Eine kleine Philosophie der Geburt

Am Anfang steht ein Wir

Mit jeder Geburt kommt neue Bedeutung, neuer Sinn, neue Initiative auf die Welt, sagte der Autor und Referent in seinem Vortrag Anfang September auf dem 7. DHZCongress. Die Geburt sei Sinnbild dafür, dass kein Mensch ohne ein Wir sein kann. Ein Nachdenken über die Bedeutsamkeit der Geburt und das Grundlegende menschlicher Existenz und Verbundenheit. Prof. Dr. med. Giovanni Maio
  • »Kein Mensch kann alleine auf die Welt kommen, jeder Mensch kommt auf die Welt in der Grunderfahrung einer Gemeinschaft mit seiner Mutter.«

Das Geborensein ist etwas, was alle Menschen miteinander verbindet. Es ist die Existenzbedingung eines jeden Menschen. Und so erscheint es lohnend, über diese Bedingung der Existenz näher nachzudenken, denn wenn der Mensch zu seiner Existenz nur über das Geborenwerden kommt, so bestimmt die Geburt doch mehr als nur den Vorgang des Zur-Welt-Kommens. Die Geburt bestimmt vielmehr die gesamte Existenz des Menschen, sie verweist auf die wesentliche Grundstruktur menschlichen Daseins.

Doch welcher Art ist diese Wesensbestimmung, die der Mensch über seine Geburt erhält? Die Grunderfahrungen, die der Mensch im Angesicht seines Geborenseins und im Miterleben anderer Geburten macht, soll im Folgenden in sieben Grundmomenten aufgefangen werden.

 

Elementare Kennzeichen der Geburt

 

1. Die Geburt als das Überwältigende

Es gibt nichts Untrivialeres als die Geburt. Im Angesicht einer Geburt ist es schlichtweg unmöglich, unbeteiligt zu bleiben. Mit der Geburt kommt ein neues Staunen in die Welt. Jede Geburt lässt innehalten, weil jedem gewahr wird, dass mit der Geburt sich etwas Großes ereignet hat. Mit dem Erleben der Geburt macht jeder Mensch eine existenzielle Erfahrung, die nichts anderes ist als eine Erfahrung von Tiefe. Unweigerlich ereignet sich somit mit jeder Geburt etwas Überwältigendes, weil wir bei jeder Geburt nicht weniger erleben als eine Verdichtung existenzieller Fragen. Dass die Geburt für jeden Menschen das Gewahrwerden von etwas Großem und Tiefem darstellt, hängt damit zusammen, dass sich mit jeder Geburt etwas Grundlegendes verändert.

2. Die Geburt als Umbruch

Mit jeder Geburt wird jedem deutlich, dass er oder sie Zeuge einer Zäsur wird. Wird ein Mensch geboren, so kann man nicht einfach so weitermachen wie zuvor. Die Geburt unterbricht das Kontinuum der Zeit und läutet eine neue Epoche, eine neue Kommunikation, eine neue Vorstellung von Zukunft ein. Jede Geburt ist per se eine Wendezeit. So wird deutlich, dass die Geburt etwas Umstürzlerisches hat, denn die Geburt stellt alles Bisherige auf den Kopf, und sie stiftet neue Identitäten, neue Zuschreibungen, neue Verwandtschaftsformen. Erst die Geburt macht aus der Schwangeren eine Mutter. Erst die Geburt macht aus der Schwester eine Tante. Die Geburt beschließt einen Statuswechsel, und so lässt sich sagen, dass die Geburt eben deswegen einen Umbruch darstellt, weil sie neue Identitäten und neue Rollen und neue Selbstbilder schafft. Die Geburt durchkreuzt bisherige Ordnungen und stellt daher unweigerlich einen Umbruch dar, der als Einbruch wahrgenommen wird.

3. Die Geburt als Aufbruchserfahrung

Mit diesem einbrechenden Erleben der Geburt geht unweigerlich die Grundempfindung des Aufbrechenden einher. Die Geburt kann geradezu als Sinnbild für die Offenheit der Zukunft gesehen werden. Mit der Geburt wird deutlich, dass eine neue Zukunft angebrochen ist, eine Zukunft, die mit dieser Geburt eine andere geworden ist als vor dieser Geburt.

Die Geburt hat etwas Pulsierendes an sich. Mit ihr kommt eine neue Initiative in die Welt, weil die Geburt dazu anhält, die Zukunft zu gestalten, wird man doch im Angesicht der Geburt dessen gewahr, dass mit der Geburt ein Drang zur weiteren Entfaltung verbunden ist (vgl. Schües, 2008). Das Geborenwerden ist nicht einfach ein festzustellendes Faktum, sondern es ist eine zukunftsverweisende Grunderfahrung. Das Geborenwerden pulsiert der Zukunft entgegen, wie eine innere Lebenskraft, die zur weiteren Entwicklung drängt. Man kann angesichts einer Geburt nicht einfach tatenlos zusehen, sondern eine jede Geburt fordert auf – sie fordert auf, die Zukunft zu gestalten, weil sich mit der Geburt etwas bemerkbar macht, das unweigerlich nach Selbstmanifestation strebt.

Das Geborenwerden ist wie das Eröffnen einer unerschöpflichen Quelle, aus der das Streben nach Neuem strömt. Dieses hervorquellende Neue macht aus der Geburt eine Aufbruchserfahrung, denn mit jeder Geburt entsteht eine neue Wahrheit, eine neue Bedeutung, eine neue Geschichte, eine neue Zukunftsaussicht.

4. Die Geburt als neue Sinnerfahrung

Mit jeder Geburt kommt neuer Sinn auf die Welt. So vieles wird sinnvoll was vorher ohne Sinn gewesen wäre. Mit der Geburt kommt eine neue Bedeutung auf. Es lässt sich gar sagen, dass mit der Geburt ein überbordender Sinn sich manifestiert, denn dieser Neuankömmling stiftet von sich aus so viel Sinn. Er stiftet nicht weniger als ein neues Sinngefüge.

Mit der Geburt wird erlebt, wie sich die Welt im Grunde neu konstituiert, und plötzlich wird deutlich, wie viel Sinn es macht, sich um eine menschliche Zukunft zu kümmern (vgl. Schües, 2008). Es macht Sinn, alles zu tun, um diesem neuen Menschen Raum zu eröffnen. Es macht Sinn, für eine wohnliche Welt einzutreten, allein weil dieser neue Mensch sich dieser Welt überlassen hat.

5. Die Geburt als In-die-Welt-Bringen von Vertrauen

Mit jeder Geburt geschieht etwas ganz Faszinierendes, denn das Neugeborene kommt in einer Weise in die Welt, dass dieses Neugeborene sich gar nichts aussucht, sondern diese Welt so nimmt, wie sie ist. Das Neugeborene lässt sich fraglos ein auf diese Welt und beginnt sein In-der-Welt-Sein mit einem Bezogen-Sein auf andere. Das Neugeborene sucht unweigerlich die Nähe der anderen Personen, es ist einerseits schutzlos ausgeliefert und zugleich so aktiv im steten Bezogen-Sein auf Nähe zu anderen. Das Neugeborene vertraut sich seiner nicht ausgesuchten Welt fraglos an, so dass sich mit dem Philosophen Burkhard Liebsch zu Recht sagen lässt, dass mit jedem geborenen Kind neues Vertrauen in die Welt kommt (Liebsch, 1997, S. 339, zitiert in Schües, 2008, S. 468).

Dieses blinde Vertrauen des Neugeborenen verändert die Welt, weil dieses Vertrauen die gesamte Welt dazu auffordert, sich als Welt vertrauenswürdig zu erweisen. Daraus ist abzuleiten, dass jeder Geburt ein Aufforderungscharakter innewohnt. Die Geburt veredelt, weil sie die Menschen dazu aufruft, nicht um sich zu kreisen, sondern sich des Kindes, das sich anvertraut, anzunehmen.

6. Die Geburt als Beginn neuer Verantwortung

Wie wir gesehen haben, kann die Geburt niemanden kalt lassen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Geburt den Menschen emotional überwältigt, sondern sie überwältigt den Menschen auch moralisch. Im Angesicht der Geburt fühlt sich der Mensch aufgerufen, sich der Verantwortung zu stellen (vgl. Schües, 2008). Jede Geburt ruft unweigerlich zur Verantwortung auf, weil in der Geburt die radikale Angewiesenheit des Neugeborenen so augenscheinlich wird. Daher verändert die Geburt den Menschen zum Guten, weil mit jeder Geburt daran erinnert wird, wie notwendig die Fraglosigkeit des Gebens ist.

In der Vergegenwärtigung dessen, dass wir alle einst geboren wurden, wird deutlich, dass wir unsere Fortexistenz der Zuwendung der anderen zu verdanken haben. Und so erinnert jede neue Geburt uns daran, dass wir Menschen nur so lange weiterexistieren können, wie die Fraglosigkeit, mit der man sich unserer angenommen hat, in der Zukunft fortgesetzt wird.

Die Geburtlichkeit des Menschen ist daher unweigerlich verbunden mit einer Rückerinnerung daran, dass der Mensch nur so lange existieren kann wie das Sich-Einsetzen für die Schutzbedürftigen eine Selbstverständlichkeit bleibt. Die Geburt macht die Notwendigkeit der Sorge für den anderen augenscheinlich. Sie verdeutlicht uns, dass es ohne eine Sorgekultur keine Zukunft geben kann.

7. Die Geburt als Sinnbild für Gemeinschaft

Wenn der Mensch erst über seine Geburt zur Existenz kommt, so wird deutlich, dass seine Existenz Resultat und zugleich Ausdruck dessen ist, was sich in und durch die Geburt vollzieht, nämlich die Verwirklichung einer tiefen Gemeinschaft. Kein Mensch kann alleine auf die Welt kommen, jeder Mensch kommt auf die Welt in der Grunderfahrung einer Gemeinschaft mit seiner Mutter. Von Anfang an macht der Mensch die Erfahrung des Mitseins, ja, es ist gar nicht anders denkbar, als dass das Geworden-Sein des Menschen unweigerlich gebunden ist an ein Mitwerden mit der Mutter.

So ist der Anfang eines jeden Menschen die Grunderfahrung einer gemeinsamen Verwirklichung und damit die Grunderfahrung von Beziehung. Die Beziehung ist es, die den Anfang bestimmt, weil der Mensch geboren wird in der Grunderfahrung, dass immer schon jemand da war. Diese Gemeinschaftserfahrung ist nicht nur prägend für das gesamte Leben, sie sagt zugleich etwas aus über die Tiefenstruktur des Lebens, nämlich dass es kein Leben des Selbst ohne Erfahrung des Mitseins mit anderen geben kann.

Genau das ist die bewusstseinsschärfende Kraft, die aus dem Erleben der Geburt erwachsen kann. Die Geburt erinnert daran, dass jeder Mensch nur im Erleben von Gemeinschaft sein Leben gestalten kann. Ohne diese Gemeinschaftsempfindung gäbe es keine Entwicklung, es gäbe keine Zukunft. Nur die Gemeinschaft macht aus dem geborenen Menschen einen Menschen mit Zukunft.

 

Bedeutung der Philosophie der Geburt

 

Welche Schlussfolgerungen lassen sich ziehen aus der dargelegten kleinen Philosophie der Geburt? Nehmen wir die sieben Grundkennzeichen der Geburt zusammen, so wird deutlich, dass der Aufforderungscharakter der Geburt darin liegt, alles dafür zu tun, dass man sich der Verantwortung für die Angewiesenheit des Neugeborenen als Sinnbild des Menschseins an sich bewusst bleibt. Das Neugeborene erinnert uns daran, dass wir alle die Verantwortung haben, für das Neugeborene und alle Nachkommenden eine Zukunft vorzubereiten, die wir mit gutem Gefühl der nächsten Generation überlassen können.

Die Geburt erinnert uns daran, dass wir alle ohne eine Sorgekultur nicht überlebt hätten. Sie erinnert uns daran, dass es ein Vergehen an der Zukunft ist, wenn man an der Betreuung der Menschen spart, die mit der Geburt beauftragt werden, für eine gute Zukunft zu sorgen. Die Geburt macht uns deutlich, dass es ohne Sorge für die anderen keine Zukunft gibt. Sie macht uns deutlich, dass unser aller Wohlergehen davon abhängt, wie sehr es uns gelingt, die Ermöglichung von Sorge zu gewährleisten. Sorgekulturen sind die Rettung des Menschen aus seiner grundlegenden Angewiesenheit, aus der der Mensch kommt und die er ein Leben lang in weniger akzentuierter Form durchlebt, bis er wieder neu auf sie stößt. Das gesamte Leben ist von Angewiesenheitsstrukturen durchzogen, und die Geburt ist geradezu Sinnbild für die Angewiesenheit des Menschen darauf, von anderen Menschen liebend in Empfang genommen zu werden.

 

Kein Mensch ohne ein Du

 

Nimmt man alle dargelegten Überlegungen zusammen, so lässt sich folgende synthetisierende Schlussfolgerung ziehen. Im Moment der Geburt wird eine außergewöhnliche Verdichtung des Lebens erlebt, und so bleibt die Geburt lebensbestimmend. Man kann angesichts der Geburt nicht einfach so weitermachen wie zuvor, weil die Geburt aufrüttelt, auffordert, aufruft. Vor allen Dingen ruft die Geburt eines Menschen zur Verantwortung auf, weil alle Menschen im Angesicht der Geburt realisieren, dass es ohne die Bereitschaft, sich auf das Kind einzulassen, keine Zukunft gäbe. Ohne diese Verantwortungsübernahme anderer hätte es uns selbst nicht gegeben.

Die Geburt ist lebensbestimmend, weil sie auf das Wesentliche verweist. Sie verweist auf die Beziehungshaftigkeit allen Lebens, sie verweist darauf, dass jeder geborene Mensch sich fraglos seiner Welt überlässt und die Welt empfänglich bleiben muss für die Bedürfnisse des anderen. Die Geburt ist lebensbestimmend, weil sie aufzeigt, dass kein Mensch alleine gedeihen kann. So wie kein Mensch alleine auf die Welt kommen kann, so ist die Geburt Sinnbild dafür, dass kein Mensch ohne ein Du zu sich finden kann.

Es ist so wichtig, sich die Bedeutsamkeit der Geburt vor Augen zu führen, denn das Nachdenken über die Geburt verweist uns unweigerlich auf das Wesentliche im Leben und damit auf die Bedeutsamkeit der Sorgearbeit, die durch alle geleistet wird, die sich der Angewiesenheit der Schwangeren und der Hilfsbedürftigkeit der Neugeborenen annehmen.

Rubrik: Ausgabe 12/2024

Vom: 25.11.2024