeinschaft den Ländern helfen kann, entsprechende Programme zu implementieren.

Auch wenn die hohe Sterblichkeit von 1990 bis 2015 deutlich gesenkt werden konnte, bleibt global gesehen noch sehr viel Arbeit. In den reichen Industrienationen sind die Empfehlungen überwiegend umgesetzt und auch Bestandteil von Qualitätssicherungsprogrammen. Nun müssen die ärmeren Länder folgen.

 

VORGESTELLT: WHO-Empfehlungen zur Verbesserung des Outcomes von Frühgeburten

 

Zielgruppe für diese Leitlinie, die im November 2015 unter dem Titel »WHO recommendations on interventions to improve preterm birth outcomes« erschienen ist, sind Angehörige der Gesundheitsberufe, die für die Entwicklung nationaler und lokaler Gesundheitsprotokolle und -richtlinien verantwortlich sind. Außerdem richtet sie sich an ManagerInnen von Gesundheitsprogrammen für Mutter und Kind und an politische EntscheidungsträgerInnen. Die Empfehlungen sollen ebenso diejenigen unterstützen, die schwangere Frauen und Frühgeborene direkt versorgen, wie Hebammen, GeburtshelferInnen, KinderärztInnen, Krankenschwestern und AllgemeinmedizinerInnen.

> www.who.int/reproductivehealth/publications/maternal_perinatal_health/preterm-birth-guideline/en/

Rubrik: Wissenschaft und Forschung | DHZ 12/2017