Gefühle, die am Selbstwert nagen

  • Alessandra M. Scheede, Hebamme und Redakteurin der DHZ: »Es lohnt sich, solidarisch dafür zu kämpfen, die Sicht auf schambesetzte Themen zu verändern und für sich selbst einzustehen.«

  • Jede Person kennt es, sich schuldig zu fühlen. Doch fühlen wir uns nur schuldig oder sind wir es tatsächlich? Auch Scham hat alle Menschen in ihrem Leben schon einmal heimgesucht. Wofür genau schämen wir uns eigentlich?

    Schuld und Scham sind tief greifende Gefühle und können starke Folgen hinterlassen für diejenigen, die sie erleben. Beide beeinflussen das Selbstbewusstsein, bringen das Selbstbild ins Wanken, verunsichern und verändern möglicherweise unser Handeln.

    Schämt sich eine Mutter dafür, ihr Kind in der Öffentlichkeit zu stillen, tut sie dies aufgrund sozialer Erwartungen und negativer Resonanzen. Sie fühlt sich unwohl, wird vielleicht angestarrt und merkt, dass sie etwas »nicht richtig« macht – sie schämt sich. Auch wenn Scham positive Effekte haben kann, weil es uns beispielsweise »als kritisches Selbstgefühl davor bewahrt, Opfer der anderen zu sein«, wie Prof. Dr. Daniel Hell in seinem Beitrag beschreibt, sollten wir einen Blick darauf werfen, wofür wir uns wann schämen und kritisch hinterfragen, an welche soziale Norm dies gebunden ist. Dass es nicht leicht ist, sich in Situationen, die von der Norm abweichen, ganz einfach nicht zu schämen, ist klar. Doch sicher lohnt es sich, solidarisch dafür zu kämpfen, die Sicht auf schambesetzte Themen zu verändern und für sich einzustehen.

    Auch das Gefühl der Schuld wiegt schwer. Ist es erstmal im Kopf, lässt es uns nicht mehr los. Es fragt: Warum habe ich nicht anders entschieden? Warum nicht anders gehandelt? Warum nichts gesagt? Gerade in der vulnerablen Zeit von Schwangerschaft und Geburt – und als Frau, der aus so gut wie allen körperlichen Themen und jedem nonkonformistischem Verhalten ein Strick gedreht werden kann, ist es schwer, »alles richtig« zu machen.

    Hebammen sind nah bei den Frauen und Ansprechpartner:innen für deren Ängste und Sorgen. Sie hören zu, fangen auf und rücken Anspruch und Realität zurecht. Auch Väter und Partner:innen müssen aufgefangen werden – denn auch sie machen existenzielle Veränderungen durch und zweifeln an sich, ihren Gefühlen, Entscheidungen und elterlichen Kompetenzen.

    Nicht nur Eltern finden sich in Grenzsituationen wieder – auch Hebammen und Studierende erleben in ihrem Berufsalltag Situationen, in denen sie hilflos und machtlos sind. Sie werden Zeug:innen von Gewalt im Kreißsaal und Opfer von Denunziationen im Team. Gerade als letztes Glied in der Kette, als Studierende im Kreißsaal, sind sie belastenden Umständen ausgesetzt. Es ist an der Zeit, die Augen vor diesen Problemen nicht länger zu verschließen, Lösungen für die gewaltvollen Strukturen zu erarbeiten und zu erkämpfen.