Leseprobe: DHZ 03/2024
Seenotrettung von Schwangeren nach einem Pull-back

Stunden des Bangens

Die Rettungsteams der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye e.V. retten am 27. Oktober 2023 fünf Schwangere aus Seenot. Es vergehen Stunden des Bangens und Hoffens, nachdem eine Frau kaum noch atmete und eine weitere Schwangere bewusstlos und mit Benzingasvergiftung und Verätzungen von der maritimen Seenotrettungsleitstelle in Italien nicht medizinisch evakuiert wird. Situationen wie diese zeigen, wie auf dem Mittelmeer immer wieder Menschenrechtsverstöße die besonders vulnerablen Schwangeren, Kinder und das ungeborene Leben treffen. Melanie M. Klimmer,
  • Flucht übers Mittelmeer: Babys werden verzweifelt in die Luft gehalten.

In der ersten Juli-Hälfte 2023 wurden Hunderte Migrant:innen aus Subsaharaafrika ohne Zugang zu Wasser, Nahrung und Schutz vor Hitze von tunesischen Streitkräften von Zarzis in die Grenzregion zwischen Tunesien und Libyen deportiert und der Wüste überlassen. Libysche Sicherheitskräfte sollen um den 17. Juli auf sie geschossen, sie verprügelt und die Frauen vergewaltigt haben, während die Behörden jede medizinische Hilfe bis dahin ablehnten (Alarmphone 2023).

Die Bilder, wie die der Mutter, die mit ihrer jungen Tochter verdurstet war, gingen um die Welt. Menschen aus Subsaharaafrika wurden allein aufgrund ihrer Hautfarbe aus ihren Häusern im tunesischen Sfax vertrieben, von Jugendgangs durch die Straßen gejagt, geschlagen, mit Steinen beworfen, mit Messern attackiert, ausgeraubt, vergewaltigt oder gefoltert (Uddin, 2023). Aufgrund solcher schweren Menschenrechtsvergehen flohen zahlreiche People of Colour von Tunesien aus über das Mittelmeer in Richtung Europa.

 

Vorgestelllt

 

German Doctors e.V. ist seit 2021 in der Seenotrettung aktiv und kooperiert mit Sea-Eye e.V., um eine bessere medizinische Versorgung der aus dem Mittelmeer geretteten Menschen an Bord der SEA EYE 4 zu gewährleisten. Mehr Informationen zum Engagement der NGO finden Sie unter: > www.german-doctors.de/de/projekte-entdecken/ seenotrettung

Sea-Eye e.V. ist seit 2015 im Mittelmeer auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt im Einsatz und rettete über 17.000 Menschen aus Seenot. > https://sea-eye.org/

SOS Humanity e.V. konnte seit August 2022 insgesamt 1.956 Menschen an Bord der Humanity 1 retten. Zuvor rettete die NGO als deutscher Teil des Netzwerks SOS Mediterranee mit der Aquarius und der Ocean Viking zwischen 2016 und 2021 zudem 36.587 Menschen das Leben. > https://sos-humanity.org/lebenretten/?sos-mediterranee- deutschland-e-ba/prompt

 

UNICEF: Elf Kinder ertrinken jede Woche

 

Die IOM registrierte bis zum 10. Dezember 2.500 Vermisste und Ertrunkene im Mittelmeer. In den vergangenen zehn Jahren sollen insgesamt mindestens 28.259 Menschen ertrunken sein oder werden vermisst, die meisten von ihnen auf der zentralen Mittelmeerroute von Libyen oder Tunesien in Richtung Lampedusa und Malta (IOM, 2023). Trotz der tödlichen Gefahren versuchen viele oft mehrfach die Flucht. Nach UNICEF-Angaben sterben jede Woche etwa elf Kinder bei einem solchen Versuch, das zentrale Mittelmeer zu überqueren (UNICEF, 2023).

Die Daten gehen auf Schätzungen zurück, die sich aus der Gesamtzahl der vermissten Personen und der Bevölkerungsstruktur der registrierten Personen ergeben. Etwa 71 % der Kinder, die fliehen, sind unbegleitet, oft weil sie von ihren Eltern getrennt wurden. Minderjährige aber sind laut dem UN-Kinderhilfswerk einem besonderen Gewaltrisiko ausgesetzt. Vor allem Mädchen sind gefährdet, ausgebeutet und missbraucht zu werden (ebd.). Immer wieder werden allein reisende Mädchen aus seeuntauglichen Booten gerettet, darunter auch Mädchen, die schwanger sind.

 

Massenpanik

 

»They are jumping! Two people in the water!« – Die Besatzung der SEA-EYE 4 muss am 27. Oktober 2023 aus der Distanz zusehen, wie zwei Menschen aus einem kleinen, überfüllten Schlauchboot über Bord geraten. Mit ihrer Kamera dokumentiert die German Doctor und Bordärztin Barbara Held, wie ein Boot der libyschen Küstenwache (LYCG) immer wieder nah an das viel kleinere, überbesetzte Schlauchboot heranmanövrierte, damit hohe Wellen erzeugte und dieses dann zu kentern drohte. »Ich weiß nicht, ob die Menschen ins Wasser fielen oder absichtlich ins Wasser sprangen«, sagt die freiberufliche Notfall- und Allgemeinmedizinerin im Interview Ende Oktober 2023. Sie habe immer wieder von Fliehenden gehört, dass sie lieber ertrinken würden, als noch einmal nach Libyen zurückgebracht zu werden. Die LYCG tat offensichtlich nichts, um den Ertrinkenden zu Hilfe zu eilen.

Aussagen von Geflohenen

 

Fluchtgründe

 

Wie erging es schwangeren Frauen in Tunesien, bevor sie die Flucht über das zentrale Mittelmeer nach Europa wagten? Dokumentierte Zeug:innenaussagen von Geflohenen, die von Sasha Ockenden, dem Communications Coordinator der NGO SOS Humanity e.V. auf dem zivilen Rettungsschiff Humanity 1 zwischen dem 1. und 11. Juli 2023 aufgezeichnet wurden.

Ange* aus Côte d`Ivoire mit vier Jahre alter Tochter sagt:

»Wenn du schwarz bis, und du gehst in ein Krankenhaus, wirst du dort nicht beachtet. Du wirst dort sterben. Selbst wenn du schwanger bist und mit kleinen Kindern dort bist, werden sie dich dort nicht behandeln. […] Wir konnten [in Tunesien] nicht mehr länger leben. Deshalb haben wir uns mit den Kindern aufs Mittelmeer gewagt.«

Demsy* aus Côte d`Ivoire berichtet vom Verlust seines ungeborenen Kindes:

»Meine Frau war schwanger und sie schlugen und verprügelten sie. Danach blutete sie da unten und musste sich übergeben. Wir fuhren ins Krankenhaus, aber die Ärzte sagten mir, es gäbe keinen Platz für sie. […] Nun habe ich wegen dieser Gewalt mein Baby verloren.«

* Die Namen sind von den Zeug:innen selbst gewählt.

 

»Wir wollten vorbereitet sein«

 

 

Bordärztin Barbara Held (rechts im Bild) begleitet die Hochschwangere im neunten Monat über die Gangway vom Rettungsschiff.

Screenshot: © Oliver Zschoche/Sea-Eye e.V.

»Ich habe die Menschen auf dem Boot schreien und flehen gehört«, berichtet die German Doctor. »Sie hielten Babys in die Luft und wollten, dass wir wenigstens diese retteten, wenn schon die Mütter sterben oder den Libyern in die Hände fallen sollten«. Die Festrumpfschlauchboote (Rigid-Hulled Inflatable Boats, kurz: RHIBs) wurden vorbereitet und zu Wasser gelassen. »In der Vergangenheit hatten wir immer wieder erlebt, dass die LYCG die Menschen im Wasser zurücklassen, und so wollten wir vorbereitet sein, falls diese abzögen und Ertrinkende unsere Hilfe brauchen sollten«, fügt die erfahrene Seenotretterin hinzu.

Seit 2016 arbeitet sie regelmäßig als Freiwillige auf verschiedenen Seenotrettungsschiffen und war, nach eigenen Angaben, an mehr als 12.000 Rettungen im zentralen Mittelmeer beteiligt.

 

Triage

 

»Als die Überlebenden an Bord kamen, schrien und husteten sie, erbrachen Benzin und Salzwasser, aber sie atmeten. Unsere Paramedic Rufus und ich machten eine Triage«, berichtet die Notärztin. »In Sekunden schätzten wir die Überlebenden nach den Kategorien Rot, »akute Lebensgefahr«, Gelb, »zeitnah behandlungsbedürftig«, oder Grün, »in der Lage zu gehen«, ein. Wir sahen schnell, dass Menschen im Boot zurückblieben, die nicht aus eigener Kraft an Bord kommen konnten, und riefen den »Mass Casualty Incident Plan« (Massenanfall von Verletzten) aus. »Die Menschen im Boot atmeten nicht mehr«, erinnert sich Barbara Held.

»Unsere RHIB-Crew saß im Schlauchboot in der Benzin-Brühe und hielten sie im Arm.« Einer der leblosen Körper war der eines jungen Mädchens. Sie könne nicht ausschließen, dass die Menschen bei der Massenpanik durch freigesetzte Benzingase ohnmächtig geworden und im Wasser, das sich im Schlauchboot sammelte, ertrunken seien, erklärt die erfahrene Notärztin in der Seenotrettung. »Meinen verzweifelten Mitstreiter:innen musste ich das Schreckliche sagen: »Let them be. Wir können nichts mehr für sie tun.« – Danach musste ich mich aus dieser Situation losreißen und wieder ins Hospital zurückeilen, um mich um diejenigen zu kümmern, die fast ertrunken waren.«

 

In der Embarkationszone

 

Manches Mal habe sie schon erlebt, wie Geflüchtete lachend und enthusiastisch an Bord gekommen waren, die Besatzung umarmten, beteten oder voller Freude sangen, wenn ihnen gewahr wurde, dass sie der Hölle in

 

Medical Embarcation der Schwangeren im sechsten Monat, die später in Lampedusa evakuiert werden kann.

Screenshot: © Oliver Zschoche/Sea-Eye e.V.

Libyen entkommen und nun in Sicherheit waren. An Bord angekommen, brachen dieses Mal viele der Geretteten noch in der Embarkationszone erschöpft zusammen. »Einige von ihnen schrien und weinten weiter und konnten lange nicht begreifen, dass der Albtraum endlich vorüber war«, berichtet Barbara Held. Bei vielen brach sich die ganze Verzweiflung bahn. »Noch in der Embarkationszone warf sich vor mir eine Frau auf die Knie, umklammerte meine Beine und schrie immer wieder ›my baby!‹, während ihr kleiner Sohn nass und zitternd neben ihr stand, bis einer eine Rettungsdecke um ihn legte« sagt die German Doctor.

Erst später sollte die erfahrene Seenotretterin begreifen, dass die Verzweiflung der Mutter ihrer zwölf Jahre alten Tochter galt, die leblos unter den anderen Toten noch in der Benzinbrühe lag. Der Benzingeruch in der Luft sei durchdringend gewesen, erinnert sich die Ärztin. »Unsere Deck-Crew zog die zusammengebrochenen Menschen aus der Rettungszone, damit wir Platz für die neu Ankommenden hatten«, berichtet sie.

 

Kleiner Kämpfer

 

»Während ich zusammen mit Kenneth, unserem Krankenpfleger, um das Leben einer Frau kämpfte, wurden uns noch eine Hochschwangere, ein junger Mann und ein Baby gebracht, die kaum noch atmeten«, sagt die Notärztin. Schnell hätten sie diese stabilisieren können. So ein junger, bewusstloser Mann mit schweren Verbrennungen, dessen Lunge von den Benzingasen verätzt war. Er hatte selbst noch erfolglos versucht, seine im Schlauchboot ertrunkene Frau zu reanimieren, wie die Notärztin berichtet. »Das Baby, dessen Lunge anfänglich rasselte und das Benzinverätzungen am Unterleib hatte, war ein kleiner Kämpfer«, sagt sie.

»Schon am nächsten Tag krabbelte er quietschfidel übers Deck und nuckelte an der Brust seiner Mutter. Und die Hochschwangere wachte kurz nach Sauerstoffgabe und Absaugen auf und lächelte uns an. – Selten habe ich eine so starke Frau gesehen«, erinnert sie sich. Zwar sei sie noch sehr schwach gewesen. »Aber sie schaffte es, mit der Hilfe von uns und einer anderen Nigerianerin bis zur Dusche zu gehen, wo ich sie wusch. Die anderen Frauen kümmerten sich liebevoll um sie«, sagt Barbara Held. Schon am nächsten Tag sei sie mit ihnen draußen gesessen und habe einen unerschütterlichen Optimismus verbreitet.

 

Verlangsamter Herzschlag

 

 

Medical Embarcation der Schwangeren im sechsten Monat, die später in Lampedusa evakuiert werden kann.

Screenshot: © Oliver Zschoche/Sea-Eye e.V.

»Unsere kritischste Patientin aber war die junge Frau, die sie uns als Erste ins Hospital gebracht hatten. Nachdem wir ihre von Benzin durchtränkte Kleidung entfernt hatten, sah ich, dass sie etwa im sechsten Monat schwanger war«, sagt die 56-Jährige. »Das größte Problem waren ihre sehr schlechte Sauerstoffsättigung, ihr viel zu niedriger Blutdruck und ihr verlangsamter Herzschlag. Unter High-flow-Sauerstoffgabe konnten wir nur mäßige Werte erreichen, aber wenigstens konnten wir ihren Kreislauf unter intravenöser Flüssigkeitsgabe stabilisieren.«

Es folgten bange Stunden, denn die maritime Rettungsleitstelle in Italien (MRCC) verweigerte die Koordinierung und medizinische Evakuierung (MedEvac) mit einem Helikopter. »Wir behandelten die junge Frau mit Volumensubstitution und Antibiose, verabreichten ihr Schmerzmittel sowie Salbutamol als Inhalation, um ihre Bronchien zu weiten, da ihre Lunge rasselte und spastisch klang«, sagt die Allgemein- und Notfallmedizinerin rückblickend.

 

Neue Herausforderung

 

»Zwischendurch wachte die junge Frau kurz auf. Sie konnte uns Auskunft geben, wie sie heißt, dass sie alleine reist, dass sie im sechsten Schwangerschaftsmonat und Erstgebärende ist«, fährt Barbara Held fort. Dann habe sie nach ihrem Baby gefragt, das die Ärztin bis dahin noch nicht untersucht hatte. »Und dann flüsterte sie mehrfach etwas, das ich erst nicht verstand. Erst, als ich mit meinem Ohr ganz nah an ihren Mund kam, hörte ich »SEA-EYE«? Als ich bejahte, begann sie zu lächeln und verlor daraufhin erneut das Bewusstsein.« – Wenig später platzte ihre Fruchtblase.

Das Medical Team stand plötzlich vor einer neuen Herausforderung: »Das Fruchtwasser sah normal aus. Es war aber noch viel zu früh für das Baby, jetzt schon auf die Welt zu kommen«, diagnostiziert die Bordärztin. »Und die Mutter selbst war viel zu schwach, um Wehen überstehen zu können.«

 

Die unglaubliche Stärke der Frauen

 

Schwangere Frauen und Mütter machen auf den hochseeuntauglichen, überfüllten Booten viele Strapazen durch. Sie müssen oft in einer Brühe sitzen, welche die RHIB-Fahrerin Olivia von SOS Humanity in einem Interview im August 2023 so beschreibt, nachdem die Menschen gerettet worden sind: »Auf der Wasseroberfläche treibt ein mit Plastikfolie und Haargummi provisorisch verschlossener Benzinkanister. Dazwischen schimmert Benzin. Flipflops, halb offene Kekspackungen und Aqua-Plastikflaschen schwimmen umher. Im leeren Boot riecht es stark nach Benzin, Urin und dem Schweiß der Kleider, die die Geflüchteten Tage auf dem Meer nicht wechseln konnten«.

Sie hat schon viele Menschen sicher zu einem NGO-Rettungsschiff gebracht. Die eindrücklichste Erfahrung dabei war diese: »Manche von den singenden Stimmen auf dem Weg zum Mutterschiff brechen dann einfach, weil die Frauen so ergriffen sind. Es ist eine so intensive Freude zu spüren. Ich erinnere mich an eine Mutter von Zwillingen, die noch auf dem RHIB dem einen Baby die Brust gegeben hat. Diese 500 Meter bis zum Rettungsschiff wurden total lang, weil in dieser kurzen Zeit so viel passierte und so viele Gefühle wirkten.«

 

Keine Leitlinien für solche Fälle

 

 

 

Schlauchboot nach der Rettung

Foto: © Barbara Held/German Doctors e.V.

»Im Ultraschall konnte ich weder einen Herzschlag noch Kindsbewegungen erkennen«, fährt Barbara Held fort. »Erst versuchte ich mir einzureden, dass ich vielleicht nicht genug Erfahrung haben könnte, und versuchte, mit dem Hörrohr Herztöne zu hören oder im, auf dem Bauch abgeleiteten EKG einen Herzschlag neben dem ihren zu entdecken.« Die Notärztin ahnte, dass der Fetus nicht überlebt hatte. »Er muss kurz zuvor gestorben sein, sonst wäre das Fruchtwasser trüber gewesen.«

Das medizinische Team nahm daraufhin Kontakt mit einer Gynäkologin auf dem Festland auf, die für solche Fälle im Hintergrund erreichbar war. Außerdem sprachen sie mit einer Neonatologin. Sie suchten im Internet nach zusätzlichen Infos, wie sie sich nun verhalten sollten. »Aber es gibt nun mal keine Leitlinien für fast ertrunkene, mit Benzingas vergiftete Schwangere«, fährt die Notärztin fort.

 

Hoffen und Bangen

 

»Die Gynäkologin riet mir eindringlich, unsere Patientin wie eine Nicht-Schwangere zu behandeln, da jetzt nur noch ihr Leben zählte.« Das Team ging mit ihr alle notwendigen Maßnahmen durch, falls es noch in dieser Nacht zu einer Totgeburt kommen würde. »Das erleichterte mir auch die Entscheidung, der Frau Morphin gegen die Schmerzen zu geben. Eine MedEvac hatten wir längst angefragt, doch das italienische MRCC hatte die Anfrage ignoriert.« Also ging das Bangen weiter.

»Gemeinsam mit dem Head of Mission musste ich eine Entscheidung fällen. Wenn Italien keinen Helikopter schicken würde, hätten wir den Tod der Frau zu befürchten gehabt«, fährt sie fort. »Unser Einsatzleiter drängte die Italiener zur Evakuierung, denn die zweite Option, dass die LYCG doch noch auf unsere Bitte um eine MedEvac reagieren könnte, wäre fürchterlich gewesen«, sagt die Bordärztin.

 

Weitere acht Stunden

 

Nach einer weiteren Stunde hatte sich der Zustand der Schwangeren gebessert und wir hatten Hoffnung, es bis in italienische Gewässer zu schaffen. »Von dort, so dachte ich zu dem Zeitpunkt noch, würde uns das MRCC

 

Kinder auf dem Rettungsschiff brauchen besonderen Halt.

Foto: © Oliver Zschoche/Sea-Eye e.V.

Rome einen Hubschrauber schicken. Doch obwohl uns ein Verantwortlicher des italienischen telemedizinischen Dienstes die Dringlichkeit für ein MedEvac noch bestätigt hatte, wurden unsere Anfragen von den italienischen Behörden weiter ignoriert und uns stattdessen eine Evakuierung vor Lampedusa in acht Stunden Entfernung zugesagt«, berichtet Barbara Held.

Das hatte sie der jungen Frau so nicht sagen können. »Sie fragte mehrmals, wie es ihrem Baby ginge. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass es tot ist – auch weil ich ja immer noch ein bisschen Hoffnung hatte, dass ich mich irre«, sagt die Bordärztin. »Als ich den Ultraschall gemacht hatte, war sie nicht bei Bewusstsein. Der zusätzliche Stress, wenn sie realisiert hätte, dass ihr Kind nicht mehr lebte, hätte ihren Zustand verschlechtern und sie töten können«, fährt sie fort. »Also beruhigte ich sie und sagte nur, dass ich es nicht wisse und wir sie während eines Zwischenhaltes in Lampedusa evakuieren würden, weil sie dort eine bessere Behandlung erfahren könne.«

 

Ausschiffung in Vibo Valentia

 

Nach der MedEvac der kritischen Patientin auf Lampedusa und insgesamt drei Tagen Überfahrt erreichte das Rettungsschiff den entfernten, sicheren Hafen im kalabrischen Vibo Valentia. Dort werden die 48 Überlebenden ausgeschifft.

»Sie waren voller Hoffnung auf ein neues Leben«, sagt Barbara Held. Erst seien die Familien, dann die sechs unbegleiteten Minderjährigen, dann die Frauen und Kinder und schließlich die Männer in Zehnergruppen von Bord gebracht, registriert, fotografiert, kurz medizinisch untersucht und schließlich zu Bussen gebracht worden. »Viele umarmten und winkten uns, als sie gingen.« Die Angehörigen des ertrunkenen zwölfjährigen Mädchens verließen als Letzte das Rettungsschiff. In einer italienischen Zeitung heißt es, dass es in einem weißen Sarg in Kalabrien seine letzte Ruhe fand.

Aus Libyen geflohene alleinreisende Schwangere

 

Zwei Fallbeispiele

 

Was sind die Hintergründe, dass medizinische Teams bei ihren Seenotrettungseinsätzen auf dem Mittelmeer so häufig alleinreisende, schwangere Frauen antreffen, die aus Libyen geflohen sind? Dr. Barbara Held, German Doctor und Bordärztin der SEA-EYE 4, berichtet.

 

Beispiel 1: Durch Schlepper von Partner getrennt

»Ein Überlebender erzählte mir nach seiner Rettung, er und seine Frau seien bereits zweimal von der sogenannten libyschen Küstenwache im Rahmen eines illegalen Pull-backs nach Libyen zurückgebracht worden. Nach langer Zeit in einem Detention Camp seien sie schließlich freigekommen und hätten beschlossen, sich nicht erneut der Gefahr einer Überfahrt nach Europa auszusetzen. Dann sei seine Frau schwanger geworden, und für beide sei daraufhin klar gewesen, dass sie ihr Kind nicht in Libyen zur Welt bringen und aufwachsen lassen wollten.

Der Weg zurück in ihr Herkunftsland Nigeria, wo Gewalt und Terror vorherrschen, sei keine Option für sie gewesen. Also versuchten sie es ein weiteres Mal, wurden dann aber von den Schleppern getrennt. Seine Frau habe mit einem Boot Lampedusa erreicht. Erst nach ihr habe er aufbrechen können und hoffte, die Überfahrt ebenfalls zu überleben und nicht wieder nach Libyen zurückgezwungen zu werden. Er hoffte nun, sie bald wiedersehen und sein Kind in den Armen halten zu können.«

 

Beispiel 2: Im Frauencamp vergewaltigt

»Bei einem anderen Einsatz berichtete mir eine Hochschwangere, auf deren medizinische Ausschiffung wir warteten, während der Anamnese, dass sie ihr zweites Kind erwartete. Wir hatten aber kein Kind bei ihr im Schlauchboot gesehen. Als ich ihr nach der Untersuchung in der Bord-Klinik sagte, dass es ihrem Baby gut ginge, fing sie plötzlich an zu weinen. Ich wollte nicht weiter insistieren, hatte aber nicht den Eindruck, dass sie aus Erleichterung oder Freude weinte.

In meinem Kopf arbeitete es: Vermisste sie ihr erstes Kind? War es vielleicht tot oder hatte sie es zurücklassen müssen? Ich hielt nur ihre Hand. Später erzählte mir eine andere Frau, die mit ihr geflohen war, dass sie zusammen zehn Monate lang in Libyen in einem Camp nur für Frauen gefangen gehalten worden waren. Das Baby, das sie erwartete, war kein Kind der Liebe, sondern durch Vergewaltigung entstanden.«

 

Weiterbehandlung auf der ICU

 

Als eine palermitanische Ärztin den Namen Barbara Held auf dem MedEvac-Dokument der evakuierten Schwangeren liest, erinnert sie sich an die Kollegin. Sie schreibt ihr von der Ankunft der jungen Patientin in ihrer ICU auf Sizilien, wohin diese gleich weiterverlegt worden sei: »Sie kam unter sehr ernsten Bedingungen zu uns. Sie lag im Koma, hatte eine schwere ARDS (Lungenversagen) und diffuse Verätzungen, auch im Gesicht und periorbital (um die Augen, Anm. d. Autorin). Ich bestätige, dass der Fetus nicht überlebt hat. Wir leiteten die Geburt ein. Es war ein kleines Mädchen.«

 

Was kann ein Bordhospital leisten?

 

Große Rettungsschiffe ziviler Seenotrettungsorganisationen, wie der SEA-EYE 4, Humanity 1, Geo Barents, Ocean Viking und anderen, sind mit einem Bordhospital ausgestattet und bieten, neben der Notfallhilfe, auch einen Frauengesundheitsdienst an. Dort erhalten Frauen Aufklärung zu Fragen der Fortpflanzung, Menstruation und Frauengesundheit.

Ein mobiler medizinischer Dienst an Deck kümmert sich zudem um gesundheitliche Probleme wie Kopfschmerzen, Seekrankheit, Verdauungsstörung oder Myalgien. Die medizinischen Teams sind ehrenamtlich tätig und bestehen zumeist aus einer Ärztin oder einem Arzt, einer/einem Paramedic, einer Hebamme und/oder examinierten Pflegefachkraft. Sie sind in der Lage, Notfallmaßnahmen zu ergreifen, zu triagieren und MedEvacs zu veranlassen. Bei der Ausschiffung führen sie eine medizinische Übergabe an das On-Land-Personal durch.

Manche NGOs, wie SOS Humanity e.V., haben darüber hinaus auch Mental Health- und Schutzbeauftragte im Care-Team, die sich bereits an Bord um die Weiterversorgung von vulne­rablen Personen nach der Anlandung in einem sicheren Hafen kümmern und frühzeitig den Kontakt zu Save-the-Children oder Safe Houses aufnehmen.

 

 

Rubrik: Weltweit | DHZ 03/2024

Literatur

Alarmphone. Tunisia is not safe! Mass deportation into the desert continue while new EU migration deal is agreed, July 17,2023; https://alarmphone.org/en/2023/ 07/17/tunisia-is-not-safe-mass-deportations-into-the-desert-continue-while-new-eu-migration-deal-is-agreed/.

IOM. Missing Migrants Project, Stand 31.12.2023; https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean

Uddin R. Tunesia president warns of sub-Saharan immigration in ‹racist’ outburst; Middle East Eye, 22 February 2023; https://www.middleeasteye.net/news/tunisia-saied-sub-saharan-immigration-racist-outburst
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