Familienerbe und Empfindungsschatz

  • Mit Familiengeschichten von Krieg, Not und Flucht bin ich aufgewachsen. Von Kindheit an und bis ich selbst längst Mutter war, hörte ich gebannt und betroffen immer mehr Details „von früher“. Meine Großmutter hatte einen unverwüstlichen Humor, der den Abgrund kennt. Sie verstand es bis ins hohe Alter, von den verzweifelten Nöten ihres arbeitsreichen Frauenlebens in einer Mischung mit erlösenden, glücklichen Momenten auf besonders eindringliche und temperamentvolle Weise zu erzählen: Die Dramatik der Bilder, ihrer Gefühle und Empfindungen aus jener Zeit standen mir lebendig vor Augen, sanken in mich ein und wurden Teil meines eigenen Empfindungsschatzes. Jahrgang 1896, hatte sie von zwei Weltkriegen in Dresden zu erzählen: von den vielen Verlusten in ihrer großen Familie und auch von den Herausforderungen derer, die überlebt hatten. Ich erfuhr von ihrer Angst, nicht nur um sich selbst, sondern um ihre Töchter. Vor allem um ihre Älteste, als die gegnerischen Soldaten ankamen. Wie sie dann die 18-Jährige mit geöffneten Pulsadern fand und in letzter Minute noch retten konnte. Ihre Schwester verlor meine Großmutter in diesen Tagen, die sich nach einem Vergewaltigungsversuch durch Soldaten das Leben nahm.

    Die Erzählungen meiner Großmutter waren es, von denen ich eine Ahnung bekam, wie Krieg und Gewalt sich in einem Frauenleben anfühlen und über die Jahrzehnte in Erinnerung bleiben. Auch die Solidarität, die Hilfsbereitschaft, die meine Großmutter später als Flüchtling erfahren hatte und bis zum Lebensende nicht vergessen hat, ebenso wenig wie die schroffen Demütigungen in dieser Zeit. Es sind nicht „die Anderen“, denen Hebammen jetzt in den geflüchteten Schwangeren und Müttern begegnen. In unserem Land gibt es einen eigenen Erfahrungsschatz für begangene wie erfahrene Traumatisierung, für Vertreibung und Verlust der Heimat. Geschichten wie die meiner Großmutter stecken hierzulande millionenfach im Familienerbe – Lebenserfahrungen, die bewusst und unbewusst ihre eigene Wirksamkeit in den nächsten Generationen entfalten.

    Wie schnell und beherzt sich in den vergangenen Monaten ein Netz von spontaner, ehrenamtlicher Unterstützung durch Hebammen, ÄrztInnen und andere Gesundheitsfachkräfte entwickelt hat, angesichts der überforderten, schwerfälligen Behörden, mag auch mit diesem kollektiven Erbe zusammenhängen. Es hat in uns eine Empfänglichkeit für die Signale der Not gebahnt. Hut ab, vor den Kolleginnen, die in allen Teilen Deutschlands seit Monaten ihr Bestes geben! Ihnen und den Hebammenverbänden ist zu wünschen, dass ihre Energie und Zähigkeit ausreichen, um auch die öffentlichen Ressourcen noch mehr zu aktivieren. An vielen Orten werden die notwendigen Gesundheitsleistungen für die geflüchteten, zum Teil schwerst traumatisierten Frauen bislang nicht ausreichend finanziert. Professionelle Frauenarbeit für Frauen darf auch dort nicht hintenan stehen. Die geflüchteten Mütter haben ein Recht auf Hebammenhilfe.