In Bewegung bleiben

  • Dr. Angelica Ensel: „Grundlegende Veränderungen können sich nur ereignen, wenn Frauen und Hebammen sich gemeinsam engagieren “

  • Sehr genau erinnere ich mich an die erste Frau, die den Wehentropf verweigerte. Wir Hebammenschülerinnen bewunderten sie ehrfürchtig, denn ihr Widerstand sprach uns aus der Seele. Damals, Ende der 1970er Jahre, war die programmierte Geburt auf dem Höhepunkt. Fast jede Frau, die nicht mit Presswehen kam, erhielt in unserer Klinik das gesamte Programm: Rasur, Einlauf, Kliniknachthemd, Wehentropf, Amniotomie, PDA und schließlich einen Dammschnitt, wenn sie Erstgebärende war. Auch Durchtrittsnarkosen wurden manchmal durchgeführt. Frauen wurden um ihr Geburtserlebnis betrogen und Rooming-in gab es höchstens für privat Versicherte. Meine Ausbildung spielte sich in einer Zeit des Umbruchs ab. Entscheidende Bewegungen kamen damals von unten und von außen. Engagierte Frauen haben sich zusammengeschlossen und für ihre Ideen einer selbstbestimmten Geburt gekämpft. Später haben sie Verbände gegründet, Fortbildungen und Ausbildungsgänge eingerichtet. Von den Hebammen wurden diese Bewegungen teils zustimmend, teils aber auch mit Misstrauen und Angst vor Konkurrenz wahrgenommen. Stellten die Frauen mit ihren neuen Ideen und ihrer Wiederaneignung nicht auch die eigene Professionalität in Frage?

    Frauen und Eltern haben uns bewegt! Ohne ihren Widerstand, ihren Aufbruch würde es uns vielleicht heute nicht mehr geben. Viele Hebammen und ÄrztInnen haben sich damals begeistern lassen und angefangen, mit den Eltern gemeinsam neue Wege zu gehen. Heute – 30 Jahre später – sind Frauen heftig umworbene Kundinnen der Kliniken, die scheinbar alle Umstände der Geburt frei wählen können – nur die spontane Geburt wird immer seltener. Das stellt uns erneut vor die Frage der Beziehung zwischen Frauen und Hebammen. Dieses Heft ist dem Potenzial von Frauen und Eltern gewidmet. Stellvertretend für viele wichtige Bewegungen dieser Zeit schreiben Frauen von der Gesellschaft für Geburtsvorbereitung (GfG) und der Beratungsstelle für Natürliche Geburt und Eltern-Sein in München von ihrem Weg. Wir stellen Beispiele guter Praxis vor, wie das Nachgeburtsgespräch im Geburtshaus Hamburg oder die Partnerschaft zwischen Frau und Hebamme in Neuseeland. Wir berichten über Modelle der Partizipation wie das Beispiel AIMS, wo Frauen und Hebammen mit großem Engagement an einer demokratischen Verteilung des Wissens arbeiten. Über die Strukturen und die gesetzlichen Grundlagen der Mitbestimmung in unserem Gesundheitssystem berichtet Diplomkulturwissenschaftlerin Bettina Berger. Deutlich wird dabei auch, dass wir diese Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft haben.

    Wir blicken zurück, um nach vorn zu schauen. Diese Perspektive zeigt: Grundlegende Veränderungen können sich nur ereignen, wenn Frauen und Hebammen sich gemeinsam engagieren. Ich meine, der Dialog darüber ist noch viel zu kurz gekommen und es wird Zeit, hier neue Kulturen zu entwickeln. In diesem Sinne freue ich mich auf Ihre kritischen Beiträge, Anregungen und Ideen!