»Hebammendynastie« über vier Generationen

Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Tochter – alle sind Hebammen. Die Jüngste in dieser österreichischen Generationenfolge fasst ihre Familiengeschichte zusammen. Sie berichtet, warum sich alle vier Frauen für den gleichen Beruf entschieden und wie er sich verändert hat. Hemma Roswitha Pfeifenberger
  • Hemma Roswitha Pfeifenberger, Gottfrieda Lamprecht und Beate Elvira Lamprecht – drei Generationen Hebammen in einer Familie.

In Bad Eisenkappel in Kärnten gibt es ein Entbindungsheim. Entbindungsheim ist eine alte österreichische Bezeichnung für ein Geburtshaus. In Bad Eisenkappel war es lange gleichzeitig ein Wöchnerinnenheim, in dem Frauen eine Woche nach der Geburt Wochenbett hielten. Mit diesem Entbindungsheim Lamprecht, das Wohnhaus und Gesundheitseinrichtung gleichzeitig ist, hat meine Familie eine spezielle Verbindung. Meine Urgroßmutter war Hebamme, meine Großmutter, meine Mutter und ich sind es auch. Wie ist es, die vierte Generation zu sein?

»Nach Eisenkappel fahren«, hieß für mich als Kind immer, kurvige Straßen in ein enges Tal ertragen, bei denen man froh ist, wenn der Magen leer ist. Es hieß, so weit in den südlichsten Zipfel Österreichs zu fahren, dass das Handy meiner Mutter nur slowenisches Netz empfing. Es hieß, die Großeltern besuchen und sich auf das gute Essen freuen. Es hieß, die Tür zu öffnen, an der »Hebamme Gottfrieda Lamprecht« steht. Es hieß, auf der Terrasse Wöchnerinnen zu begegnen, die zwischen den Stillmahlzeiten eine Zigarette rauchten (die 90er waren eben anders) – Wöchnerinnen, die dem Namen entsprechend wirklich eine Woche im Entbindungsheim blieben. Es hieß, dass die Großmutter vor dem Mittagessen noch schnell eine Portion Essen ein Stockwerk tiefer zu den Wöchnerinnen brachte. Es hieß auch, die Urgroßmutter besuchen, die immer dieselben Geschichten von Geburten aus den 40ern und 50ern erzählte und wie schwierig doch alles früher war. Es hieß, Geduld haben, wenn man eigentlich nach Hause wollte, aber die Großmutter und die Mutter sich noch gegenseitig fachlich berieten. »Also ich hatte letztens eine Frau…, Was würdest du machen?... Ja, Hemma, wir fahren gleich nach Hause. Sollen wir nochmal Babys schauen gehen?« Es hieß, meiner Oma dabei zuzuschauen, wie sie für die Wöchnerinnen Frühstück, Vormittagsjause (eine österreichische Zwischenmahlzeit), Mittagessen, Nachmittagskaffee und Abendessen kochte und Unmengen an Wäsche bewältigte. Und trotzdem entschied ich mich, Hebamme in vierter Generation zu werden. Wie kam es dazu? Und wie kamen meine Vorfahrinnen dazu?

 

Die Erste

 

Meine Urgroßmutter, Karoline Bergmann, geborene Auer, wollte ursprünglich Krankenschwester werden. Die vor dem Zweiten Weltkrieg vorgeschriebene Mindestgröße für Schwesternschülerinnen konnte sie nicht erreichen. Während des Krieges hätte sie dennoch die Ausbildung beginnen dürften – das bedeutete jedoch, dass sie als Krankenschwester in ein frontnahes Lazarett versetzt geworden wäre. Daher entschied sie sich 1944 für die Hebammenausbildung im Landeskrankenhaus Klagenfurt.

Im hohen Alter wurde sie in einem Radiointerview gefragt, wieso sie Hebamme wurde. Meine Urgroßmutter antwortete: »Was hätte ich denn sonst machen sollen?! Ich hatte ja nur einen Hauptschulabschluss.«

Wie auch später meine Großmutter, hatte meine Urgroßmutter während der Hebammenausbildung bereits ein Kind. Da bei beiden noch Internatspflicht für die Hebammenschülerinnen herrschte, mussten sie ihr Kind für die Dauer der Hebammenausbildung in eine Pflegefamilie geben. Ihre Tochter – meine Großmutter – verbrachte daher die Zeit 1944/45 bei einer Pflegefamilie, während das Krankenhaus, in dem meine Urgroßmutter lernte, aus Angst vor Luftangriffen aus der Stadt heraus in einen Gasthof in den Bergen verlegt wurde. Im 21. Jahrhundert sind das Hebammenstudium und die Familie leichter vereinbar.

In den 1940ern mussten Hebammen um eine Bewilligung zur Niederlassung ansuchen und konnten den Arbeitsort nicht selbst wählen. Obwohl meine Urgroßmutter lieber in ihre Heimat Oberkärnten zurückgekehrt wäre, wurde sie als Hebamme nach Unterkärnten versetzt – die Region, die an das damalige Jugoslawien grenzt. In dieser ländlichen Gegend führte sie zuerst Hausgeburten durch und arbeitete später in einem kleinen Behelfskrankenhaus in Bad Eisenkappel.

 

Die Zweite

 

In die Fußstapfen meiner Urgroßmutter trat 1957 meine Großmutter, Gottfrieda Lamprecht, geborene Bergmann. Als Hebamme wechselte sie sich mit ihrer Mutter jeweils um 12 Uhr mittags in 24-Stunden-Diensten ab. Meine Großmutter arbeitete als alleinerziehende Mutter von vier Kindern im Behelfskrankenhaus, baute das Entbindungsheim, das gleichzeitig auch Wohnhaus ist. Ende der 60er sagte ihr alter Schulfreund Otto – mein Großvater – zu ihr: »Wenn du mal Hilfe beim Hausbau benötigst, kannst du mir Bescheid geben. Ich habe wochenends Zeit.« Daraus entstand eine über 40-jährige glückliche Ehe, in der die beiden für insgesamt sieben Kinder gute Eltern waren.

1969 wurde das Behelfskrankenhaus geschlossen und das Entbindungsheim eröffnet. Ihr Arbeitsalltag mit inzwischen sieben Kindern begann jeden Tag um 5 Uhr: Frühstück für die Wöchnerinnen vorbereiten, gegebenenfalls eine Geburt, Kreißsaal putzen, Instrumente sterilisieren, Frühstück für die eigenen Kinder richten, Wäsche waschen, bügeln (wenn das nicht während der Latenzphase der nächsten Geburt gemacht wurde), Zwischenmahlzeit für die Wöchnerinnen servieren, Wochenbettvisite, Gartenarbeit, Stillhilfe, Mittagessen kochen, Wochenbettbesuche, Nachmittagskaffee für die Wöchnerinnen richten, Stillhilfe, Abendessen zubereiten etc.

Gottfrieda führte vergleichsweise wenige Hausgeburten in den Bergbauernhöfen der umliegenden Täler durch. Der Weg dorthin wurde meist – bei Wind und Wetter – zu Fuß zurückgelegt, wenn nicht der werdende Vater oder ein Nachbar der Wehenden sie mit dem Traktor oder dem Motorrad abholen konnte. Die Wege waren noch schlecht ausgebaut, viele Häuser ohne Strom- oder Wasseranschluss. Die meisten Frauen kamen für die Geburt ins Entbindungsheim, weil es für die in der Landwirtschaft tätigen Mütter auch manchmal die einzige Erholung war.

Genauso wie meine Urgroßmutter war meine Großmutter später in der Standesvertretung als Landesgremialleiterin des Hebammengremiums tätig – der in Österreich gesetzlich festgelegten Interessensvertretung. In dieser Funktion war sie auch bei Sitzungen zur Erstellung des heute noch gültigen Hebammengesetzes beteiligt. Mit diesem in den 1990ern neuen Gesetz wurde der Grundstein für die später beschriebenen Veränderungen in der Hebammenausbildung in Österreich sowie der Neuorganisation des Österreichischen Hebammengremiums gelegt.

Mit über 70 kaufte sich meine Oma ihren ersten Computer, später ihr erstes Auto und ist seitdem sicher auf der Straße und digital unterwegs: »Dieses Excel, das ich für die Buchhaltung nutze, ist ja praktisch. Kann ich da auch meine Geburten und die Geburten meiner Mutter eintragen?« Zwei Jahre lang tippte sie bei Schlechtwetter, wenn sie sich nicht um ihren großen Garten kümmern konnte, die Geburten in eine vorgefertigte Excel-Tabelle, deren Inhalt ich in zwei Infografiken darstellte. Mit über 80 Jahren wurde meine Großmutter gefragt, ob sie eine Frau bei einer Hausgeburt begleiten kann: »Hausgeburten mache ich keine mehr. Ich bin ja keine 70 mehr.«

Mit 85 Jahren führt sie jedoch noch Wochenbettbetreuungen, Schwangerschaftsvorsorgen und Einzelgeburtsvorbereitungen durch. Außerdem leitet sie einmal monatlich einen Kleinkind- und Babytreff für Mütter in Bad Eisenkappel. Der Kreißsaal des Entbindungsheimes in ihrem Haus ist immer noch für Geburten bereit. Das zweite Bett, das sie bei Geburten nutzte, um sich während der Latenzphase der Gebärenden selbst hinzulegen oder hin und wieder für parallele Geburten nutzte, wurde mittlerweile durch eine Couch im Kreißzimmer ersetzt.

Sie ist jedoch – im Gegensatz zu vielen Hebammen in Österreich – nicht als Wahlhebamme mit frei gewählten Honoraren tätig, sondern hat für ihren Bezirk einen Kassenvertrag, um die Leistungen direkt mit den Krankenkassen abrechnen zu können. Hebammenbetreuung darf für sie keine Frage des Geldbeutels der Familie sein, sie betreut jede Frau gleich.

 

Die Dritte

 

Meine Mutter, Beate Lamprecht, wuchs also mit ihren Geschwistern quasi im Entbindungsheim auf. Als es bei ihr nach der Matura um die Frage des weiteren Werdegangs ging, schwankte sie zwischen einem Studium (Theologie, Medizin oder Wirtschaft) und der Hebammenausbildung. Sie entschied sich für die Hebammenausbildung im selben Krankenhaus, in dem schon meine Urgroßmutter und Großmutter gelernt hatten. Auch sie war im Internat der Hebammenschule untergebracht.

Nach der Ausbildung in der Bundeshebammenlehranstalt blieb sie im selben Krankenhaus. Neben der Arbeit im Krankenhaus, freiberuflicher Hebammentätigkeit und dem Halten diverser Vorträge studierte sie Pädagogik, um sich für die Lehre und Ausbildung zukünftiger Hebammen zu qualifizieren. Auch um über (die eigenen) Grenzen zu blicken, ging sie für das internationale Rote Kreuz in den Einsatz in ein Feldhospital des weltgrößten Geflüchtetenlagers in Bangladesch.

Über 30 Jahre blieb sie dem Krankenhaus treu, in dem sie die Ausbildung absolvierte, und arbeitete als Hebamme im Rotationssystem, als dienstführende Hebamme im Kreißsaal. Die letzten 16 Jahre war sie als leitende Hebamme und Abteilungsleitung Pflege für die Abteilungen Gynäkologie & Geburtshilfe, Kinder-/Jugendheilkunde, Kinder-/Jugend- sowie Plastische Chirurgie zuständig, bevor sie an die Fachhochschule Salzburg wechselte, um dort den Bachelor-Studiengang Hebammen zu leiten.

 

Die Vierte

 

Mit 24+5 SSW geboren, wetteten bereits die Neonatologen neben dem Inkubator, ob ich, Hemma Pfeifenberger, die vierte Generation Hebamme würde, weil ich als Neugeborenes lange dünne Finger hatte. In der Pubertät wollte ich alles, nur nicht Hebamme werden. Meine Mutter versuchte, mir einen Werdegang in der Technik schmackhaft zu machen. Dieses Streben wurde jedoch zerschlagen, als ich im Rahmen eines Schulprojektes einen Tag lang einen Elternteil im Beruf begleiten musste und meine Mutter im Kreißsaal begleiten durfte. Von da an wusste ich, dass ich Hebamme werden wollte, und wurde auf diesem Weg unterstützt.

Ich fuhr mit einer Mitfahrgelegenheit zum Aufnahmetest für das Hebammenstudium nach Wien. Die Fahrerin war begeistert: »Du willst Hebamme werden?! Finde ich super. Ich wurde ja bei so einer alten Hebamme geboren. Die kennst du vermutlich nicht, die ist in Eisenkappel.« Die Mitfahrgelegenheit brachte mir anscheinend Glück, denn ich wurde aufgenommen und studierte 2015 bis 2018 an der Fachhochschule Campus Wien.

Selbstverständlich wurden meine Pflichtpraktika durch freiwillige Praktika bei meiner Großmutter ergänzt. Nach dem Studienabschluss vertrat ich sie, als sie nach einer Operation ausfiel. Meine Großmutter war als Mentorin bei Fragen verfügbar: »Die Frau kenne ich schon seit ihrer eigenen Geburt. Sie hat eine schwierige Beziehung zu ihrer eigenen Mutter. Darauf musst du achten.« Meine Annahme, dass freiberufliche Hebammenarbeit in Unterkärnten mir nicht zusagen würde, konnte ich bestätigen: Bei Glatteis in enge Täler zu fahren, deren Straßen aus Leitschienen aus Holz bestehen, und mit der Wochenbetttasche durch den Schnee zu stampfen, ist nichts für mich. Ich bevorzuge Straßenbahnen in Städten.

In Wien arbeitete ich in den Krankenhäusern immer wieder mit Hebammen, die meine Mutter als Dozentin im Studium begleitet oder die mit ihr bei Gutachten für die Babyfriendly-Zertifizierung in Österreich zusammengearbeitet hatten. »Du bist die ganze Beate. Dasselbe Gesicht.« Daher war für mich klar: Ab nach Frankfurt am Main, um Beckenendlagen zu erlernen und weiter weg zu sein. Hier war ich zum ersten Mal nicht mehr »die Tochter von« jemand anderem, sondern konnte meinen eigenen Weg gehen. Daher kam ich nach dem Studienabschluss wieder an das Universitätsklinikum Frankfurt. Hier kann ich die Kreißsaalarbeit mit Forschung und Praxisanleitung kombinieren und werde gefördert und gefordert, indem ich mit Ärzt:innen gemeinsam Notfallsimulationen und Beckenendlagenworkshops anbiete. Die leitende Hebamme hat Verständnis, wenn ich für Vorträge in Deutschland oder Lehrveranstaltungen in Österreich den einen oder anderen freien Tag benötige und einen Dienst tauschen möchte.

Immer wieder wurde ich gefragt, ob ich Hebamme wurde, weil meine Urgroßmutter, Großmutter und Mutter auch Hebammen sind. Ich wurde jedoch weder mit vorgehaltener Waffe, noch mit einem vorgehaltenen Pinard-Hörrohr dazu gezwungen, sondern entschied mich selbst, meiner Berufung zu folgen.

Auch wenn ich auf dem Rat meiner Mutter »irgendwas mit Technik« zu studieren nicht hörte und Hebamme wurde, hat mich diese Aussage spätestens beim Masterstudium eingeholt: Im interdisziplinären Studiengang Inclusive Design konnte ich mit ITler:innen und Architekt:innen gemeinsam barrierefreie Konzepte planen und ein Programm entwickeln, mit dem im Rahmen von Fortbildungen fetale Herztöne interaktiv simuliert werden können. Dessen Lerneffekt habe ich im Rahmen meiner Masterarbeit überprüft. Bei der Datenauswertung konnte meine Großmutter meine Begeisterung für die Boxplot-Diagramme nicht teilen: »Das ist ja ganz schön. Ich bin jedenfalls froh, dass ich so etwas nicht lernen musste. Überhaupt müssen Hebammenstudentinnen heute viel mehr lernen als ich während der Ausbildung. Rhesusinkompatibilität, das kannten wir zum Beispiel damals ja noch gar nicht. Davon habe ich erst bei Fortbildungen erfahren.«

 

Was hat sich verändert?

 

Bei einem Blick in die Hebammenlehrbücher meiner Familie werden die Veränderung des Berufes und das neu hinzugekommene Wissen deutlich. Seit der Zeit meiner Urgroßmutter veränderte sich die Ausbildung von Hebammen in Österreich erheblich: von einer 18-monatigen Ausbildung mit Internatspflicht bei meiner Urgroßmutter und Großmutter, zu einer zweijährigen Ausbildung an einer Bundeshebammenlehranstalt bei meiner Mutter – jeweils noch mit Internat. In den 1990ern und frühen 2000ern tat die Hebammenausbildung in Österreich zwei große Sprünge: Aus den zweijährigen Bundeshebammenlehranstalten wurden dreijährige Hebammenakademien mit Matura als Zugangsvoraussetzung. Diese wurden ab 2006 in dreijährige Fachhochschulstudiengänge umgewandelt. Das Ziel – kompetente Hebammen auszubilden – blieb immer gleich. Es kamen mit der längeren Ausbildungsdauer neue, vertiefende Kompetenzen hinzu, von denen ich als forschende Hebamme profitiere.

Auch wenn ich als Frühgeborene – im Gegensatz zu meinen Brüdern – nicht in Eisenkappel im Entbindungsheim geboren wurde und auch meine Mutter längst nicht mehr dort wohnt, lässt einen die Familiengeschichte nicht los. »Ach, du gehörst zu den Lamprechts?! Gibt es das Entbindungsheim noch? Dort wurde meine Tochter/Nichte/Enkelkind geboren. Liebe Grüße an deine Oma,« höre ich immer wieder und freue mich über eine so vielfältige »Hebammendynastie«.

Rubrik: Ausgabe 02/2023

Vom: 24.01.2023