Bevor das Wissen verloren geht

  • In meiner Ausbildung, Ende der 1970er, Anfang der 80er Jahre, habe ich mein Wissen über Beckenendlagengeburten (BEL) vor allem durch Unterweisungen am geburtshilflichen Phantom und aus Lehrbüchern bezogen. Bei einer realen Geburt aus Steißlage war ich als Hebammenschülerin selten dabei, und wenn nur als Zuschauerin von Ferne. Bereits damals wurde eine großzügige Kaiserschnittindikation bei BEL als „modernes" Vorgehen propagiert, insbesondere bei Erstgebärenden – so auch in der Uniklinik meiner Hebammenschule, obwohl sie ansonsten keineswegs „fortschrittlich" eingestellt war.

    Vielleicht durch den Mangel in meiner Ausbildung habe ich mich seitdem besonders für die Geburtshilfe bei BEL interessiert und mich bemüht, von erfahrenen GeburtshelferInnen zu lernen, ohne sie je selbst praktiziert zu haben. Die erste, die mir bereitwillig ihr Wissen durch ihre schillernden Beschreibungen weitergab, war Hedwig Strauch. Die über 60-Jährige war eine meiner Vorgängerinnen als Hausgeburtshebamme in Hannover und hatte die BEL-Geburtshilfe noch in ihrer Heimat in Ostpreußen gelernt. Zwar verstand sie diese Besonderheit als Herausforderung geburtshilflich-handwerklichen Geschicks und Könnens, nicht aber als Pathologie der Geburt. Komplikationen habe sie bei BEL-Geburten nur einmal erlebt, erzählte sie mir – und zwar in der Klinik: Auf Druck des Gesundheitsamtes wegen ihrer regelmäßigen Hausgeburtshilfe bei BEL war sie mit einer Fünftgebärenden ins Krankenhaus gefahren. Sie erinnerte sich, wie dort ein unerfahrener, nervöser Arzt am Kind gezogen habe. Und wie es ihm anschließend nicht geglückt sei, die hochgeschlagenen Arme zu lösen. Sie war dabei und konnte für das Kind nichts tun. Noch im Alter hat sie sich verantwortlich gefühlt, dass ein gesundes Kind auf diese Weise gestorben war.

    Meine Sorge um den Verlust geburtshilflicher Kunst entwickelte ich, lange bevor die kanadische Hannah-Studie im Jahr 2000 zu fragwürdigem Ruhm kam. Sie wird von den meisten als die entscheidende Zäsur beim Rückgang der vaginalen BEL-Geburt wahrgenommen. Doch schon zu Beginn meiner Berufstätigkeit in den 80er Jahren waren es vor allem einzelne ältere, erfahrene GeburtshelferInnen, die die manuelle BEL-Geburtshilfe noch sicher und selbstbewusst beherrschten. Die Stafette dieses Könnens wurde unzureichend weitergereicht, nur wenige ambitionierte NachfolgerInnen nahmen sie entgegen.

    Erst heute erlebe ich, dass anscheinend an der vaginalen Beckenendlagengeburt und auch an der äußeren Wendung wieder ein breiteres ernsthaftes Interesse aufgekommen ist. Das zeigt sich etwa in aktuellen Kongress- und Fortbildungsprogrammen. Um das alte, selbstverständlich gelebte Wissen neu zu verwurzeln, könnte es fast zu spät sein. Allen, die dazu beitragen, gilt meine Hochachtung – wenn sie, sprichwörtlich „fünf vor zwölf", die geburtshilfliche Kunst weiterhin für die Praxis sichern können.