Interview mit Dr. Ann-Kathrin Hirschmüller und Armin Octavian Hirschmüller | Teil 1

»Wir öffnen nicht nur eine einzige Tür«

Ann-Kathrin und Armin Octavian Hirschmüller sind gemeinsam die juristische Vertretung im Deutschen Hebammenverband. Sie berichten über rechtliche Entwicklungen der letzten Jahre, etwa im Zuge der Akademisierung. Daneben geht es darum, warum die Gebühren­verhandlungen mit den Kassen ins Stocken geraten sind. Und schließlich kommen Strafgerichtsprozesse zur Sprache, so auch zur Remonstrationspflicht von Hebammen. Katja Baumgarten
  • Dr. Ann-Kathrin Hirschmüller: »Die Akademisierung führt zu mehr Verantwortung – mehr Verantwortung bietet eben auch mehr Angriffsfläche.«

  • Armin Octavian Hirschmüller: »Ich verteidige bundesweit nicht wenige Hebammen aufgrund von Vorwürfen, die Tötungsdelikte betreffen.«

Katja Baumgarten: Sie arbeiten seit 2012 mit Ihrer Rechtsanwaltskanzlei für den Deutschen Hebammenverband. Wie bewältigen Sie das breit gefächerte Gebiet zwischen Berufsgesetzen, Gebührenverhandlungen und juristischen Auseinandersetzungen von Hebammen?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Mein Mann und ich haben uns die Bereiche aufgeteilt. Wir arbeiten oft als Tandem. Einer der Schwerpunkte meines Mannes liegt im Strafrecht. Ich übernehme beispielsweise die Fälle zum Sozialgesetzbuch VIII, alles was die Arbeit von Familienhebammen betrifft. Mein Schwerpunkt lag schon immer im Verwaltungsrecht, allgemein im öffentlichen Recht und auch im Arbeitsrecht. Deshalb kümmere mich auch um die Umsetzung der Akademisierung. Bei ihrer Einführung habe hauptsächlich ich beraten. Mein Mann ist meist bei den Vertragsverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband dabei.

Katja Baumgarten: Wie erleben Sie den Start in die Akademisierung?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Die Akademisierung ist spannend, auch für mich. Sie steckt aber teilweise noch in den Kinderschuhen: Die Gesetze sind schon lange in Kraft getreten, müssen jetzt aber in der Praxis umgesetzt werden und es stellen sich Herausforderungen, die wir teilweise im Entstehungsprozess zwar mitbedacht haben, die der (Bundes-)Gesetzgeber aber nicht alle gelöst hat beziehungsweise lösen konnte. Das Hochschulrecht ist beispielsweise Ländersache. Im Bereich der Akademisierung haben wir daher immer wieder Anfragen, weil neue Gesetze immer auch Auslegungsfragen aufwerfen. Wenn man miterlebt hat, wie ein Gesetz »geboren« wird, um in der Hebammensprache zu bleiben, kann man es ganz anders interpretieren als andere, die sich fragen, was der Hintergrund der Regelung war. Denn auch in der Gesetzesbegründung findet sich nicht immer eine Antwort.

Katja Baumgarten: Gibt es dazu unterschiedliche Sichtweisen?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Natürlich kann man an der einen oder anderen Stelle die Gesetzesauslegung diskutieren. In bestimmten Bereichen müssen nun erste Rechtsmeinungen gesetzt werden, denn das Gesetz muss angewandt werden. Noch gibt es da aber keinen Streit. Die Hochschulen sind lösungsorientiert, die Kliniken möchten eine rechtssichere Umsetzung und die Hebammenseite natürlich auch. Wir sind auch mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft gelegentlich im Austausch. Man stimmt sich ab. Solange alle Beteiligten Interesse daran haben, eine gute Lösung zu finden, wüsste ich nicht, warum es Probleme geben sollte. Aber man muss die Gesetze eben an einigen Stellen nach dem gesetzgeberischen Willen auslegen. Dabei gibt es manchmal Schwierigkeiten praktischer Art, für die man keine schnelle Lösung hat.

In den letzten Jahren hat sich gesetzgeberisch eine Menge getan, nicht nur das neue Hebammengesetz und die Studien- und Prüfungsverordnung für Hebammen, auch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, wo die Hebammen zunächst aus dem Pflegebudget gestrichen und dann zwei Monate später im Krankenhauspflegeentlastungsgesetz wieder aufgenommen wurden. In diesem Arbeitsbereich kommt eigentlich nie Langeweile auf.

Katja Baumgarten: Können Sie zur Entscheidung des DHV etwas sagen, die Doppelmit­glied­­­schaft in zwei Verbänden nicht mehr zuzulassen? Das hat für viel Diskussion gesorgt.

Armin Octavian Hirschmüller: Mehrere Landesverbände haben diesen Antrag gestellt. Er wurde auf der Bundesdelegiertentagung im November in Berlin erörtert. Am Ende wurde der Antrag mit über 80 % Zustimmung angenommen und entspricht offensichtlich einer deutlichen Mehrheit der Mitglieder. Dieser Beschluss muss noch in den 16 Landessatzungen umgesetzt werden.

Katja Baumgarten: Die verschiedenen Interessenvertreter haben unabhängig von der Anzahl ihrer Mitglieder bei Verhandlungen über die Hebammengebühren jeweils eine gleichwertige Stimme. Bei demokratischen Entscheidungen geht es normalerweise um Proporz. Warum greift das bei den Verhandlungen mit dem GKV-SV nicht?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Der DHV hat als größter Verband bis jetzt das Paritätsprinzip mitgetragen. Manche sehen das in Bezug auf den demokratischen Willen seiner Mitglieder kritisch.

Katja Baumgarten: Könnte das Paritätsprinzip verändert werden?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Ob man das ändern kann, müsste man prüfen. Ob man es ändern will, ist eine andere Frage. Natürlich ist es bei näherer Betrachtung auffällig, dass trotz unterschiedlicher Mitgliedsstärke nach dem Paritätsprinzip verfahren wird.

Armin Octavian Hirschmüller: Wir werden in jegliche Richtung überlegen. Welche Überlegungen dann in die Tat umgesetzt werden, obliegt dem Vorstand oder dem entscheidungspflichtigen Gremium. Wir sind als Anwälte keine berufspolitischen Entscheidungsträger, sondern beraten zur Zielerreichung berufspolitischer Vorhaben.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Wir öffnen mögliche Türen und der Vorstand beziehungsweise die Gremien des DHV entscheiden, durch welche Tür man gehen möchte. Wir öffnen nicht nur eine einzige Tür, wir öffnen immer alle in Frage kommenden.

Armin Octavian Hirschmüller: Wir skizzieren Möglichkeiten und Wege im Rahmen der angeforderten Beratung. Und wir sind dann die juristische Exekutive, die eine Entscheidung umsetzt oder umzusetzen versucht, wenn die eine oder andere Richtung eine Mehrheit gefunden hat.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Für uns ist das kein Neuland. Wir hatten 2013 zum Beispiel das Verfahren mit dem DFH, dem Fachverband für Hausgeburtshilfe, bei dem es ebenfalls darum ging, ob er ein maßgeblicher Berufsverband nach § 134a Absatz 1 des Sozialgesetzbuchs V ist. Damals wurde auch vorab in alle Richtungen geprüft. Das war notwendig, weil es das erste Verfahren in dieser Art war.

Katja Baumgarten: Der DFH wollte die Hausgeburtshebammen bei den Gebührenverhandlungen vertreten. Das Netzwerk der Geburtshäuser nimmt jetzt für sich in Anspruch, die freien Hebammen verantwortlich zu vertreten. Damals fiel die Entscheidung, der DFH sei kein maßgeblicher Verband, um mit am Verhandlungstisch zu sitzen.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Das Verfahren war berufspolitisch wichtig, um die Hebammen nicht weiter zu spalten. Denn jede Hebamme darf Hausgeburtshebamme sein, wenn sie sich dementsprechend versichert, es gibt im Hebammenberuf ja keine Spezialisierung in dem Sinne. Will man nach bestimmten Einsatzorten differenzieren, dann spaltet man die Gruppen. Insofern war das damals eine wichtige und richtige Entscheidung für den Berufsstand der Hebammen.

Armin Octavian Hirschmüller: Es steht mit den gesetzlichen Vorgaben nicht im Einklang, dass sich ein Verein gründet und selbst entscheidet, dass man jetzt gerne mit an den Verhandlungstisch kommen möchte. Der alleinige Maßstab ist, was das Gesetz an der Stelle sagt. Der Gesetzgeber hat aufgrund der Gewährleistung, dass die Hebammen auf Bundesebene durchsetzungsstark und effektiv vertreten werden müssen, also dass ein angemessenes Gegengewicht zum GKV-Spitzenverband geschaffen wird, Schranken und damit Voraussetzungen formuliert, die einen Verband berechtigen, an diesen Tisch zu kommen. Andernfalls wären Tür und Tor geöffnet für jegliche Partikularinteressenvertretung. Das gilt es im Sinne der Hebammen zu überwachen und zu schützen, denn andernfalls würde es die Durchsetzungsfähigkeit und die Interessenvertretung auf Hebammenseite deutlich schwächen.

Katja Baumgarten: Ist das Netzwerk der Geburtshäuser gegen das Gerichtsurteil vom 25. Januar dieses Jahres, dass es über die Hebammengebühren nicht mitverhandeln und entscheiden darf, in Berufung gegangen?

Armin Octavian Hirschmüller: Es hat angekündigt, man habe auf der Mitgliederversammlung entschieden, dieses Urteil nicht zu akzeptieren. Mittlerweile hat das Netzwerk der Geburtshäuser Berufung eingelegt. Es ist ein legitimes Mittel, das Urteil überprüfen zu lassen. Damit werden wir uns jetzt in der nächsten Instanz auseinandersetzen. Die Frage ist nur, wie wir in der Zwischenzeit mit den Vertragsverhandlungen umgehen.

Katja Baumgarten: Ruhen die Gebührenverhandlungen solange?

Armin Octavian Hirschmüller: Wir hatten dem GKV-SV und dem Netzwerk noch vor Ablauf der Rechtsmittelfrist wieder einen Kompromissvorschlag unterbreitet: Wir haben angeboten, wenn beide gegnerische Parteien, sowohl Kassen als auch das Netzwerk, auf Rechtsmittel gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin verzichtet hätten, dann hätten wir das Netzwerk der Geburtshäuser im alten Status der beratenden Funktion bei den Gebührenverhandlungen wieder akzeptiert. Aber dafür hätten sie, wie gesagt, auf Rechtsmittel verzichten müssen. Das hat das Netzwerk nicht getan.

Katja Baumgarten: Hat der GKV-Spitzenverband das Urteil akzeptiert?

Armin Octavian Hirschmüller: Es hat aus unserer Sicht alles dafür gesprochen, dass der GKV-SV das Urteil akzeptieren würde. Entweder gibt es noch eine einvernehmliche Lösung oder es muss wieder streitig entschieden werden, was mit diesem Übergangszeitraum bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrenspassiert. Wir können dabei aber dieses Urteil und die Entscheidungsgründe nicht komplett ausblenden. Das Gericht hat im Januar geurteilt, dass die Verhandlungen fortzufüh­ren sind, ohne Beteiligung des Netzwerks – egal in welcher Form.

Der Druck an der Basis ist verständ­licherweise enorm, wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung und die Preissteigerungen der letzten Jahre vor Augen hält. Man muss das vor dem Hintergrund sehen, dass seit 2017 aufgrund der Schiedsstellenentscheidung keine Vergütungserhöhung möglich war, weil der Vertrag über Jahre bis Ende 2020 für Änderungen geschlossen war. Erstmals ab 2021 konnte er wieder zur Verhandlung geöffnet werden.

Katja Baumgarten: Die Gebühren sind seit 2017 eingefroren?

Armin Octavian Hirschmüller: Genau. Zudem hatten wir in der Zwischenzeit mit Corona zu kämpfen und haben dafür entsprechende Übergangsregelungen getroffen. Nachdem wir 2021 wieder in die Verhandlungen einsteigen konnten, hatten wir ein enormes Interesse daran, insbesondere die Höhe der Vergütungen schnell zu erörtern. Da sagte auf einmal das Netzwerk der Geburtshäuser, es möchte den neuen Vertrag jetzt auch verantwortlich mitverhandeln und mitzeichnen. Das hat plötzlich alles zum Stillstand gebracht.

Ich möchte dazu auf die obigen Ausführungen zum DFH hinweisen. Der DHV war auch hier der Auffassung, dass das Netzwerk die erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Der Druck auf den DHV war sehr hoch, weil die übrigen Beteiligten wie der GKV-Spitzenverband, der BfHD – der Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands – und auch das Bundesministerium für Gesundheit der Auffassung waren, dass der DHV mit seiner Rechtsauffassung allein auf verlorenem Posten stünde. Man warf uns unberechtigterweise vor, wir würden die Verhandlungen blockieren. Das gerichtliche Urteil am 25. Januar hat unsere Auffassung bestätigt.

Katja Baumgarten: Sie vertreten und verteidigen auch Hebammen in juristischen Auseinandersetzungen. Im vergangenen November wurde eine Kollegin am Landgericht Verden wegen Totschlags zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, nachdem ein Kind bei der Geburt gestorben war. Vor der Verurteilung einer Ärztin und Hebamme am Landgericht Dortmund im Jahr 2014 hat man von solchen Urteilen nie gehört. Werden Hebammen inzwischen härter angegangen?

Armin Octavian Hirschmüller: Ohne die Hintergründe zu kennen, lässt sich schwer etwas zu diesem Fall sagen. Die Hürden sind hoch, bevor ein Gericht zu einem Urteil »Totschlag durch Unterlassen« kommt. Die Strafkammer muss nach der Beweisaufnahme von einem Vorsatz überzeugt sein – bedingter Vorsatz reicht aus. Wenn sie überzeugt ist, dass ein bedingt vorsätzliches Handeln oder entsprechendes Unterlassen vorlag, sind wir aus dem Fahrlässigkeitsbereich raus und dann bleiben im Rahmen der Tötungsdelikte nicht viele Alternativen, außer Totschlag. Bei fahrlässiger Tötung – ebenfalls ein Tötungsdelikt – fehlt das Vorsatzmerkmal. Sie resultiert aus einer Sorgfaltspflichtverletzung – keiner bewusst gewollten beziehungsweise bedingt vorsätzlichen.

Katja Baumgarten: Auch im Dortmunder Urteil wegen Totschlags ging es um bedingten Vorsatz.

Armin Octavian Hirschmüller: Ich verteidige bundesweit nicht wenige Hebammen aufgrund von Vorwürfen, die Tötungsdelikte betreffen. Früher bezogen sich Vorwürfe der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren in der Regel auf fahrlässige Tötung. Grundsätzlich geht die Staatsanwaltschaft zunächst von einer Verletzung der Sorgfaltspflicht aus. Die Eltern des verstorbenen Kindes sind in solchen Ermittlungsverfahren auch beteiligt und lassen sich anwaltlich vertreten. Anhand der Ermittlungsakten, die ich jeweils einsehe, weiß ich, dass die Anwälte der Eltern unter Verweis auf das Urteil des Landgerichts Dortmund die Staatsanwaltschaft oft auf die Schiene des Totschlagvorwurfs zu führen versuchen.

Katja Baumgarten: Das Urteil des Landgerichts Dortmund nimmt also Einfluss auf Hebammenprozesse?

Armin Octavian Hirschmüller: Ja, seitdem taucht es in Ermittlungsakten auf. Seitens der Staatsanwaltschaften nicht unbedingt eigeninitiativ, aber die anwaltlichen Vertretungen der Eltern, die dieses Urteil kennen, führen ausführlich aus, warum es im vorliegenden Fall keine Fahrlässigkeit mehr sei, sondern warum es hier zum Totschlagsvorwurf kommen muss. Ich habe es bisher noch nicht erlebt, dass die Staatsanwaltschaft die Sachlage daraufhin anders bewertet und den entsprechenden Vorwurf erhoben hat. Es blieb zumindest in meinen Fällen immer bei der Fahrlässigkeit.

Katja Baumgarten: Haben Strafprozesse aufgrund von Schadensfällen zugenommen?

Armin Octavian Hirschmüller: Reprä­sentativ auf Bundesebene können wir nicht sprechen – wir können nur über Fälle aus unserer Kanzlei berichten. Das sind nicht alles Fälle von fahrlässiger Tötung, sondern auch Körperverletzungsdelikte, Schweigepflichtverletzungen oder Vorwürfe wegen Abrechnungsbetrugs. Bei uns melden sich auch Hebammen: »Wir hatten jetzt eine kritische Geburt.« Den Ausgang einer Geburt mit einem verstorbenen Kind haben wir leider häufiger. Manchmal stellt sich aber bei der Obduktion heraus, dass es ein schicksalhaftes Versterben war, das nicht auf einem Fehler der Hebamme beruhte.

Aber es spitzt sich nach meiner Erfahrung schon zu. Im Dezember habe ich einen Prozess in Bochum zu Ende gebracht. Eine Hebamme und eine Ärztin waren wegen fahrlässiger Tötung angeklagt in einem klinischen Setting. Dieser Prozess unterstrich die allgemeine Tendenz, dass man den Hebammen seitens der Gutachter und auch seitens der Gerichte immer mehr Verantwortung und noch mehr Aufgaben im Rahmen der Remonstration zuspricht. Auf der einen Seite ist das zu begrüßen, damit wird ja auch die gewichtige Rolle und die Verantwortung der Hebamme unterstrichen. Es bedeutet aber auch, dass Hebammen besonders im fachlichen Konflikt mit dem ärztlichen Dienst viel deutlicher auftreten müssen.

Katja Baumgarten: Was wurde von der Hebamme erwartet?

Armin Octavian Hirschmüller: Im konkreten Fall hatte die Assistenzärztin die primäre Verantwortung übernommen. Die Hebamme war mit dem Verlauf der Geburt nicht einverstanden, hatte Auffälligkeiten beobachtet und die Ärztin immer wieder darüber in Kenntnis gesetzt. Mehrmals wurde auch die Sectio ärztlicherseits angesprochen, aber nicht sehr dringlich. Die Frau wollte angeblich der Sectio nicht zustimmen. Die Hebamme wurde inzwischen sehr unruhig, die Assistenzärztin hat den Chefarzt angerufen und von da an war auch er involviert. Lange Rede, kurzer Sinn, der geburtshilfliche Gutachter, ein Chefarzt aus Norddeutschland, hat bei Gericht tatsächlich sinngemäß ausgeführt: »Wenn die Hebamme denkt, jetzt müsste sectioniert werden, dann darf es für sie keine Rolle mehr spielen, ob die Assistenzärztin das anders sieht und noch zuwartet oder ob der Chefarzt zuwartet. Dann hat sie auf den roten Knopf zu drücken und hat die Notsectio auszulösen.«

Ich dachte, tatsächlich? Das entspricht nicht der Realität in den Kreißsälen. Was passiert denn in den Kreißsälen? Gesetzt den Fall, der ärztliche Dienst, also Assistenzärzte, Oberärzte und der Chefarzt – alle drei Beteiligte rufen die Notsectio nicht aus – und die Hebamme würde sagen, die Einschätzung der Ärzte interessiert mich nicht, ich rufe jetzt die Notsectio aus! Wenn sie das macht, kann das im Zweifel die absolut richtige Entscheidung gewesen sein: Das Kind würde überleben. Aber sie wird die längste Zeit dort gearbeitet haben. Gleichwohl werden diese Anforderungen an die Hebammen offenbar vermehrt gestellt. Ob die gutachter­liche Einschätzung in diesem Verfahren ein Einzelfall war, bleibt abzuwarten.

Katja Baumgarten: Ja, die Arbeitsrealität im Kreißsaal ist anders!

Armin Octavian Hirschmüller: Dafür interessiert sich das Gericht im Zweifelsfall nicht und dann kommen solche gutachterlichen Aussagen. Diese galt es durch eine entsprechende Vernehmung der Verteidigung zu hinterfragen.

Das Verfahren gegen die Hebamme wurde dann abgetrennt und unter sehr guten Bedingungen eingestellt. Dadurch waren auch keine berufsrechtlichen Konsequenzen zu erwarten. Deshalb hatte es sich erübrigt, die Aussagen des Gutachters weitergehend zu problematisieren. Für die Hebamme ist es im Endeffekt gut ausgegangen. Die Ärztin wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Aber ich war dennoch sehr erstaunt, dass das Gericht die besondere Position und Eigenverantwortlichkeit der Hebamme stark herausgestellt hat und im Kern den Ausführungen des Sachverständigen insoweit gefolgt ist, als dass gesagt wurde, wenn die Hebamme die Gefahr erkannt hat oder hätte erkennen müssen, dann hätte sie sich im Zweifel über alle hinwegsetzen müssen. Von einem solchen Umfang der Remonstrationspflichten wäre die Strafkammer ausgegangen, wenn es zu einer Entscheidung, zu einer Urteilsfindung gegen die Hebamme gekommen wäre.

Katja Baumgarten: Es ist noch keine 15 Jahre her, als ich zum ersten Mal über das Ausmaß der Remonstrationspflicht »bis hin zum Eklat« gehört habe. Früher herrschte die Vorstellung, die Hebamme sei in Krisensituationen Gehilfin bei ärztlichen Entscheidungen.

Armin Octavian Hirschmüller: Ja, und so einfach ist es eben nicht. Seit Jahren betonen wir, die Hebammen bilden eine eigene Säule im Klinikum – neben der Ärzteschaft und der Pflege. Wenn man diese Säule, die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit auf der einen Seite stärkt, insbesondere mit Blick auf die Akademisierung, muss man auch akzeptieren, dass damit mehr Verantwortung übernommen werden muss. Das angemessene Maß darf dabei aber nicht übertroffen werden.

Katja Baumgarten: Mit dem Zuwachs an Verantwortung sollten die Hebammen auch besser bezahlt werden.

Armin Octavian Hirschmüller: Sicher, diese Medaille hat zwei Seiten. Ich kann argumentieren, es gibt einen anderen Bildungsstandard und Verantwortungsrahmen, dadurch hat die Hebamme Anspruch auf mehr Vergütung. Aber dann muss sie sich gefallen lassen, dass sie mehr Verantwortung trägt.

Katja Baumgarten: Das wird offenbar von den Hebammen auch ohne angepasste Vergütung erwartet.

Armin Octavian Hirschmüller: Ja, diese Haltung gegenüber der Hebamme im Bochumer Fall ist zum Glück nirgendwo verbrieft, sonst hätte ich das in der zweiten Instanz vehement angegriffen, weil das über das erlaubte und gebotene Maß hinausgegangen wäre. Anhand dieses Verfahrens wird aber deutlich, wie wichtig die Kenntnis über die sekundäre Verantwortungsebene der Hebamme ist, um sie auch wahrzunehmen. Das Besondere in dem Fall war sogar, dass diese Hebamme zu dem Zeitpunkt, als das Ereignis stattgefunden hat und dieser Schaden eingetreten ist, erst circa sechs Monate im Beruf war – sie war Berufsanfängerin. Trotzdem sagt das Gericht, das sei unerheblich, als Hebamme müsse sie in der Lage sein, ihre Position vollumfänglich ausüben zu können.

Katja Baumgarten: Die Praxiserfahrung während der Ausbildung ist gar nicht umfassend genug, als dass sich eine junge Hebamme auf ihr erlerntes Wissen mehr verlassen könnte als auf die Expertise der erfahrenen Ärzt:innen im Team.

Armin Octavian Hirschmüller: Die Hebamme möchte ich sehen, die den Mut hat – erster Arbeitgeber, sechs Monate im Beruf – zu sagen, Leute, was ihr macht, ist eure Sache, aber ich drücke jetzt auf den Knopf zur Notsectio.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Das war jetzt ein einzelner Gutachter, aber wir werden das künftig im Blick behalten. Das Remonstrationsrecht war haftungsrechtlich schon immer ein Schwerpunkt.

Wir müssen die Entwicklung abwarten: Die Akademisierung führt zu mehr Verantwortung – mehr Verantwortung bietet eben auch mehr Angriffsfläche. Die Studierenden sollten wissen, dass sie mehr Verantwortung tragen und damit auch anders auftreten müssen. Darauf arbeiten wir auf der anderen Seite auch hin. Wir beobachten das: Dies war das erste Mal, dass es so einen Ausreißer bei einem Sachverständigen gab. Die Haltung dieses Gerichts liegt nicht schwarz auf weiß vor, aber es ist die Frage, ob diese Auffassung noch woanders Blüten schlägt.

Vielen Dank Ihnen beiden für diese Einblicke!

Hinweis

Im zweiten Teil des Gesprächs wird es unter anderem um den Verlauf eines Strafprozesses gehen.

 

Die Interviewten

 

Dr. Ann-Kathrin Hirschmüller und Armin Octavian Hirschmüller arbeiten als Rechtsanwält:innen in gemeinsamer Kanzlei in Hannover. Seit 2012 sind sie die juristische Vertretung des Deutschen Hebammenverbands, beraten Hebammen im Rahmen der Rechtsstelle des DHV und vertreten sie in von juristischen Auseinandersetzungen.

 

Rubrik: Recht | DHZ 05/2023

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