Das Einzigartige würdigen

  • Gebären und Geborenwerden ist in unserer Kultur von vielen Regelungen umgeben. Aus medizinethnologischer Sicht haben diese die Funktion, die mit dem Übergang verbundenen Ängste und Gefahren zu kontrollieren. Gesetze und Gerichtsurteile regeln die Aufgaben und Arbeitsteilung der begleitenden Berufsgruppen. Die Angst vor Klagen und Regressforderungen beeinflusst heute maßgeblich die Entscheidungen der AkteurInnen ebenso wie die Angst vor Fehlern, die in der Geburtshilfe dramatische Folgen haben können. Existenzielle Ängste haben die Begleitenden in Notfallsituationen, wenn das Leben der Mutter oder des Kindes auf dem Spiel steht. Hier ist schnelles und präzises Handeln nötig. Hilfreich, wenn es dann Vorgaben für klare Abläufe gibt.

    Medizinische Leitlinien sind Entscheidungshilfen für spezifische Situationen, die auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren beruhen. Gut, dass Hebammen sich auch hier verstärkt und kritisch zu Wort melden, wenn es darum geht, mitzusprechen und die Weichen für geburtshilfliches Handeln zu stellen. Leitlinien können hilfreich sein, weil sie Orientierung geben und wir so nicht in jeder Situation alles wieder neu erfinden müssen. Sie können aber auch das Handlungsfeld begrenzen, wenn sie starr und routinemäßig angelegt werden.

    Jenseits aller Regelungen, Normen und Orientierungshilfen ist das Gebären ein zutiefst individuelles, intimes und jeweils einzigartiges komplexes Geschehen. Jede Frau und jedes Kind sind einzigartig und ob eine Geburt gut verlaufen wird – nicht nur im Sinne eines guten „Outcomes", sondern als positive Erfahrung in der Seele und im Körpergedächtnis bewahrt – das ist wesentlich von der Art der Begleitung abhängig. Werden wir der Einzigartigkeit der uns anvertrauten Menschen gerecht? Das ist eine der zentralen Herausforderungen für alle, die das Gebären begleiten, egal an welchem Ort. Das bedeutet auch, Leitlinien und Regelungen an diesen Menschen anzupassen – das Allgemeine mit dem Einzigartigen verbinden. Dies hat nicht nur mit der Zeit zu tun, die uns Verfügung steht, sondern mit unserem Menschenbild und einer inneren Haltung, die sich auch in ganz kleinen Gesten ausdrückt.

    Die Zeiten sind heftig für das Gebären. Gerade deshalb sind Konkurrenzen zwischen den Hebammen in den Kliniken und denen, die Hausgeburten begleiten, völlig fehl am Platze. Das Gebären zu würdigen und damit Frauen und Familien und letztlich unsere Gesellschaft zu stärken, ist unsere vorrangige Aufgabe. Sie kann eine große Erfüllung sein – an jedem Ort.