Jenseits der „kritischen Distanz“

  • Von der Leiterin einer Moskauer Dokumentarfilmschule hörte ich kürzlich, wie sie zu Beginn ihrer Laufbahn von einem Biologen mit seiner Kobra vertraut gemacht worden war – er wollte die Giftschlange von ihrem Ruf rehabilitieren, höchst gefährlich zu sein. Als sie sich der Schlange unter seiner Anleitung näherte, schnellte diese plötzlich hoch mit eindrücklichen Drohgebärden. Wenn sie nun wieder einen Schritt zurückgehe, dann sei dies der ungefährliche Abstand. Schlangen seien harmlos und berechenbar, wenn man ihre Signale lesen und verstehen könne und die notwendige „kritische Distanz“ respektiere, wie der Fachbegriff der biologischen Verhaltensforschung lautet. Die Begegnung mit der Schlange sei ein Schlüsselerlebnis gewesen: In diesem Moment sei ihr klar geworden, dass Dokumentarfilme, bei denen man wirklich etwas über Menschen erfährt, genau vom Innenbereich dieses Rings handeln, der unsichtbar um ein Individuum liege. Sofern man in diese Zone eingeladen wird – ein Geschenk, das nur dem gewährt wird, der die feinsten Signalen kennt und Vertrauen gewinnt.

    Genau in diesem Nahbereich arbeiten GeburtshelferInnen. Warum haben schwangere Frauen heutzutage so wenig von einer Kobra, um sich und ihr Kind im innersten Kreis zu schützen, wo sie ihr Gespür für sich selbst achten und sich öffnen können für die Geburt? Grenzüberschreitungen gehören zum geburtshilflichen Alltag, manchmal traumatisch für die Frau – häufig nicht einmal mutwillig verursacht: Sie sind oft komplexen, alltäglichen Abläufen der Praxis- oder Klinikroutine geschuldet, die sich an anderen Prioritäten orientieren als an den alten Erkenntnissen aus der biologischen Verhaltensforschung.

    Die Masterarbeiten von Sigrid Kopp, Elisabeth Rakos und Josy Kühberger, die die Autorinnen in unserem Schwerpunktthema vorstellen, handeln genau von diesem Kreis und seinem Innenraum: Elisabeth Rakos untersucht die Grenzüberschreitung durch die vaginale Untersuchung. Sigrid Kopp beschreibt das „Begreifen“ bei der haptischen abdominalen Untersuchung in direktem Kontakt mit der Frau als unmittelbare sinnliche, neuronale Erfahrung der Hebamme bei ihrer geburtshilflichen Diagnose. Josy Kühberger forscht über die intime Zwiesprache zwischen Mutter und Kind. Als ich ihre Texte zum ersten Mal las, spürte ich – neben der fachlichen Auseinandersetzung als Redakteurin – auch eine für diesen Teil meiner Arbeit unübliche gefühlsmäßige Ergriffenheit: Es war wie ein Aufatmen darüber, dass Hebammen sich nun im Rahmen ihrer Akademisierung mit systematischen Studien auch diesem feinsinnigen Bereich widmen, wo es gilt, altes, vielleicht oft unbewusstes Wissen und Handwerkszeug von Hebammen für den heutigen fachlichen Austausch zu formulieren, zu verfeinern und zu sichern. Ein Wissen aus dem Innenraum jenseits der „kritischen Distanz“, das früheren „Weisen Frauen“ vermutlich geläufig war, das wir heute in der Geburtshilfe und der Geburtsmedizin als Schlüssel zum Verstehen von Geburtsabläufen dingend weiter entwickeln und zur Verfügung stellen müssen.