Alles in einem Rucksack

  • Elisabeth Niederstucke, Redakteurin der DHZ: »Hebammen sind jetzt nicht nur gefragt, geflüchteten Frauen in Schwangerschaft und Geburt beizustehen, sondern auch das Trauma zu sehen, das unweigerlich in deren Anamnese gehört.«

  • Kürzlich hat unsere Tochter ein Praktikum im Kreißsaal gemacht. Sie möchte Hebamme werden und erlebte »ihre« ersten, sehr unterschiedlichen Geburten. Ich war zu der Zeit befasst mit den Artikeln für die Schwerpunkt­ausgabe zur Anamnese und mich faszinierten die Gedanken und Berichte, wie sie die Geburten vor dem jeweils eigenen Hintergrund der Gebärenden erlebte. Ich erzählte ihr von einer Formulierung unserer Autorin Julia Steinmann, die in ihrem Einführungsartikel vom eigenen »Rucksack« der Frau schreibt, den diese mit in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bringt.

    Wir überlegten gemeinsam, was eine gute Anamnese schon in der Schwangerschaft ausmacht – über das hinaus, was die Mutterschafts-Richtlinien empfehlen. Wie wichtig es sei, die richtigen Fragen zu stellen und den Menschen mit seinem ureigenen Hintergrund wahrzunehmen und zu erfassen – und dies nicht nur mit professionellem Blick, sondern auch schriftlich. Was unsere Tochter so nicht erwartet hatte, war, dass bei jeder Geburt sehr viel dokumentiert wurde: »Selbst das Normale, das Nicht-Pathologische wird notiert«, berichtete sie beeindruckt von dieser Genauigkeit.

    Ich erzählte ihr von den Artikeln, die ich gerade las: Dass Übergabeprotokolle vollständig sein müssten, damit zum Schutz der Frau – und für den Fall der Fälle – klar dokumentiert sei, dass beispielsweise Informationen über einen Schwangerschaftsdiabetes von einer an die nächste Betreuende weitergegeben wurden. Das untermauert in dieser Ausgabe der Rechtsanwalt Dr. Sebastian Almer anhand eigener Fälle aus seiner Praxis. Und die Hebamme Regine Knobloch hinterfragt, ob nicht jede letztlich so dokumentiert, wie sie denkt. Sie verweist auf Standards und Formulare für eine lückenlose Erfassung.

    Seit dem 24. Februar hat sich die Welt dramatisch verändert: Angriff auf die Ukraine – Krieg in Europa. Wie so oft trifft es die Schwächsten in der Gesellschaft am schärfsten. Nun gebären Frauen in U-Bahn-Schächten ihre Kinder, teils eingekesselt in Städten wie Charkiw, Mariupol oder Kiew, während oben Bomben fallen.

    Diejenigen Menschen, die aus dem Land flüchten können, bringen oftmals im wahrsten Sinne nicht viel mehr als einen Rucksack mit. Es sind vor allem Frauen und Kinder. Am Ende zählt, dass sie leben und dass sie die notwendige Hilfe bekommen, die sie nun brauchen. Hebammen sind jetzt nicht nur gefragt, geflüchteten Frauen in Schwangerschaft und Geburt beizustehen, sondern auch das Trauma zu sehen, das unweigerlich in deren Anamnese gehört und darüber hinaus in die Biografie der Familie.

    Jetzt ist es umso wichtiger, die Frauen und ihre Familien zu sehen, mit allem, was sie mitbringen, ihnen zuzuhören und ihnen beizustehen.

     

    Elisabeth Niederstucke