Leseprobe: DHZ 11/2022
6. DHZCongress »Hebammenkunst – die Physiologie im Blick«

Supervision für das eigene Handwerk

Eine studierende Hebamme berichtet vom 6. DHZCongress, der Anfang September online stattfand. Für ihren Beruf, ihre Ausbildung und die geburtshilfliche Praxis in und außerhalb der Klinik zieht sie viel Inspiration.
  • Die »Stimme der Frau« darf auf einem DHZCongress nicht fehlen: Susanne Scharschuh erzählt, wie sie tiefenentspannt mithilfe der Methode der »Friedlichen Geburt« gebären konnte – nach vorheriger traumatischer Geburt.

  • Nele Krüger, Mona Matthews und Prof. Dr. Christiane Schwarz moderieren die Fragen nach einem Vortrag von Prof. Dr. Sabaratnam Arukumaran, der aus London zugeschaltet war. Sein Thema: die Intelliegente strukturierte inter­mittierende Auskultation.

Der 6. DHZCongress steht unter einem Motto, das mich bereits vorher zum Nachdenken angeregt hat: »Die Physiologie im Blick«: Es beschreibt ziemlich genau mein Studium zur Hebamme: Hauptinhalte sind physiologische Prozesse während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Wie diese unterstützt werden können und wo ihre Grenzen liegen. Wie wir den Frauen und Familien unsere Hilfe anbieten und sie unterstützend begleiten können, und wann wichtige Kontrollen angemessen sind. Wir Hebammen und WeHen haben das Wissen, das uns zu Anwält:innen für die Gesundheit jeder Mutter und jedes Kindes macht.

Praktisch stoßen wir aber sowohl in Kliniken als auch in der Freiberuflichkeit auf Hürden, das erlebe ich in meiner Ausbildung seit dem ersten Tag mit. Eine ausführliche Stillberatung oder Elternanleitung zum Wickeln habe ich selten gesehen. Denn Zeit ist knapp, Hebammen sowieso, und Routinen gewinnen Überhand. Aber wenn Namen zu Zimmernummern werden, müssen wir etwas ändern. Oder?

Der diesjährige Kongress lädt am 9. und 10. September online dazu ein, die alltägliche Arbeit zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Die Schlagworte »physiologische Prozesse«, »Salutogenese« und »Interventionen: Ja oder Nein?« ziehen sich durch das Programm. Trotz der Vielfalt an Themen, die live aus dem Hamburger Studio, aus Großbritannien oder aus Australien präsentiert werden, finden sie ihren gemeinsamen Nenner im Motto des DHZCongresses.

Jede Hebamme weiß, dass Respekt ein Teil unserer Jobbeschreibung ist, denn wir nehmen maßgeblich Einfluss auf Menschen in einer äußerst vulnerablen und wunderschönen Phase ihres Lebens. Doch zollen wir der Physiologie, der Gesundheit einer jeden schwangeren oder gebärenden Person den nötigen Respekt?

 

Die Perspektive wechseln

 

Britta Zickfeldt, Geschäftsführerin des Elwin Staude Verlages und Verlegerin der Deutschen Hebammen Zeitschrift, eröffnet den zweitägigen Kongress und stellt Veronika Bujny vor, die als Erste Vorsitzende des Hebammenverbandes Niedersachsen e.V. die mehr als 1.000 Teilnehmenden mit starken Worten begrüßt: »Hebammen haben einen anderen Blick auf die Wirklichkeit«, sagt sie und plädiert für die dringende Verbesserung der klinischen Geburtshilfe.

Der erste Fachvortrag schließt nahtlos an die Begrüßung an. Prof. Dr. Christiane Schwarz, Leiterin des Fachbereichs Hebammenwissenschaft an der Universität zu Lübeck, stellt den geburtshilflichen Alltag in Frage: »Physiologie und Interventionen – ein Widerspruch in der Geburtshilfe?« Zentrale Fragen ihres Vortrags sind: »Was sind Interventionen?« und »Welche Interventionen sind nachweislich hilfreich?« Neben einer ausführlichen Liste an nicht routinemäßig empfohlenen Kontrollen in der Schwangerschaft, die ich für meinen Berufsalltag direkt festhalte, lerne ich, dass es keinen belegten Nutzen des Fundus-Tastens im Wochenbett gibt. Kurz bin ich irritiert, war dies doch eine der ersten Dinge, die man uns beigebracht hat – weiß aber auch keine Antwort darauf, was ich mit einem ungewöhnlichen Fundus anstellen würde, wenn alle anderen Befunde absolut physiologisch sind.

Reichlich Interventionen seien laut Mutterschaftsrichtlinien bereits ab Beginn der Schwangerschaft vorgesehen, so Christiane Schwarz weiter. Noch mehr davon erwarteten Frauen im Kreißsaal und auf den meisten Wochenbettstationen. Doch woher kommt diese Angst vor der Geburt und die gesamtgesellschaftliche Meinung, dass bei weniger Maßnahmen Mutter und Kind erheblich zu Schaden kommen könnten?

Dr. Rachel Reed weiß Antworten. Die australische Hebamme setzt sich für einen Perspektivwechsel im Blick auf die Geburtshilfe ein. In ihrem Vortrag »Die Physiologie kennen – Geburten begleiten« erläutert sie, dass die Pathologie als Grundlage für das Gebären durch eine selektive Wahrnehmung zustande kam.

Geburten seien seit jeher von erfahrenen Frauen oder Hebammen begleitet worden. Ärzte seien zu Rate gezogen worden, wenn es zu Komplikationen kam. So habe es sich bereits im 18. Jahrhundert ergeben, dass die Ärzteschaft ausschließlich schwierige Geburten sah. Auf dieser Grundlage, auf der auch unser heutiges Wissen beruht, verfassten sie die Literatur.

In unserem Zeitalter werden Schwangere primär ärztlich betreut. Dass ihnen dadurch Eigenkompetenz und Intuition abhandenkomme, erscheine wenig überraschend: Ärzt:innen hätten eben den (Be-)Ruf, Dinge besser einschätzen zu können als man selbst.

Meine Kommilitoninnen und ich erfahren Geburtshilfe in unserem Ausbildungskreißsaal: Interventionen abzulehnen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Das Kollegium ist beinahe überrascht, wenn eine Frau einfach nur ihr Kind bekommt. Reed empfiehlt, in der Schwangerschaft immer wieder das Selbstvertrauen der Frauen zu stärken, da dies unerlässlich für ein physiologisches Hormonorchester vor, während und nach der Geburt sei – und damit als körpereigene Ressource Sicherheit für den Verlauf biete.

 

Blick auf die Ressourcen

 

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Hebamme Nele Krüger, die im Masterstudium für vertiefende Physiologie und angewandte Salutogenese in Salzburg studiert hat und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Studiengang Angewandte Hebammenwissenschaft in Berlin an der Charité ist. Sie erzählt in ihrem Vortrag »Gesundheit stärken: Salutogenese und Physiologie in der Schwangerschaft« vom Blick auf Ressourcen, von individuellen Einschätzungen und einer klient:innenzentrierten Betreuung. Hierbei stehe der einzelne Mensch im Fokus, mit seinem gesundheitlichen Zustand und seinen individuellen Bewältigungsstrategien. »Ziel ist es, die Entwicklung von Gesundheit zu fördern«, sagt Krüger und regt an, Schwangere als Expert:innen ihrer selbst im Zentrum der Betreuung zu sehen – sie selbst würden sich und ihr Baby am besten kennen. Sie wüssten, was ihnen guttut.

Hebammen könnten ihren Beitrag durch eine ausführliche Anamnese leisten und Ressourcen immer wieder bestätigen und bestärken. Auch spiele Kommunikation eine entscheidende Rolle.

Aufmerksames Zuhören und offene Fragen böten die Möglichkeit, sein Gegenüber direkt zu erreichen und abzuholen. »Raum, sich auszudrücken«, wie Nele Krüger es nennt, ermögliche eine individuelle Beratung und führe am Ende zu zufriedenen Klient:innen. Dass dies nicht zuletzt Arbeit an sich selbst bedeute, spart sie nicht aus. Gerade in unserem Beruf sei es so wichtig, seine eigenen Muster zu erkennen.

Ich entdecke mich und meine Ideale in diesem Vortrag wieder: So möchte ich Hebamme sein.

 

Ein Geburtshaus für alle

 

Außerklinische Geburtshilfe ist hierzulande ausschließlich hebammengeleitet. In dem Fall führen die Hebammen meistens einen Großteil der Vorsorgen durch und begleiten die Familien bis zum Ende der Stillzeit. Hier scheinen Schwangere selbstbestimmter und die Hebammenarbeit frauenzentrierter. Physiologie ist der elementare Grundstein der Betreuung. Aber aus Angst vor einer eiligen Verlegung und zu langer Wegstrecke zur Klinik erscheint vielen werdenden Müttern eine Haus- oder Geburtshausgeburt zu heikel.

Im ersten Mutmachbeispiel des DHZCongresses erläutern die Hebammen Christin Geven, Claudia Leder-Appiah und Sandra Murn, wie sie einen Weg gefunden haben, außerklinische Geburtshilfe und medizinische Maximalversorgung zu kombinieren. In ihrer Präsentation »Ein Geburtshaus für alle«, stellen sie das Lindenthaler Geburtshaus vor: eine hebammengeleitete Einrichtung auf dem Gelände der Frauenklinik Köln. Ganzheitliche Hebammenbetreuung sei hier ab Beginn der Schwangerschaft möglich und für den Notfall unter der Geburt sei der Kreißsaal direkt nebenan, schildern die drei Hebammen. Eine gute Zusammenarbeit mit den Kolleginnen sei dafür elementar.

Die Hebammen in ihrem Team legten Wert auf eine offene Arbeit für jeden Menschen mit Bedarf: Alle Familien, nicht nur hetero-normative Paare, sollen sich von ihrem Konzept angesprochen und eingeladen fühlen. Außerdem gebe es eine Wochenbettsprechstunde für Eltern, die nach der Geburt im angrenzenden Klinikum und keine Hebamme für die häusliche Wochenbettbetreuung gefunden hätten. Zurzeit arbeite das Team an einer Lösung zum Aufbringen der Rufbereitschaftspauschale, um noch mehr Schwangere – unabhängig vom Kontostand – eine außerklinische Geburt zu ermöglichen. Es macht Spaß zu sehen, wie selbstverständlich werdende Eltern hier im Fokus stehen.

 

Haut auf Haut

 

Ein anderer Ort, ebenfalls in Köln, an dem durch ein individuelles Konzept Klient:innen und physiologische Prozesse im Mittelpunkt stehen, ist die Wochenbettstation im Krankenhaus der Augustinerinnen. Die Hebammen Susanne Ritz und Vera Witsch erklären in ihrem Mutmachbeispiel »Haut auf Haut – ein klinisch erprobtes Bindungskonzept«, wie Neugeborene und Eltern non stop in Kontakt blieben und damit das Oxytocin zum Fließen bringen.

Die Eltern trügen dabei sogenannte Bondingtops tragen, in die die Kinder mit hineinpassen. So sei unmittelbar post partum ein intensives Bonding möglich, das den gemeinsamen Pfad für Eltern und Kind ebne. Positive Nebeneffekte seien ein einfacher Stillstart, gleichbleibende angemessene Körpertemperatur des Neugeborenen und dadurch weniger Gewichtsverlust, physiologische Bilirubinwerte und stabile Blutzucker. Die beiden Hebammen ermutigen alle Zuschauenden, sich auf der eigenen Wochenbettstation mehr für die Familien und den Hautkontakt einzusetzen. Er sei bekanntermaßen eine simple Maßnahme, die so viele Vorteile biete.

Ich lasse mich direkt von der Begeisterung der beiden anstecken und überlege, ob man als kleinen Anfang auch CTG-Gurte anstelle spezieller Tops nutzen könnte, um in meinem nächsten Praxiseinsatz alle frischgebackenen Eltern in die Babyflitterwochen zu schicken.

Eine Reihe von Posterpräsentationen im Onlineformat steht allen Teilnehmer:innen auch bei diesem Kongress zur Verfügung. Und passend zum Thema Haut auf Haut ist das Ergebnis des diesjährigen Posterwettbewerbs ausgefallen: Den ersten Platz belegte nach Abstimmung das Poster der werdenden Hebamme Laura Albertz: »Neun evidenzbasierte Handlungsempfehlungen zur Integration des unmittelbaren oder frühen Haut-zu-Haut-Kontakts zwischen Mutter und Neugeborenem während der Erstversorgung im Kreißsaal.« Zur Unterstützung der postnatalen Anpassungsprozesse bietet diese Arbeit nach umfangreicher Recherche einen wissenschaftlichen Leitfaden, die Physiologie im Kreißsaal bestmöglich zu unterstützen.

 

Frühkindliche Regulationsstörungen

 

Ein so liebevoller Start vermittelt Sicherheit und Selbstvertrauen. Wenn Körpernähe, Milch und Ruhe die Dinge sind, die Neugeborene primär brauchen, stellt alles weitere keine Herausforderung mehr dar. Und wer sein Baby ab dem ersten Lebenstag so nah bei sich hat, lernt es besonders gut kennen – so können die Eltern seine Zeichen leichter lesen und eher angemessen reagieren. In dem Vortrag »Frühkindliche Regulationsstörungen – Konzept einer aufsuchenden Betreuung« spricht die Pädiaterin Dr. med. Daniela Dotzauer über Eltern, denen diese Verbindung zum eigenen Kind fehlt. Übermüdung und starke Verunsicherung seien für alle Beteiligten die Folge, wenn das neue Familienmitglied viel schreit und nicht lernen kann, sich adäquat zu regulieren.

Eine frühzeitige häusliche Beratung durch Hebammen könne hier rechtzeitig wirken, indem Aufklärung stattfinde zu wesentlichen Fragen: Wie viel Schlaf brauchen Babys? Wie lange sind sie wach? Und wie kann ich sie unterstützen, zur Ruhe zu kommen? »Wenn Kinder sichere Eltern erleben, gelingt Regulation leichter und beide Parteien beeinflussen sich gegenseitig«, erklärt Dotzauer auf einer ihrer Folien. Wie in einigen vorangegangenen Vorträgen ist hier ein wichtiger Punkt, die Eigenkompetenz und das Selbstbewusstsein der jungen Eltern zu stärken.

Ich bin selbst Mutter einer eher unruhigen Schläferin (sanft formuliert) und kenne das Gefühl, nachts regelrecht zu verzweifeln. Was mir in der Hinsicht an Beratung gefehlt hat, kann ich durch diesen Vortrag mit Fachwissen untermauert in meine eigene Berufspraxis übertragen.

 

Das eigene Zuhause als Bühne

 

Nach zwei Kongresstagen habe ich nicht das Gefühl, dass die ganze Veranstaltung nur »gut online umgesetzt wurde«. Um den Inhalten gerecht zu werden, hätte ich es mir anders gar nicht vorstellen können. Denn mit so vielen Vorträgen, die nochmal deutlich zeigen, zu was uns unser Handwerk befähigt, und Anstoß geben, das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen, eignet sich das eigene Zuhause als Bühne doch viel besser. Wir sind unbeobachtet so viel ehrlicher mit uns.

Ich habe bei dem Kongress viel Anregung und Inspiration für die Arbeit gefunden, die ich als WeHe in meinem Praxishaus leiste, aber auch für meine Zeit nach dem Examen. Es hat Spaß gemacht zu sehen, wie vielseitig die Kolleginnen weltweit arbeiten und wie begeistert jede Einzelne unsere Zunft vertritt.

Als sehr bereichernd habe ich alle Präsentationen auch wegen der Supervisionen des eigenen Handelns empfunden, die die Referent:innen nebenbei haben einfließen lassen. Selten wurde ich in so kurzer Zeit so oft angehalten, mein berufliches Handeln zu hinterfragen, mit der Reaktion, ebendies auch bereitwillig zu tun. Es ist anstrengend, sich ständig selbst zu reflektieren, aber in unserem Beruf eben auch Teil der Jobbeschreibung.

Veronika Bujny hat es zu Beginn des Kongresses gesagt: »Hebammen sind immer politischer geworden.« Denn wenn wir die Physiologie nicht im Blick behalten, wer tut es dann? Im Gegensatz zu anderen Stationen sind in der geburtshilflichen Abteilung eines Krankenhauses nämlich überwiegend gesunde Menschen zu finden – und so soll es bleiben.

Rubrik: Ausbildung & Studium | DHZ 11/2022