Mehr als die Summe...

  • Längst ist es überfällig, dass jede Hebamme in ihrer Ausbildung lernt, sich die Originalquellen wissenschaftlicher Forschung selbstständig zu erschließen – unabhängig von der langsam fortschreitenden Akademisierung. Warum gehört dieses Handwerkszeug nicht seit Jahren zum Pflichtprogramm aller Hebammenschulen? Auch dass Hebammen selbst ihren fachlichen Fragen mit wissenschaftichen Methoden auf den Grund gehen können, dass sie in ihrer Fachgesellschaft Leitlinien erstellen und im interdisziplinären Austausch auf Augenhöhe mitwirken, ist längst an der Zeit und wird zunehmend Realität.

    Es wird eine Herausforderung bleiben, bei aller wissenschaftlichen Präzision im Blick auf das definierte Detail, nicht das große Ganze aus dem Auge zu verlieren – den Bogen vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende der Stillzeit – oder mehr noch die gesamte fruchtbare Phase in der Lebensgeschichte einer Frau zu sehen. Häufig sind es die komplex verwobenen Verbindungen, die die Wirklichkeit ausmachen. Der Blick auf etwas scheinbar Nebensächliches erschließt einem zuweilen eine zentrale Frage. Oder ein Geistesblitz, am gediegenen wissenschaftlichen Erkenntnisweg vorbei, bringt die Lösung für einen speziellen Fall. „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile", wusste schon der griechische Forscher und Philosoph Aristoteles (384–322 v.Chr.), der als Begründer der abendländischen Wissenschaft gilt.

    Erfahrene Hebammen, insbesondere diejenigen, die Frauen in ihrem häuslichen Familienzusammenhang betreuen, haben eine spezielle berufliche Kultur, eine enorme Fülle von Informationen – die meisten nonverbal – zu registrieren. Sie wäre schwerlich in Forschungsvorhaben systematisiert abzubilden und wissenschaftlich zu verarbeiten. Unser geschultes Wahrnehmungssystem ist in der Lage, Zusammenhänge auch querdenkend zu erfassen, zuzuordnen und herauszuarbeiten. Das Erforschen mit wissenschaftlichen Methoden beschränkt sich demgegenüber in der Regel auf einzelne Aspekte.

    Wenn der neu entwickelte Expertinnenstandard „Förderung der physiologischen Geburt", der Ende Mai an der Hochschule Osnabrück mit 250 Hebammen zum Konsens erklärt wurde, aus pragmatischen Gründen – um eher zu einem „Teilziel" zu gelangen – bei der „physiologischen Geburt" die Nachgeburtsperiode und auch Schwangerschaft, Wochenbett und Stillzeit außen vor lässt, muss man das unter dem Zeichen des „Aufbruchs" bewerten. Ein kühnes Vorhaben ist es dennoch, bei dem nicht jeder Hebamme wohl sein wird. Man wünscht dem Projekt künftig viel Rückenwind und lebendige Entwicklungsfähigkeit. Und um noch einmal Aristoteles zu zitieren: „Es zeichnet einen gebildeten Geist aus, sich mit jenem Grad an Genauigkeit zufrieden zu geben, den die Natur der Dinge zulässt, und nicht dort Exaktheit zu suchen, wo nur Annäherung möglich ist."