„Beschnittener“ Blick

  • Mächtig und abschreckend, verherrlicht, diffamiert und dämonisiert, beschnitten und unsichtbar, normiert und gestylt, empfindlich und äußerst verletzbar – die Vulva hat viele Aspekte und einen hohen symbolischen Charakter. Die Vulva, die die Feinde verschreckt und das Schicksal von Menschen verändert, und die Vulva, die zugerichtet wird, um eine kulturelle Norm zu erfüllen. Das Organ der weiblichen Lust, der Ort, an dem sich die Geburt des neuen Lebens ereignet.

    Der Blick auf die Vulva und die ihr zugeschriebenen Eigenschaften spiegeln den Blick auf die Frau und die ihr zugedachte Rolle in einer Kultur. In seiner umfassenden Bedeutung begriff ich diesen Zusammenhang erst vor zwei Jahren, als ich einen Vortrag der Kulturwissenschafterin Mithu Sanyal auf dem 19. Kongress des Arbeitskreises Frauengesundheit über die Kulturgeschichte der Vulva hörte. Ab diesem Moment war ich inspiriert, dieses Thema auch für die DHZ weiter aufzumachen und der Vulva ein Titelthema zu widmen, das ihre vielfältigen Aspekte würdigt. Dabei ging es mir auch um den „beschnittenen" Blick der Medizin auf die Vulva. Denn die Medizin hat die weibliche Anatomie nicht annähernd so gründlich erforscht wie die des Mannes; vor allem geschah diese Forschung immer mit dem defizitären Blick, der vom Männlichen als dem Vollständigen ausging und dabei die Klitoris im Laufe der Jahrhunderte aus den Anatomiebüchern verschwinden ließ.

    Als Hebammen sind wir vertraut mit der weiblichen Anatomie und ihren vielfältigen Formen und wahrscheinlich haben wir in erster Linie die Verletzlichkeit der Vulva beim Geburtsgeschehen vor Augen. Viele Kolleginnen erinnern sich sicher schmerzlich an die unzähligen Episiotomien, die in früheren Jahren geschnitten wurden – meist ohne Notwendigkeit, sondern prophylaktisch. An das einschneidende Geräusch der Schere in unverletztes Fleisch. In Forschung und Praxis haben wir uns leidenschaftlich und erfolgreich dafür engagiert, diese schädigende Routine aus der Geburtshilfe zu entfernen.

    Im Zeitalter von Schönheitschirurgie müssen wir uns auch mit dem Blick der Frauen auf ihre Vulva und einer neuen kulturspezifischen Beschneidung auseinandersetzen. Seit Haare im Intimbereich der Frau keinen Platz mehr haben, ist die Vulva sichtbarer und öffentlicher geworden. Sie muss einem Schönheitsideal entsprechen. Die Vulva wird zum Fall für die Intimchirurgie, unterspritzt und beschnitten, um einer kulturellen Norm zu entsprechen. Täglich kommen hunderte Frauen und Mädchen in die Praxis von Schönheitschirurgen und wünschen sich Veränderungen ihrer empfundenen Defizite. Viele dieser Frauen kennen die Details ihrer Anatomie nicht und sie wissen nicht, welcher Teil ihres Geschlechts wofür zuständig ist. Auch wenn wir diesen Trend nicht stoppen können, können wir als die Berufsgruppe mit einer sehr besonderen intimen Beziehung zur Vulva dazu beitragen, dass Frauen ihre Vulva in ihrer ureigenen Form anerkennen und würdigen.