Die Stafette ergreifen

  • Katja Baumgarten (rechts) mit der 82-jährigen Therese Schlundt, die in Köln fast 4.000 Kindern bei der Geburt geholfen hat

  • Stellen Sie sich nicht so an – als Sie das Kind „gemacht" haben, haben Sie auch nicht geschrieen! Worte wie diese haben schon meine Großmutter verletzt. Noch 96-jährig, auf dem Sterbebett, hat sie an ihre erste Geburt gedacht. Der zynische Klassiker sei längst ausgestorben, hatte ich angenommen. Aber Kolleginnen und Mütter berichten mir manchmal, dass er noch im Umlauf ist – vor wenigen Tagen wieder. Was treibt Hebammen zur Grausamkeit? – in dem Moment, wo Potenz und Schutzbedürftigkeit der gebärenden Frau zusammenfallen. Ich stelle mir vor, dass Hebammen, die in ihrem Beruf verwurzelt sind, in ihrer Kunst, die Geburt zu einem glücklichen Ausgang zu geleiten, derartige Gewalttat mit Worten nicht übers Herz bringen.

    Ob sich die Kolleginnen vor 50 Jahren Gedanken über ursprüngliche Hebammentätigkeit gemacht haben? Frau Strauch und Frau Schulze, die in Hannover die Hausgeburtshilfe durch die „Durststrecke" von den 60ern in die 80er Jahre getragen haben – und deren Nachfolgerin ich 1983 wurde – arbeiteten ohne Akupunktur, Homöopathie, Watsu oder Haptonomie. Kein CTG hatten sie dabei und Frau Strauch bekam Ärger, weil sie dem Segen des Ultraschalls misstraute. Nicht alles konnte ich von meinen erfahrenen Kolleginnen lernen: Dass die freie Wahl der Gebärposition ein Recht der Frau ist, begriff ich in meiner Zeit am Kreiskrankenhaus Dachau, wo 1980 geburtshilflich neue Wege eingeschlagen wurden. Die Gedanken von Leboyer mögen Frau Strauch übertrieben angemutet haben, die sozial schwache Familien betreute, bevor die Hausgeburt wieder gesellschaftsfähig wurde. Sie empfahl mir ihr „Geheimrezept": Dolantin-Monzal. Ich habe es niemals angewandt. Auch den telefonischen Rat einer anderen älteren Kollegin, bei der Wehenschwäche meiner ersten Hausgeburt „eine Einheit" zu spritzen, habe ich in meiner Not nur dieses eine Mal gewagt. Vor allem ihr Zutrauen, dass ich die schwierige Geburt meistern würde, ohne dass sie sich auf den Weg machen müsste, hat dabei Wirkung entfaltet. War es ein Rest von Aberglaube, der Rat von Frau Schulze, in der Schwangerschaft nicht die Hände über den Kopf zu heben, wegen möglicher Nabelschnurkomplikationen? Das damit verbundene Verbot, Wäsche aufzuhängen, mag eine Art Mutterschutz gewesen sein. Sie wollte mir beibringen, wie sie mit dem Hörrohr Junge und Mädchen am Herzschlag unterscheiden konnte. Es blieb mir bis heute ein übersinnliches Rätsel. Oder hatte sie einen besonders feinen Sinn für den Herzton – der kein artifizielles Dopton-Geräusch war? Bei allen Geburten, die ich mit ihr erlebte, hatte sie Recht. Ich habe die „Stafette" von den betagten Kolleginnen übernommen. Manche hatten mehrere Tausend Geburten betreut, ohne ein Kind zu „verlieren" – in Zeiten ohne Handy und Babynotarztwagen. Als Persönlichkeiten verkörperten sie die gelebte Erfahrung: Dass Frauen ihr Kind aus eigener Kraft gebären können und wir Hebammen das Handwerkszeug beherrschen müssen, ihnen dabei sicheren Schutz zu geben.