Berufung und Leidenschaft

  • Nur wenige Berufe sind so nah an den existenziellen Themen des Lebens wie der unsere. Hebammen begleiten den Übergang – von der Frau zur Mutter, vom Paar zu Eltern, vom Wachsen im Verborgenen zum Ankommen in der Welt. Die Arbeit an der Schwelle des Lebens – und manchmal auch des Todes – ist mit tiefen Erfahrungen und großen Gefühlen verbunden. Hebammen sind Zeuginnen unglaublichen Glücks und unendlicher Traurigkeit, sie erfahren von Geheimnissen und schauen in tiefste Abgründe. Sie erleben, wie fragil und wie stark das Leben ist.

    Hebammen verfügen über unterschiedliche Dimensionen des Wissens, die sie einsetzen, wenn sie Gebärende begleiten. Sie wissen, dass Gebären ein zutiefst leibliches und ein außer­ordentlich beziehungsreiches Geschehen ist – verletzlich, kraftvoll und hochdynamisch. Hier kann es keine Routine geben, denn jede Geburt und jede Frau sind einzigartig.

    Diese Begleitung erfordert ein hohes Maß an Empathie und an Professionalität – Respekt vor den Frauen und Familien, ebenso wie Selbstfürsorge und die Fähigkeit, sich abzugrenzen und in Beziehung zu bleiben. Manchmal ist es ein schmaler Grat zwischen empathischer Begleitung und Grenzverletzungen – auf beiden Seiten.

    Intensive Verbundenheit mit der eigenen Tätigkeit und Leidenschaft bergen auch die Gefahr des Ausbrennens, wenn das Abgrenzen und für sich selbst Sorgen nicht mehr funktioniert. Erschreckend ist es zu hören, dass bereits während der Ausbildung so große Verletzungen geschehen, dass der Weg abgebrochen wird oder die jungen Frauen den Beruf nach Abschluss der Ausbildung gar nicht erst beginnen.

    Bei all dem sind Hebammen selbst Frauen, sie bekommen Kinder oder keine, sie erleben am eigenen Leib die Prozesse, die sie begleiten. So verknüpfen sich berufliche und persönliche Wege. Aus eigenen Erfahrungen können sich besondere Kompetenzen entwickeln, ein Arbeitsstil oder eine bestimmte Ausrichtung. Ebenso prägen die Rahmenbedingungen und Erfahrungen aus dem Arbeitsleben die Persönlichkeit und die eigene Lebensgestaltung.

    Ohne Zweifel ist unser Beruf eine Berufung. Das wird immer wieder deutlich, wenn Hebammen über die Motive für ihre Berufswahl sprechen. Doch Berufung und Leidenschaft als starke Ressourcen reichen nicht aus, um unseren gesellschaftlichen Status zu sichern. Dass wir eine eigenständige Profession sind, steht zur Disposition. Seit Jahrhunderten ist unsere Autonomie bedroht, wird immer wieder in Frage gestellt und massiv angegriffen. Gerade jetzt wieder erlebt unser Berufsstand harte Zeiten. Mehr denn je müssen wir zusammenstehen, kluge, weitreichende Strategien entwickeln, die beste Expertise und starke BündnispartnerInnen an die Seite nehmen. Damit Hebammen ihrer Berufung folgen und ihre gesellschaftlich so wichtige Arbeit ohne Existenzangst im gesamten Spektrum ihrer Kompetenzen ausüben können.