Der Stigmatisierung entgegenwirken

  • Dr. Angelica Ensel, Hebamme und Ethnologin: »Adipositas fordert uns heraus – jenseits aller medizinischen Aspekte geht es zunächst einmal um die Reflexion der eigenen Haltung, Vorurteile, Projektionen und der inneren Bilder.«

  • »Dick – doof – Diabetes« – diese Trias gehöre zusammen, lernten wir als Hebammenschülerinnen von einem Oberarzt. Bei der Sectio im OP wurde nach allen Regeln der Kunst über die narkotisierten dicken Frauen gelästert. Einmal antwortete eine Frau mit einer sehr klugen Bemerkung, mit der sie den Lästernden vorführte. Sie hatte noch nicht geschlafen.

    Wer adipös ist, hat keine Ahnung von gesunder Ernährung, ist verantwortungslos, lässt sich gehen und ist vor allem selbst schuld. Jeder, der dünner ist, darf sich darüber stellen. Mit großer Selbstverständlichkeit werden Menschen mit Adipositas als Projektionsfläche genutzt. Sie erleben Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung. Sie können uns viel darüber erzählen, wie Diskriminierung und Labeling funktioniert. Das trifft erst recht für adipöse Schwangere zu. Wenn Adipositas mit mangelnder Kontrolle und viel zu wenig Selbstverantwortung assoziiert wird, dann muss die adipöse Schwangere erst recht kontrolliert, das wachsende Kind vor der Mutter geschützt werden. Wer wissen will, wie es adipösen Schwangeren geht, braucht nur die Internetforen anzuschauen, in denen die Frauen über ihre Gefühle und Erfahrungen berichten. Die Stigmatisierung durchzieht auch die medizinische Fachliteratur und prägt das Bild der adipösen schwangeren Patientin.

    Adipositas fordert uns heraus – jenseits aller medizinischen Aspekte geht es zunächst einmal um die Reflexion der eigenen Haltung, Vorurteile, Projektionen und der inneren Bilder. Zudem braucht das Phänomen Adipositas ein tieferes Verständnis. Nicht die Fehlernährung ist das Hauptproblem, sondern ihre psychosozialen Ursachen wie frühkindliche Prägungen, Traumatisierung, Isolation, Armut, Stress und Überforderung. Am allermeisten wird Adipositas durch Stress gefördert.

    Nur eine Annäherung, die die psychosoziale Dimension und ihre zentrale Bedeutung mit einbezieht, wird dem Thema und den Menschen gerecht. Wer das versteht, weiß auch, was Schwangere mit Adipositas brauchen: Vor allem genau dasselbe wie alle anderen Frauen: Ermutigung und Bestärkung und eine respektvolle Haltung. Sie benötigen weniger Ernährungs- und Verhaltensratschläge als das Gefühl des Angenommenseins. Sie brauchen geschützte Räume, in denen über Ängste, Schuld und Scham gesprochen werden kann. Wie allen Schwangeren hilft ihnen ein positives Gefühl zum eigenen Körper und das Vertrauen in ihre Kompetenz, ein Kind zu gebären. Wie alle Frauen brauchen sie das, was der beeindruckende australische Film »Embrace« vermittelt: den eigenen Körper anzunehmen als Schlüssel für ein erfülltes Leben. Auf dieser Basis kann es dann um alles Weitere und um das »Medizinische« gehen.