Leseprobe: DHZ 07/2013
Schulterdystokie

Was stimmt denn nun?

Was aufmerksame werdende Hebammen herausfanden, als sie sich über das Praxisthema Schulterdystokie schlau machten – eine Reflexion über den Wert von Quellen, die das geburtshilfliche Handeln bestimmen und schon in der Ausbildung für Verwirrung sorgen. Ein Kurs an der Hebammenschule in Hannover brachte Widersprüche ans Licht Prof. Dr. Christiane Schwarz,
  • Manche Manöver werden in Lehrbüchern unterschiedlich beschrieben - manchmal sind es Hebammenschülerinnen, die dies bemerken und genauer hinschauen.

  • Ina May Gaskin, nach der das Gaskin-Manöver zur Lösung einer Schulterdystokie benannt ist, besuchte im vergangenem Jahr die Hebammenschule am Klinikum Region Hannover. Sie erlebte dort, wie Hebammenschülerinnen mit Hilfe von Simulationspuppen das Lösen einer Dystokie üben können.

Ich unterrichte Geburtshilfe und vertrete ziemlich leidenschaftlich die Auffassung, dass die Hebammen in der Ausbildung keine alten Zöpfe auswendig lernen, sondern aktuelle Evidenz kennen müssen und diese auch kritisch hinterfragen sollen. Wir hatten im Mittelkurs der Hebammenschule Hannover das Thema Schulterdystokie im theoretischen Unterricht besprochen. Nun sollten die praktischen Trockenübungen folgen. Als Material für die Präsentation und das Skript hatte ich als Dozentin eine der wunderbaren Leitlinien benutzt, die der britische Hebammenverband Royal College of Midwives (RCM) gemeinsam mit dem britischen Verband der Geburtshelfer Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (RCOG) herausgibt (Quelle: http://www.rcog.org.uk/guidelines, inzwischen auch als App erhältlich). Die britischen Leitlinien sind aktuell, evidenzbasiert und praxisnah. Alle wichtigen Berufsgruppen werden bei ihrer Entstehung mit einbezogen. Soweit möglich, wird auch die Sichtweise der betreuten Frauen systematisch mit einbezogen, wenn Empfehlungen formuliert werden: Ergebnisse aus aufgearbeiteten Praxissituationen – bis hin zu Gerichtsverfahren – schlagen sich in den Leitlinien nieder. Rundherum brauchbar und vertrauenswürdig sind sie also. Illustriert hatte ich meine Folien mit den dazugehörigen Grafiken aus dem britischen Hebammenlehrbuch „Myles Textbook for Midwives“, dazu ausnahmsweise ein paar Skizzen aus deutschen Lehrbüchern, damit die Schülerinnen einen Wiedererkennungsfaktor haben.

 

„Das stimmt nicht.“

 

Wir standen um das gute, alte Phantom und die neue Simulationspuppe zum Umbinden herum, mit denen wir viel praktisch üben. Alle hatten die Illustrationen in der Hand und betrachteten noch einmal die Theorie. Und eine Schülerin sagte: „Das stimmt aber nicht überein.“ Nun, zugegeben, das irritiert. Zwar sollen sie lernen, kritisch zu sein, aber der Lehrerin gegenüber? Wir versuchten gemeinsam herauszufinden, was da nicht stimmte. Dann wurde deutlich: Sie hatte Recht. Die Bilder und die Beschreibungen der verschiedenen Manöver widersprachen sich. Mir war das noch nie aufgefallen, weil ich immer nur mit dem Material des britischen RCM beziehungsweise des RCOG arbeite. Aber in den Bildern aus den deutschen Lehrbüchern sah das Schulterdystokie-Manöver nach Rubin ganz anders aus als bei den Briten. Und die deutschen Lehrbücher waren dabei noch nicht einmal einheitlich.

 

Empfehlung zum Vorgehen bei Schulterdystokie nach der Leitlinie des Royal College of Obstreticians and Gynaecologists (RCOG)

Diese Situation ist, didaktisch betrachtet, eine totale Panne. Wir unterrichten häufig sowieso schon mehrere Versionen eines Themas: was die Evidenz sagt, was die Erfahrung zeigt, was im Kreißsaal wirklich passiert, und was sie im Examen sagen müssen. Und jetzt das. Wir nahmen die Situation zum Anlass für eine Recherche. Dabei gingen wir teils wissenschaftlich, teils pragmatisch vor. Das ist in diesen Situationen unser übliches Vorgehen, denn wir haben weder den Auftrag, noch die Möglichkeiten, den Schülerinnen eine grundlegende wissenschaftliche Ausbildung zugutekommen zu lassen. Dennoch müssen sie die Grundlagen der wissenschaftlichen Recherche kennen und beherrschen, damit sie auch im weiteren Verlauf ihres Arbeitslebens nie aufhören, Fragen zu stellen (und ihre eigene Praxis infrage zu stellen), und damit sie eine Vorstellung davon haben, wo und wie sie Antworten finden können.

 

Nach dem PICO-Schema

 

Zurück zur Schulterdystokie: Der wissenschaftliche Aspekt unserer Arbeit war es, eine klare Frage zu formulieren. Nach den Grundregeln der evidenzbasierten Betreuung funktioniert das gut, wenn systematisch abgefragt wird, um welche Zielgruppe (Gebärende) und um welches Problem es geht (Schulterdystokie), und welche Maßnahme mit was verglichen wird (diverse Manöver, um die Schulterdystokie zu lösen), um was zu erreichen (gesundes Kind, gesunde Frau). Dieses Schema heißt PICO (Patient, Intervention, Comparison, Outcome). In unserem Fall folgt daraus die Frage: „Was ist eine Schulterdystokie und wie wird sie behandelt?“

 

PICO-Schema am Beispiel Schulterdystokie

 

P (Patient) Gebärende/Ungeborenes

I (Intervention) verschiedene Manöver (Mc Roberts, Rubin, Woods, Gaskin…)

C (Comparison) Handlungsempfehlungen in Lehrbüchern und Leitlinien

O (Outcome) möglichst geringe kindliche Mortalität und Morbidität und mütterliches Trauma

Unser nächster Schritt ist zwischen einer streng wissenschaftlichen und einer pragmatischen Arbeitsweise angesiedelt: Eigentlich wird jetzt eine möglichst systematische Recherche durchgeführt. Das heißt, es sollten im Sinne der „best practice“ einschlägige Datenbanken nach Schlagwörtern durchsucht werden. Außerdem ist in der (wissenschaftlichen) Regel ein weiteres Auswahlkriterium der Suchergebnisse vorgesehen, indem Publikationen herausgefiltert werden, die vor ihrer Veröffentlichung bereits von Wissenschaftlern (Peers) begutachtet (reviewed) und für gut befunden worden sind. Dieses Verfahren wird als Peer-Review-Verfahren bezeichnet. Nun gibt es in Deutschland im Fach Geburtshilfe nur wenige peer-reviewed Zeitschriften, und speziell im Hebammenwesen bisher noch (fast) keine. Fast alle Publikationen, die hier relevant sind, sind in englischer Sprache verfasst. Die Lehrmeinung, die sich in der deutschen Praxis durchgesetzt hat, stammt jedoch meist aus Fachbüchern und Artikeln, die eher Expertenmeinungen widerspiegeln als objektiv begutachtetes und bewertetes Fachwissen. Dieses Phänomen lässt sich auch in der Qualität der deutschen Leitlinien zu geburtshilflichen Themen beobachten – sie sind alle auf der Entwicklungsstufe „S1“, also aufgrund von Expertenmeinungen formuliert. Das führt für die deutschsprachigen Hebammen (nicht nur für die Schülerinnen) oft zu einem Dilemma: Wir finden kaum Antworten auf praxisrelevante Fragen in deutscher Sprache, und wenn, dann sind sie nicht unbedingt auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau. Wir entschieden uns also, eine nicht-systematische Recherche durchzuführen, die deutsche Publikationen aus unterschiedlichen Quellen einschließt – auch wenn sie nicht peer-reviewed sind.

 

Große Bandbreite an Definitionen

 

Wir teilten uns in Gruppen auf. Einige nahmen sich die englischsprachige Literatur vor und fanden zwei aktuelle Leitlinien. Eine andere Gruppe durchsuchte unsere Schulbibliothek nach deutschen Lehrbüchern zum Thema. Die dritte Gruppe recherchierte im Internet nach deutschsprachigem Material (www.medpilot.de und scholar.google.com). Um es vorweg zu nehmen: Wir fanden eine sehr große Bandbreite an Definitionen – allerdings erst ab Mitte der 1970er Jahre. Scheinbar war die Schulterdystokie vorher kein großes Thema. Merkwürdig, denn das Geburtsgewicht von Neugeborenen ist in den letzten 50 Jahren im Durchschnitt nur um knapp 100 Gramm gestiegen, an den etwas schwereren Kindern kann das also nicht liegen. Was wir fanden, waren abweichende Definitionen der Schulterdystokie: Generell war in allen älteren deutschen Lehrbüchern – auch den ärztlichen – immer von zwei Definitionen der Schulterdystokie die Rede: dem hohen Schultergradstand und dem tiefen Schulterquerstand. Dies spiegelt sich in den englischsprachigen Texten nicht wider. Allen Werken gemein ist, dass tatsächlich nur noch vom hohen Gradstand die Rede ist, wenn es dann um Handlungsvorschläge geht. Haben wir hier wieder eine typisch deutsche Risikowahrnehmung – so wie bei den „Hygienemaßnahmen wegen infektiöser Lochien“ oder dem „Hinlegen bei Blasensprung“ – Empfehlungen, die im Ausland schlicht nicht existieren? Damit nicht genug, der wirklich verwirrende Moment kam erst bei der Sichtung der verschiedenen Lösungsvorschläge. In den deutschen Lehrbüchern für Hebammen und für ÄrztInnen wird bis in die 90er Jahre noch die „äußere Überdrehung“ des kindlichen Kopfes als wichtiges geburtshilfliches Manöver empfohlen, kombiniert mit einer „großzügigen“ Episiotomie. Fast nie nimmt der Abschnitt über die Schulterdystokie mehr als ein paar Zeilen ein. Im Jahr 2004 findet sich im Lehrbuch „Die Geburtshilfe“ (Schneider, Husslein & Schneider) ein 16-seitiges Kapitel, in dem die „äußere Überdrehung“ nicht mehr so viel Raum einnimmt – jetzt sind als Maßnahmen der ersten Wahl (neben der Episiotomie) bereits die Manöver nach McRoberts, Woods und Rubin genannt. Ein Lehrfilm aus dem Klinikum Vivantes von 2003 ist eines der frühen Werke, in dem keine Überdrehung mehr empfohlen wird und die Episiotomie nur noch als mögliche, nicht mehr als zwingend erforderliche Maßnahme erscheint – und zwar nur dann, wenn Platz zur inneren Manipulation einer feststeckenden Schulter gebraucht wird.

 

Manöver in unterschiedlichsten Kombinationen

 

Die Manöver nach Rubin und Woods werden in den Lehrbüchern uneinheitlich beschrieben, und auch in unterschiedlicher Reihenfolge oder Kombination empfohlen. Je nach AutorIn fließen individuelle Erfahrungen als Empfehlung mit in die Lehrbuchtexte ein. Meist wird nicht deutlich, welcher Teil der Empfehlung wissenschaftlich gestützt ist und welcher auf eigener geburtshilflicher Erfahrung basiert – oder einfach aus älterer Literatur übernommen wurde. Dies ist übrigens ein generelles Problem bei Lehrbüchern. Es führt dazu, dass „Evidenz aus Lehrbüchern/Expertenmeinung“ in der wissenschaftlichen Welt als schwächste mögliche Evidenz (nach der Evidenz aus verschiedenen Studiendesigns) angesehen wird. Die Ironie unserer Arbeitswelt liegt übrigens darin, dass eben diese Expertenmeinungen oft den Gutachten zugrunde liegen, die vor Gericht zum Einsatz kommen – daher auch die häufig widersprüchlichen Schlussfolgerungen aus verschiedener Feder. Wir haben tabellarisch dargestellt, welche Definitionen und Empfehlungen wir gefunden haben. Einer der spannendsten Texte war im Endeffekt eine Publikation von 2012 aus Großbritannien (Gobbo et al. 2012). Dieses Dokument ist evidenzbasiert und kommt bei den Pflichtfortbildungen der staatlichen geburtshilflichen Einrichtungen zum Notfallmanagement zum Einsatz. Die AutorInnen kommen zu der Schlussfolgerung, dass die diversen Empfehlungen der vergangenen Jahre zwar im Prinzip korrekt waren, aber die Definitionen und Bezeichnungen der Maßnahmen bei Schulterdystokie uneinheitlich und widersprüchlich verwendet wurden. Nun fanden wir endlich eine sorgfältige und transparente Auflösung des Dilemmas und entsprechende Empfehlungen, die auf Evidenz, Erfahrung und gesundem Menschenverstand basieren – generell ein gute Mischung zum Vorgehen in Notfallsituationen. Dazu gehören übrigens insbesondere systematische Auswertungen von Einzelfallanalysen aus Notfällen, in denen die häufigsten Fehler der GeburtshelferInnen ebenso herausgearbeitet werden, wie die hilfreichsten Maßnahmen. Das ist eine mutige, selbstkritische und konstruktive Herangehensweise im Qualitätsmanagement des nationalen Gesundheitssystems, dem britischen National Health Service (NHS), die mich übrigens immer sehr neidisch macht. Als häufigste Probleme im Zusammenhang mit dem klinischen Management bei der Schulterdystokie werden genannt:

  • unklare Übergabe (Hebamme(n)/Facharzt/-ärztin)
  • keine Hinzuziehung des Pädiaters
  • kein Zugang zum Kind (ungünstige Lagerung; keine oder zu kleine Episiotomie, wenn innere Manöver nötig werden)
  • Unklarheit über korrekte innere Manöver (falsche Armlösung: als Ursache schwerer Verletzungen beim Kind hatten die GeburtshelferInnen versucht, den Arm des Kindes über den kindlichen Rücken statt bäuchlings herauszustreichen)
  • Zug am Kind
  • „Hilfe“ durch Kristellern
  • mangelnde Dokumentation.

 

Fazit

 

Die Schulterdystokie ist ein potenziell bedrohliches, geburtshilfliches Ereignis, das mit Besonnenheit, Fachwissen und gesundem Menschenverstand in guter Teamarbeit meist gelöst werden kann. Dazu gehören eine gute Kommunikation und häufige gemeinsame Übungen. Die Dringlichkeit hängt auch mit dem aktuell vorausgehenden Zustand des Kindes zusammen. Die Manöver, zu denen Evidenz und Erfahrungswissen vorliegen, werden in einer der Situation angemessenen, sinnvollen Reihenfolge durchgeführt. Die zugrunde liegende Logik ist: Was am einfachsten und besten durchführbar ist, wird zuerst angewendet; die Zusammenarbeit und Kommunikation im Team funktioniert; es wird angemessen zeitnah dokumentiert. Interessantes Ergebnis unserer Recherche ist, dass Aspekte dieser klinischen Situation offensichtlich nicht nur willkürlich und zufällig, sondern auch zeit- und kulturabhängig als gültige Empfehlungen in Lehrbüchern und Leitlinien auftauchen. Dazu gehören sowohl die Einschätzung der Gefährlichkeit der Situation, als auch Definitionen und Maßnahmen zur Hilfeleistung. Ähnliche Phänomene wie bei diesem Thema haben wir bereits bei „Hinlegen bei Blasensprung“, „Infektiosität von Wochenfluss“, „Intrapartale Notfalltokolyse“ und anderen festgestellt. Eine kritischkonstruktive Einstellung zur Berufspraxis und die Bereitschaft zur Reflexion und zum (lebenslangen) Lernen sowie ein Grundwissen über evidenzbasierte Betreuung sind wesentliche Qualitätsmerkmale von Hebammenarbeit. Für alternde Hebammenlehrerinnen wie mich gibt es nichts Besseres gegen Betriebsblindheit als aufmerksame und kritische Schülerinnen beziehungsweise Studentinnen, die sich trauen, Lehrmeinungen und Autoritäten infrage zu stellen.

 

Tabelle zur Studie

 

Die ausführliche Aufstellung der in der Literatur gefundenen Definitionen und Empfehlungen zur Schulterdystokie ist in der Redaktion der DHZ und bei der Autorin hinterlegt.

Kontakt: redaktion@staudeverlag.de oder Christiane-Schwarz@gmx.de

Rubrik: Geburt | DHZ 07/2013

Buchtipp

Christiane Schwarz; Katja Stahl:
Grundlagen der evidenzbasierten Betreuung.
Hannover: Elwin Staude Verlag. 128 Seiten,
2. Auflage. Euro 19,80 (2013), Best.-Nr.: 118

Ein Plädoyer für das evidenzbasierte Arbeiten – und eine Inspiration, wie Erfahrungswissen, Intuition und wissenschaftliche Erkenntnisse im Berufsalltag ineinander greifen können. Die Literatursuche wird in diesem Buch im zweiten Kapitel sehr genau beschrieben. Für die Praxis sehr hilfreich dargestellt sind die Datenbanken und das Auffinden von aufbereiteten Studien.

Literatur

WMF/DGGG: Empfehlungen zur Schulterdystokie – Erkennung, Prävention und Management. 015 – 024. Klassifikation S1. Stand: 01.05.2008 (in Überarbeitung), gültig bis 31.05.2013

Fey, C.: Schulterdystokie: Logistische Herausforderung. DHZ. 11: 12–16 (2012)

Geist, Ch.; Harder, U.; Stiefel, A.: Hebammenkunde. de Gruyter. 2. Auflage (1998)
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