Mehr als eine Lücke

Aus einer weit gesteckten Perspektive, beispielsweise im Hinblick auf das unvorstellbare Alter der Erde oder unseres Sonnensystems, ist menschliches Dasein knapp bemessen: Wie verschwindend kurz ist das Leben eines 100-jährigen Menschen dagegen? Die Lebensspanne eines kleinen Kindes, das nur wenige Wochen oder Monate im Bauch seiner Mutter gelebt hat oder nur eine kurze Zeit nach seiner Geburt, erscheint aus dieser Sichtweise nicht viel geringer. Entscheidend ist, dass dieses Kind existiert hat und wir den Wert seines Daseins anerkennen. Wenn eine Frau ihrer Schwangerschaft gewahr wird, berührt das einschneidend ihre eigene Existenz – selbst wenn sie zunächst noch nicht einmal weiß, ob sie für dieses Kind Mutter sein kann. Sobald sie es angenommen hat, räumt sie ihm in ihrem Lebensplan seinen Platz ein, ebenso erhält es in seiner Familie eigenen Raum. All dieses geschieht meist frühzeitig und schnell. Noch bevor es zu sehen ist, hat das neue Familienmitglied ein unsichtbares Beziehungsnetz gewoben, Veränderungen inspiriert, eine Bilanz der Lebenssituation seiner Mutter, seiner Eltern angestoßen – vielleicht verkörpert es ihre Hoffnungen, vielleicht auch ihre Zweifel für die Zukunft.

Und wenn es nur kurz auf der Welt ist? Es ist bewegend, Mütter zu treffen, die ihr Kind in einer frühen Schwangerschaftswoche verloren haben und noch Jahre später aus tiefstem Herzen darum trauern – zusätzlich bedrückt, weil niemand in ihrer Umgebung diesen Schmerz teilen oder wenigstens nachvollziehen und achten kann. In der Schwangerenbetreuung und bei den Hebammenbesuchen im Wochenbett entwickeln sich oft tiefe Gespräche über diese Kinder, die nur kurz existiert haben. Viele Frauen berichten davon, wie viel Veränderung ihr früh verstorbenes Kind angestoßen oder Entscheidungen „vorgebahnt“ hat – nicht selten sind es mehrere Kinder, die jedes für sich eine besondere Bedeutung in ihrer Biografie haben. Manchmal scheint es, dass die immaterielle, geistige Potenz dieser Kinder im Kreis ihrer Angehörigen, auch wenn ihr Leben noch so kurz war, nicht geringer ist, als das, was Menschen bewirken können, die mitten im Leben stehen.

Eltern, die ihr Kind verlieren, sind in Not – oft im Schock. Die professionell tätigen Menschen, auf die sie in dieser Situation treffen, sollten die seelische, philosophische und spirituelle Dimension erfassen können, von dem was ihnen gerade widerfährt. Über Jahrzehnte war der Umgang mit früh verstorbenen Kindern mehr als barbarisch. Tabus, Unbeholfenheit und die menschliche Grobheit, von denen Frauen manchmal erzählen, können die verletzten Mütter ihr Leben lang nicht vergessen. Heute sind ein würdevoller Abschied und eine angemessene Bestattung ein allgemein übliches Ritual geworden. Wie schöpferisch in der akuten Krise mit dem Tod eines Kindes umgegangen wird, bahnt den Weg für die heilsame Chance, dass es in seiner Familie mehr hinterlassen wird als eine Lücke.